* Rosso:

 

Der viel diskutierte „Linksruck“ in Lateinamerika weist in den einzelnen Ländern (entsprechend den politischen und sozialen Kräfteverhältnissen und der jeweiligen Vorgeschichte) eine sehr unterschiedliche Intensität und große Differenzen in der konkreten Politik auf. Nach wie vor vorhandene rechte bis rechtsradikale Regime (Calderon in Mexiko, Uribe in Kolumbien…) und die noch vorhandenen Kolonien (wie die französische Kolonie Guayana, das von den USA annektierte Puerto Rico oder die Niederländischen Antillen) einmal außen vor gelassen, reicht das Spektrum von der „Sozialistin“ Michelle Bachelet, die in Chile die Schülerbewegung mit Repression überzieht und sich zum neoliberalen Freihandelsabkommen mit den USA bekennt, über den brasilianischen Präsidenten Lula, der von der „Frankfurter Allgemeinen“ (am 30.9.2006) nicht ohne Grund als Sozialpartner und Segen für die Finanzanleger und die Banken gepriesen wird (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Lulista_Emir_Sader.htm) bis zum Enfant Terrible Hugo Chavez, der keine Gelegenheit auslässt, dem US-Imperialismus auf die Füße zu treten und zur „sozialistischen Weltrevolution“ aufzurufen. Trotz aller (nicht gering zu schätzenden) sozialen und politischen Verbesserungen für die Arbeiter und Elendsviertelbewohner bleibt allerdings fraglich, ob Chavez’ Präsidentschaft Venezuela jemals zum Sozialismus führen wird. Die weitgehende Tolerierung mehr oder weniger rechter und korrupter Strukturen und Funktionäre im Staatsapparat und die gleichzeitigen Bestrebungen den neu gegründeten, linken Gewerkschaftsbund UNT unter seine Kontrolle zu bringen, sind dabei mit Sicherheit nicht hilfreich.

 

Umso interessanter ist es, einen Blick auf den Weg und die Erfahrungen der zweiten neuen „linksradikalen“ Regierung in Mittel- und Südamerika zu werfen – das heißt auf das Bolivien von Evo Morales und seiner „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), die in letzter Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto brachte am 30.11.2006 ein langes Interview dazu mit dem bolivianischen Vizepräsidenten Álvaro Garcia Linera.

 

Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 3.Mai 2006 sieht in dem 43jährigen Mathematiker und Soziologen Garcia die „Schlüsselfigur in der Regierung“ und den „denkende(n) Kopf hinter Morales, als der Intellektuelle der Sozialbewegungen in Bolivien, aus denen die Regierungspartei, die ‚Bewegung zum Sozialismus’ (MAS) hervorgegangen ist.“ Diese starken sozialen Bewegungen der letzten Jahre für die Verstaatlichung der Bodenschätze und die Umverteilung ihrer Erträge zugunsten der Armen (d.h. ganz überwiegend der indigenen Bevölkerungsmehrheit), die im März 2005 zum Sturz des damaligen Präsidenten Carlos Mesa führte, sowie die Existenz des MAS und eines starken linken Gewerkschaftsbundes (COB) mit großer Kampferfahrung, sind ohne Frage ein großer Vorteil der bolivianischen Linken.

Álvaro Marcelo Garcia Linera, nach eigenem Bekenntnis zumindest teilweise Anhänger von Antonio Negri, saß von 1992 – 1997 als „Chefideologe“ der indigenen Guerillabewegung Tupac Katari im Knast. Seit 1997 arbeitet er als Dozent, der auch Vorträge an ausländischen Universitäten hielt und sich – wie die „Süddeutsche Zeitung“ feststellt – „in Bolivien einen guten Ruf durch seine politisch-sozialen Analysen“ erwarb. „Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und publizierte mehrere Bücher.“

 

Interview mit dem Stellvertreter von Evo Morales:

 

„Wir werden nicht stehen bleiben!“

 

Es spricht Garcia Linera. Bolivien nach den Erdölverträgen und der Agrarreform. Der Weg ist schwierig, aber die Ergebnisse (auch die „Makroergebnisse“) sind ermutigend.

 

Pablo Stefanoni – La Paz

 

Mit der Unterzeichnung der 44 Verträge zwischen der staatlichen Ölgesellschaft Yacimientos Petroliferos Fiscales Bolivianos (YPFB) und den in Bolivien aktiven transnationalen Konzernen am 28.Oktober, die am Dienstag in einer Nachtsitzung vom Senat gebilligt wurden, ist es gelungen den politischen Absturz der Regierung umzukehren und wieder ein Klima des kollektiven Optimismus zu schaffen. Sie rief einen doppelten Effekt hervor: einen emotionalen (indem sie die nationalistischen Gefühle neu entfachte, die ihren climax in der Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffvorkommen am 1.Mai hatten) und einen pragmatischen in Form der Sicherung von Investitionen und beträchtlichen Staatseinnahmen für die kommenden 30 Jahre. Der Vizepräsident der Republik, Alvaro Garcia Linera, der mich in seiner bescheidenen Wohnung im Stadtteil Sopocachi von La Paz empfängt, sagt, dass es jetzt in Bolivien makro-ökonomische und finanzielle Stabilität gebe, weil die Administration von Evo Morales „das öffentliche Geld nicht zum Fenster hinauswirft, wie es die Neoliberalen getan haben“. Und manchmal wieder in die Kleider des Soziologen schlüpfend, der er von seiner Ausbildung her ist, analysiert er die Situation des Landes fast ein Jahr nach dem Wahlsieg vom Dezember 2005.

 

Die Regierung legt in den Umfragen nun wieder stark zu. Wie kommt diese Flüchtigkeit in der öffentlichen Meinung zustande?

 

„Das Votum für den Movimiento al Socialismo (MAS) ist von zweierlei Art. Eines ist eine solidere Wählerschaft, die uns seit langer Zeit die Treue hält und in anderen politischen Zeiträumen denkt als die Medien. Auf dieser Ebene, die aus Campesinos und unteren städtischen Schichten besteht, gibt es keine Flüchtigkeit. Sie ist medial jedoch weniger sichtbar. Dann gibt es einen Klassenkern bestehend aus Mittel- und aufstrebenden Unterschichten (Händler, Handwerker etc.), der politisch instabiler und sensibler für das politische und mediale Klima ist. Dies ist der Sektor, in dem die Meinungsumfragen gemacht werden. Und hier gab es Variationen nach oben und nach unten.“

 

Jetzt besagen die Umfragen, dass die Unterstützung erneut auf 63% gestiegen ist…

 

„Ja, sie hat ausgehend von 3 oder 4 starken Schachzügen der Regierung wieder zugenommen, die das Gefühl der Unsicherheit und der Instabilität der letzten zwei Monate durchbrochen haben. Dabei handelt es sich um die Unterzeichnung der Erdölverträge, die Unterstützung aus dem Ausland nach dem Abkommen über die Erdgaslieferungen an Argentinien und – auf der sozialen Ebene – den Juancito Pinto’-Bonus gegen das Schulschwänzen, dass eine Art Vergesellschaftung der Einkünfte aus der Verstaatlichung darstellt und jetzt die Agrarreform.“

 

Die aktuellen makroökonomischen Ziffern seien der Neid der Regierungen der 90er Jahre: Prognosen, dass es einen Haushaltsüberschuss geben werde, Währungsreserven und Exporte auf Rekordhöhe. Ist das ein Verdienst Eurer Regierung oder das Resultat eines günstigen internationalen Kontextes?

 

„Der Kontext hat uns ohne Zweifel geholfen. Entscheidend war jedoch eine Gesamtheit von sehr präzisen politischen Entscheidungen. Zum Beispiel die Art dem sozialen Druck zu begegnen. Die Neoliberalen warfen in Wahlkampfzeiten die staatlichen Ressourcen zum Fenster raus. Der ehemalige Präsident Jorge Quiroga kam auf ein <Jahres-Haushalts-> Defizit von 8%. Schlimmer als zu den Zeiten der Hyperinflation. Es gab eine Art Zügellosigkeit. Wir sind diesem Beispiel nicht gefolgt. Wir haben in der Regierung auf Austerity und im öffentlichen Sektor auf moderate Verbesserungen gesetzt. Es gab Lohnerhöhungen von 7% für die Beschäftigten im Bildungs- und Gesundheitswesen und von 3% bei Polizei und Armee. So ist es uns gelungen die Inflation und das Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu halten und wir konnten das Vertrauen des Finanzsystems konsolidieren – trotz des Terrorismus einige konservativer Sektoren. Dann gab es die Erdölstrategie: <Den Versuch> Abkommen mit Argentinien zu erreichen und zu konsolidieren, um den Verhandlungen mit Petrobras und den übrigen Gesellschaften den Weg zu ebnen.“

 

Das Abkommen mit Argentinien hatte also Einfluss auf die Unterzeichnung der neuen Ölverträge?

 

„Einen enormen. Weil es Märkte zu sehr guten Preisen sicherte und – wie Präsident Kirchner signalisierte – die Möglichkeit argentinischer Investitionen im Fall, dass die Unternehmen, die in Bolivien tätig sind, diese Aktivitäten nicht mehr fortsetzen wollen. Es wurde eine politische Entscheidung getroffen. Und das erlaubte es eine Art Syndikatspakt der Ölunternehmen zu durchbrechen, die entschlossen schienen, Verhandlungen zu verweigern, um die bolivianische Regierung dazu zu zwingen die Verhandlungen über die Kontrakte um weitere 90 oder 180 Tage zu verlängern. Mit dieser Politik haben wir einen anderen Mechanismus der Integration eines kleinen Landes wie Bolivien in die globale Welt fixiert: ausländische Investitionen, aber mit Regeln, die durch einen starken Staat festgelegt werden. Das alles hat zu den heutigen makroökonomischen Ziffern beigetragen: Ein Wachstum von über 4%, Umkehrung der Tendenz zum Rückgang der privaten Auslandsinvestitionen, einen Haushaltsüberschuss von 1% bis 2% im kommenden Jahr und einen Rekord bei den Exporten, die mehr als 3,1 Milliarden Dollar betragen.“

 

Glauben Sie, dass es Verschwörungen gegen Eure Regierung gibt?

 

„Es gab ernsthafte Verschwörungsversuche im August und September, wie der Präsident sagte. Es gab Leute, die dachten, dass sie die Fortdauer dieses Prozesses verhindern und dabei von einer Verbindung aus Ängsten und Unzufriedenheit profitieren könnten, die speziell in den Städten vorhanden war. Es gab mit Sicherheit Medien, die zusammen mit bestimmten Kreisen darauf gesetzt haben. Kreise, die Unterstützung bei den militärischen Befehlshabern suchten. Dieses Manöver wurde jedoch rasch denunziert und entschärft.“

 

Welcher ist der wahre Garcia Linera – ein dialogorientierter Politiker oder ein Wolf im Schafspelz, der von Zeit zu Zeit an die Zeiten erinnert als er mit dem Gewehr unter dem Poncho ins Hochgebirge ging?

 

„Man muss die Worte den Zeiten entsprechend interpretieren. Die lautstarken Sätze gab es im Moment der Verschwörungen. Damals war es notwendig ein ganz klares Signal zu geben: Diejenigen, die auf die Destabilisierung setzen wollten, sollten wissen, dass es hart werden würde. Jenseits dieser Umstände ist Alvaro Garcia einer, der sich in zweierlei Hinsicht engagiert: Erstens die Umstellung einer Mentalität und bestimmter Angewohnheiten beim Widerstand der unteren Bevölkerungsteile gegenüber Attitüden staatlichen Handelns zu erleichtern. Zweitens aus dem Staat eine Synthese der Gesellschaft zu machen und nicht mehr den Staat einer Fraktion. Einen Staat, der die Materialisierung gesellschaftlicher Allianzen ist. Ich bin einer, der das staatliche Handeln in einer Verhandlungslogik sieht.“

 

Die soeben beschlossene Agrarreform erhitzt die Gemüter der Unternehmerkreise von Santa Cruz aufs Neue…

 

„Beim Thema Böden verknüpfen sich Interessen von produktiven und legitimen Unternehmergruppen mit denen spekulativer Kreise, die in westlichen Regierungen über Einfluss und über ein großes politisches Gewicht verfügen. Unsere Strategie ist es, das Bündnis mit dem produktiven Sektor zu verstärken und den politisch-spekulativen politisch zu isolieren, insofern sich die Interessen beider vermischen. Klar, dass die Agrarrevolution eine Reihe von Konflikten erzeugt. Wir versuchen sie abzuschwächen, werden aber nicht auf den Kampf gegen die unproduktiven Latifundien <Großgrundbesitze> verzichten.“

 

Im MAS gibt es Kritik an der Tatsache, dass in der Regierung mehr Leute aus der Mittelklasse vertreten sind als indigene…

 

„Das Thema der Indigenisierung der Schaltstellen des Staates ist etwas, das auf Schwierigkeiten trifft, weil die Mehrheit der Indigenas immer aus dem Bereich der beruflichen Bildung ausgeschlossen war oder überhaupt keinen Beruf hatte. Das ist ein Problem, das man nur schrittweise im Rahmen einer Verwaltungsreform lösen kann, die es ermöglicht indigene Kader heranzubilden, die den Weißen / Mestizen

ebenbürtig (in condizioni di parità) sind. In jedem Fall, auch wenn noch viel zu tun ist, sollte man die indigenen Kader dieser Regierung nicht gering schätzen. Darüber hinaus müssen die sozialen und indigenen Bewegungen (die diejenigen des MAS sind) ihre Zustimmung geben, damit Indigene oder Nicht-Indigene ein Ministeramt besetzen können. Das ist etwas Neues. Vorher gaben ihnen die internationalen Organisationen oder die Botschaften Halt. Es muss allen – innerhalb und außerhalb des MAS – klar sein, dass in Bolivien eine demokratische und entkolonialisierende Revolution stattfindet.“

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:   * Rosso

 

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html) werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der Verantwortung des Gewerkschaftsforums.

 

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