Antifa-AG
der Uni Hannover:
Am 1.Oktober 2006 fanden in Brasilien
Präsidentschafts-, Parlaments- und Gouverneurswahlen statt. Dabei hatte der
Amtsinhaber und Kopf der „sozialistischen“ Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula
da Silva noch bei der Stimmabgabe getönt: „Ich
gewinne schon in der ersten Runde.“ Dem war nicht so. Lula
lag zwar mit 48,79 Prozent im ersten Wahlgang klar vorn, der 60jährige frühere
Chef der Metallarbeitergewerkschaft muss allerdings – wider Erwarten – am 29.
Oktober gegen Geraldo Alckmin
von der Partei der Sozialdemokratie Brasiliens (PSDB) in die Stichwahl. Der 53
Jahre alte frühere Gouverneur des Landes und Wirtschaftszentrums Sao Paulo
erhielt laut der Wahlbehörde TSE 41,43 %. Dahinter folgten Heloisa
Helena von der PT-Linksabspaltung Partei für
Sozialismus und Freiheit (PSOL) mit 6,8 % und Christovam
Buarque von der linkspopulistischen Demokratischen
Partei der Arbeit (PDT) mit 2,7 %. Ein deutlicher Dämpfer für den einstigen
Helden der Anti-Globalisierungsbewegung, der Lula und
die PT (mitsamt ihrer „partizipativen Demokratie“
und ihren „systemüberwindenden Sozialreformen“) einst als Vorbild und Modell
dienten und die nicht umsonst in Porto Alegre das
Weltsozialforum ins Leben rief und auch dann noch zum Austragungsort machte als
die PT aufgrund ihrer Politik dort längst abgewählt worden war.
Mit „Sozialismus“ und „Arbeiterklasse“
hat Lulas Politik schon lange nichts mehr zu tun. Die
Elendsviertel sind Elendsviertel geblieben, in denen sich die
Mafia-Organisationen in jüngster Zeit einen regelrechten Krieg gegen die
Ordnungsmacht lieferten, die ihrerseits in ihrem Vorgehen nach wie vor nicht
einmal annähernd den bürgerlich-demokratischen Grundstandards entspricht. Auch
von der versprochenen Landreform ist wenig zu sehen und die Lage der
Arbeiterklasse hat sich ebenfalls kaum verbessert. Stattdessen wird das Land
unter der PT-Regierung durch zahlreiche
Korruptionsaffären erschüttert. Was dazu führte, dass die Bürgerbewegung „Lachen,
um nicht zu weinen“ auf einfallsreiche Art gegen die vielen Affären in der
etablierten Politik protestierte.
Hunderte Menschen kamen in verschiedenen Teilen des Landes ihrer Wahlpflicht
mit roten Clownnasen nach. Dementsprechend stellt die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ (www.faz.net) in einer Glosse ihres
Politikteils am 4.10.2006 mit Blick auf die Wahlen in Mexiko und
Brasilien triumphierend fest: „Beide Entscheidungen
fielen in der politischen und gesellschaftlichen Mitte. Nicht die Apologeten
eines sozialromantisch verklärten Assistenzialismus
trugen den Sieg davon, sondern selbstbewußte Sprecher
einer immer stärker werdenden Mittelschicht.“
Noch
deutlicher wurde die „Frankfurter Allgemeine“ am 30.9.2006
– wie es sich gehört – in der Rubrik „Finanzmärkte und Geldanlage“. Unter der
Überschrift „Brasilien feiert die Versöhnung von Arbeit und Kapital“
jubelt das immer wieder empfehlenswerte Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie
in einem umfangreichen Artikel: „Unter dem ehemaligen Arbeiterführer Lula erlebten die Finanzanleger in Brasilien goldene Jahre
/ Bankaktien bleiben attraktiv“. „Bei seinem Wahlsieg vor vier Jahren
galt Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva noch als Feind des Kapitals. Heute weiß man:
Niemand hat unter Lula so gute Geschäfte gemacht wie
die Finanzinvestoren. Der Bovespa, wichtigster
Aktienindex der Börse von Sáo Paulo, hat sich seit Lulas Wahlsieg im Oktober 2002 mehr als vervierfacht. Von
weniger als 9.000 Punkten stieg der Bovespa nach Lulas Wahl bis auf zuletzt 36.486 Punkte. Gleichzeitig hat
sich der Wert der Landeswährung Real gegenüber dem Dollar fast verdoppelt.
(…) Der vermeintliche Börsenschreck Lula erwies sich als kompromissloser Stabilitätspolitiker.
Mit harten Sparmaßnahmen und einer Politik des knappen Geldes erwarb sich Lula rasch das Vertrauen der Finanzmärkte. Als im Ausland
noch Panik herrschte, gingen Brasiliens Finanzmagnaten schon auf Schmusekurs zu
Lula. Roberto Setúbal, Chef
von Banco Itaú, der zweitgrößten
privaten Bank Brasiliens, zählte 2002 zu den ersten Wirtschaftskapitänen, die
öffentlich ihr Vertrauen in Lula zum Ausdruck
brachten.“
Die
„FAZ“ vermittelt auch einen Einblick wie diese gedeihliche
Zusammenarbeit von Regierungssozialisten, „Antiglobalisierern“
und Kapital im Einzelnen funktionierte: „Die Regierung Lula
hat relativ niedrig verzinste Kredite aus dem Ausland vorzeitig abgelöst und
die wesentlich höher verzinste Inlandsschuld ausgeweitet. Das soll die
Verwundbarkeit gegenüber außenwirtschaftlichen Schocks vermindern, schuf aber
gleichzeitig eine Goldgrube für die lokalen Banken. Mit der Stabilität kam auch
die inländische Kreditvergabe an die Privatwirtschaft in Gang. Allein 2005
stiegen die Gewinne der Banken um 41 Prozent, die Eigenkapitalrendite liegt bei
22 Prozent. Nur in der Schweiz sind die Banken noch profitabler. Mit einem für 2007
geschätzten Kurs-Gewinn-Verhältnis von 9 bis 10 seien die Aktien der großen
Banken Itaú, Bradesco und Unibanco günstig bewertet, meinen die Analysten von JP
Morgan.“
In einem Interview für die Tageszeitung
der auf Lulas Spuren wandelnden neuen Regierungspartei
Rifondazione Comunista
(PRC) – „Liberazione“ vom 3.10.2006
– zieht der linke Philosoph und „kritische“ Lula-Anhänger
Emir Sader eine Bilanz der vierjährigen
Präsidentschaft Lulas und wartet mit einem „Verbesserungsvorschlag“
auf. Leider hält sich seine Kritik dabei sehr in Grenzen. Stattdessen wütet er
zunächst gegen die PT-Linksabspaltung PSOL und schlägt
am Ende faktisch vor den PT in eine Präsidentenpartei zu verwandeln. Damit
liefert er ein sehr anschauliches Beispiel für den inhaltlichen Niedergang des
PT und seines intellektuellen Umfelds. Das trägt ihm skurrilerweise
an einigen Stellen sogar kritische Fragen seiner Interviewerin Angela Nocioni ein, obwohl kein Zweifel daran bestehen sollte,
dass „Liberazione“ bei einer wesentlich radikaleren
Kritik der Lula- und PT-Politik
von einem Interview mit Sicherheit Abstand genommen hätte. Schließlich möchte
die PRC-Führung von der eigenen Zeitung nicht in die
Bredouille gebracht werden.
Trotz der unerfreulichen Beißreflexe
gegen die radikale Linke (die mit 6,8% der Stimmen als „Kleinpartei“
bezeichnet wird, obwohl sich Rifondazione mit seinen
7% bei den letzten Wahlen selbst wohl kaum so nennen würde!) sind Saders Thesen die Lektüre wert und zeigt das Beispiel
Brasilien (zusammen mit den Regierungserfahrungen der
PDS in Berlin, des PCF in Frankreich und nun von Rifondazione,
PdCI und Verdi in Italien) auf welchen Holzweg sich
die soziale und Gewerkschaftsbewegung nicht begeben sollte.
Im Gespräch mit dem Philosophen,
politischen Analysten und kritischen „Lula-Anhänger“
Emir Sader
„Der PT hat seine soziale Basis verloren. Nun muss sie neu
begründet werden. Angefangen bei den Armen“
Rio
de Janeiro – unsere Korrespondentin
Emir Sader
ist Lulista (Lula-Anhänger).
Ein kritischer und skeptischer, aber ein Lulista.
Und dies erklärt viel von seinen beharrlichen Äußerungen über die „unmögliche
politische Operation, die von der PSOL gegen Lula
betrieben wurde“, wie er sie nennt.
Als Philosoph, politischer
Analyst und Dozent an den Universitäten von Rio de Janeiro und Sao Paulo, mit
einer persönlichen Geschichte des Exodusses von einem
Land zum anderen, auf der Flucht vor den lateinamerikanischen Diktaturen der
70er Jahre hat keine Vorurteile gegenüber anderen Meinungen. Er ist kein
Orthodoxer. Und als Heloisa Helena und die anderen
vom linken Flügel des PT, die gegen die Rentenreform der Regierung gestimmt
hatten, aus der Partei ausgeschlossen wurden, hatte er auf seine Weise schwer
daran zu kauen. Nun spricht er sehr schlecht über das „Wahlabenteuer“
des PSOL, der nach jenem Ausschluss gegründet wurde. Und auch wenn er der
Kleinpartei der extremen Linken Lulas mangelnden Sieg
im ersten Wahlgang nicht vorwirft, beschuldigt er sie, einen komplett rechten
Wahlkampf geführt zu haben.
Es werden nicht die
Stimmen für Heloisa Helena gewesen sein, die Lulas Sieg im ersten Wahlgang verhinderten. Diejenigen, die
sie gewählt haben, die den Anti-Lulismo zu
einem Banner gemacht hat, hätten ihn jedenfalls nicht gewählt. Stimmen Sie dem
zu?
„Nicht ganz. Die Erosion der
Stimmen auf der Linken gab es. Das Gravierende ist allerdings, dass Heloisa Helena und der PSOL, um sich in irgendeiner Weise
zu behaupten, einen absolut rechten Wahlkampf gemacht haben. Mit aggressiven,
exzessiven Tönen und den verlogenen Inhalten der Rechten. Die Helena hat sich
gegen Lula ausgetobt. Sie hat gesagt, dass Wichtige
sei, dass Lula nicht gewinne und ihn als ein Monstrum
dargestellt, dass – wenn sie Präsidentin gewesen wäre – in Brasilien weder Bush
noch Chavez herumkommandiert hätten. Auch während der
Polemiken über das Verhalten der Regierung Morales in Bolivien gegenüber der Petrobras nach
dem Dekret zur Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe hat sie denselben Tonfall
angeschlagen wie die Rechte.“
War der Groll der
ausgeschlossenen Dissidenten nicht klar und vorhersehbar? Was werfen Sie der
PSOL konkret vor?
„Keinen besseren Weg
gefunden zu haben als die Fotokopie der Parolen der schlimmsten Rechten zu
werden. Und jenseits des Wahlkampfes den Kampf gegen die Konservativen und die
Finanzmächte vergessen zu haben. Es vorgezogen zu haben, die gesamte verfügbare
Zeit gegen die Linke zu arbeiten. Die Gefahr der Selbstverstümmelung ist auf
der Linken immer dieselbe. Das ist die Zersplitterung.“
Was war bislang Lulas schwerster Fehler?
„Derjenige, den die gesamte
fortschrittliche Bewegung in Lateinamerika zu machen droht: Nicht zu merken,
dass man an die Regierung gekommen ist und unterwegs den Kampf um die Ideen
aufgegeben hat. Der Neoliberalismus hat als ökonomisches Modell und als
Staatsauffassung gesiegt. Seine symbolischen Werte haben auch auf der Linken
gewonnen. Und dann – der zweite ganz gravierende Fehler – die Frage der
Universalisierung der Rechte zu etwas Zweitrangigem gemacht zu haben. Das hat,
glaube ich, mit den Ursprüngen des PT zu tun. Die gesamte brasilianische
Gewerkschaftsbewegung hat sich zum Beispiel nicht mit der Perspektive formiert
das öffentliche Gesundheitswesen zu stärken, sondern für private Gesundheitsprogramme
zu kämpfen. Auch die traditionelle Gewerkschaftsbewegung, die Lula beerben musste, interessiert sich nicht sehr für die
Universalisierung der Rechte.“
Sie standen der Arbeit
des ehemaligen Wirtschaftsministers der Regierung Lula,
des ehemals mächtigen Palocci, immer sehr kritisch
gegenüber. Was hat sich nach seiner Entfernung in der Regierung geändert?
„Das war der einzige
wirkliche Wendepunkt der Präsidentschaft von Lula.
Der soziale Block hat sich verändert. Palocci
repräsentierte die klaren und eindeutigen Interessen der mit dem Finanzsektor
verbundenen Rechten. Lula hätte ihn durch einen
anderen starken Mann ersetzen können, hat jedoch ein Signal gegeben, dass ich
gut fand. Er hat es vorgezogen, auf die Stabilität der Währung und den Kampf gegen
die Inflation zu achten. Vor allem aber hat er verhindert, dass irgendjemand Palocci in der einflussreichen Rolle gegenüber dem
Präsidenten ersetzte. Er hätte eine andere rechte Hand im Superformat wählen
können, bevorzugte jedoch die Teamarbeit.“
Kommen wir zu Lulas viel gepriesenen Sozialprogrammen. Finden Sie nicht,
dass etwas anderes ist, ob man den Armen Macht oder ein Almosen gibt?
„Diese Regierung hat Hilfe
geleistet. Keinen Assistenzialismus. Die Kaufkraft
der unteren Klassen hat sich durch Lulas
Sozialprogramme verdoppelt.“
Was ist das beste
Ergebnis der Regierung Lula?
„Die Außenpolitik. Cardosos
Außenpolitik war subaltern, Lulas ist souverän. Es
gab eine völlige Umkehrung. Großen Mut und große Initiative auf der regionalen
Ebene. Es genügt sich anzuschauen, was bei Morales passiert ist. Die rechte
Opposition und der PSOL haben nach der Verstaatlichung des bolivianischen
Erdgases und den bolivianischen Soldaten, die in die Petrobras-Anlagen
geschickt wurden, einen Höllenlärm gemacht und mit Blick auf die Wahlen den
brasilianischen Nationalismus angefacht. Es war das erste Mal, dass sich Lula in einer harten Auseinandersetzung von der Rechten
nicht ins Handwerk pfuschen ließ. Er hat dem entschlossen widerstanden. Er hat
gesagt und es wiederholt: Ich verhalte mich Bush gegenüber nicht wie ein Feind
und Morales gegenüber schon gar nicht.“
Was glauben Sie, wie kann
der PT aus dem Korruptionsskandal herauskommen?
„Damit wir uns richtig
verstehen: Keiner im PT hat für sich selbst etwas geraubt. Niemand hat sich
bereichert. Es ist der Opposition gelungen den Eindruck des ‚mensalao’ (Stimmenkaufs) zu verbreiten – als eine
monatliche Zahlung an Abgeordnete kleinerer Parteien, um sich ihre
Unterstützung zu sichern. Aber so war es nicht. In jedem Fall ist der PT
verfault und muss neu aufgebaut werden. Ich stimme dem Minister Tarso Genro zu, der die
Neugründung des PT / seine Wiedergeburt vorgeschlagen hat. Das ist der einzige
Weg. Der PT muss neu gegründet werden.“
Wie gründet man eine
Partei neu, in der seit vielen Jahren alte Gewerkschafter, ehemalige
Guerilleros, katholische Befreiungstheologen und einige reine Marxisten mit
denselben Apparatmodalitäten zusammenleben?
„Indem man seine soziale
Basis erneuert. Der Lulismus in Brasilen besitzt
einen Einfluss in den unteren Klassen, den der PT nicht mehr hat. Von da ausgehend
muss man neu beginnen.“
Angela Nocioni
Vorbemerkung, Übersetzung und
Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG
der Uni Hannover