Schweiz:
Die Sozialpartnerschaft gerät ins
Wanken
Anti-WEF-Widerstand,
Streiks und die Linke
Informations- und Diskussionsveranstaltung
mit Vertreter/inne/n der außerparlamentarischen Linken aus Winterthur
Freitag, 24.3.2006,
19:30 Uhr, UJZ Kornstraße
Mit dem sozialen Frieden und
der bürgerlichen Beschaulichkeit ist es vorbei. Getreu dem Motto „Alles
Stehende verdampft!“ hat der Neoliberalismus auch die Schweiz erreicht
und bringt das bis dato unantastbar scheinende sozialpartnerschaftliche Modell
ins Wanken. Für die Lohnabhängigen in der reichen Schweiz sind prekäre
Beschäftigung, sinkender Lebensstandard und immer neue Angriffe auf die
sozialen Sicherungssysteme trotz explodierender Unternehmensgewinne längst
keine Fremd-worte mehr. Das Resultat sind Streiks in ungeahntem Ausmaß, eine
Renaissance der Gewerkschaften und Aufwind für die außerparlamentarische Linke,
aber auch das Anwachsen der rechtspopulistischen SVP zur stärksten Partei,
zunehmende Übergriffe von Neonazis und ein immer rabiateres und „präventiveres“
Vorgehen der Polizei gegen Streikende, Linke und „Randständige“.
Lange hatte es den Anschein,
dass es in der Schweiz nur beim jährlichen Weltwirt-schaftsforum (WEF)
in Davos und am 1.Mai in Zürich linken Protest und Wider-stand gäbe und
Streiks ein Fremdwort seien. Seit 2002 / 2003 hat sich daran einiges geändert.
Im Zuge der Vorbereitungen für den Irak-Krieg entstand eine breite
Anti-Kriegs-Bewegung, die alle überraschte. Den Boden dafür bereitet hatten
auch die Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos. Seit 1998 fanden
immer größere Demonstrationen gegen das WEF statt. Die Schweiz zählt zu den
Geburtsstätten der Antiglobalisierungsbewegung, die als
Gegenveranstaltung zum WEF das Welt-sozialforum in Porto Alegre ins Leben rief.
In diesem Jahr demonstrierten rund 2.500 Menschen in Basel gegen das
neoliberale Stelldichein im mondänen Wintersportort.
Parallel dazu gab es seit
Ende 2003 in der Schweiz so viele Streiks und Arbeiter-demonstrationen wie seit
Jahrzehnten nicht mehr. Darunter eine ganze Reihe sog. „wilder“ bzw.
spontaner und zum Teil auch sehr heftiger Streiks, die erst nach Aus-bruch von
Gewerkschaftsseite unterstützt wurden. Den Anfang machte Ende 2003 ein
10tägiger Streik bei der Verpackungsfirma Allpack AG gegen die
Verlängerung der Arbeitszeit, die Kürzung des allgemeinen und des
Mutterschaftsurlaubs und den Wegfall des 13.Monatsgehalts. Am 7.Streiktag
prügelte die Polizei Streikbrechern den Weg frei. Drei der passiven Widerstand
leistenden Arbeiter/innen mussten ins Krankenhaus. Mitte / Ende November 2003
kam es zu einem 8tägigen Streik der Beschäftigten des Küchengeräteherstellers Zyliss
in Lyss zum Erhalt ihrer Arbeits-plätze. Im Rahmen des Streiks ließen sie es
sich nicht nehmen am 20.11.2003 den Golfklub ihres Chefs zu besuchen und sich
am späteren Nachmittag im Nobelhotel „Baur au Lac“ zu erholen. Getreu dem
Motto: „Einmal einen Tag so verbringen, wie es diejenigen tun, die unsere
Arbeitsplätze vernichten!“
Am 31.Januar 2004 machten
300 Maler und Gipser mit einer kämpferischen und z.T. unbewilligten
Demonstration Druck für einen neuen Flächentarifvertrag. Am Sitz des
Unternehmerverbandes in Wallisellen angekommen, mauerten sie einen Teil des
Eingangs zu. Im März, April und Mai 2004 kam es zu ein- bzw. zweitägigen
Streiks. Im Zuge einer weiteren Demonstration am 28.Mai 2004 wurde die Fassade
eines Hardliners des Innungsverbandes mit 200 mitgebrachten Eiern verziert. Zu
einem der längsten und zähesten Arbeitskämpfe kam es beim Zigarettenfilter-Produzenten
Filtrona, wo die 150 Arbeiter/innen Ende 2004 / Anfang 2005 24 Tage lang
für einen Sozialplan streikten. Die Liste ist lang… In den letzten Wochen sorgte
besonders der Arbeitskampf im von Schließung bedrohten Swissmetal-Werk „La
Boillat“ in Reconvilier für Aufsehen. Dort legten die 320 Beschäftigten am
25.1.2006 für 36 Tage die Arbeit nieder und besetzten ab dem dritten Streiktag
die Werkhallen. Vorausgegangen war bereits im November 2004 ein zehntägiger
Ausstand – „der erste wilde Streik in der Schweizer Metallbranche“
(„Vorwärts“ 3.2.2006).In beiden Fällen gab es Solidaritätsdemonstrationen von
mehreren tausend Menschen. „Der Kampf in Revonvilier … hat Symbolwirkung.
Dieser Streik ist einer der wichtigsten Momente im alltäglichen Klassenkampf in
der Schweiz.“ Es gehe „um eine Politik der Strukturschwächung seitens
der Firmenleitung, um Würde und Respekt und um das Erkennen der
widerständischen Fähigkeiten seitens der ArbeiterInnen“, schrieb der
„Vorwärts“ zu Recht. Umso besorgniserregender, dass er offenkundig mit einer
Niederlage endete.
Doch es gibt auch wichtige
Erfolge zu vermelden: Die Maler und Gipser setzten am 18.April 2005
einen neuen Gesamtarbeitsvertrag mit Lohnerhöhungen durch. Im selben Monat
verhinderten die Beschäftigten des Reinigungskonzerns Honegger geplante
Entlassungen. Im Sommer 2005 erkämpfen die Taxifahrer einen 13.Monats-lohn
und Ende Januar 2006 erreichte das technische Personal des Schauspielhau-ses
Zürich durch einem 4tägigen Streik Lohnerhöhungen.
Damit verbunden sind auch
tief greifende Veränderungen in den Gewerkschaften. Zwischen 1980 und dem Jahr
2000 schrumpfte die Mitgliederzahl des Schweizeri-schen Gewerkschaftsbundes
(SGB) von 460.000 auf 386.000 (-15%). Dank der Integration weiterer
Einzelgewerkschaften waren es im Herbst 2005 393.000. Die kämpferische
Gewerkschaft Bau & Industrie (GBI) verlor fast ein Viertel, die modera-tere
Industriegewerkschaft SMUV gar ein Drittel ihrer Mitglieder. Im Oktober 2004
schlossen sich dann GBI, SMUV, die Einzelhandelsgewerkschaft VHTL, und die
kleinen Dienstleistungsgewerkschaft „unia“ und „actions“ (Genf) zur „großen
Unia“ zusammen, die Ende 2005 über 203.072 Mitglieder, 10.000
Vertrauensleute und 1.000 hauptamtliche Sekretäre und Verwaltungsangestellte
verfügte. Bestimmend ist die eher linke GBI und Unia-Präsident der ehemalige
Trotzkist Vasco Pedrina. Der Mitgliederverlust betrug 2005 nur noch 216
Personen (= 0,1%). Zum Vergleich: ver.di verlor 2005 unterm Strich
107.403 Mitglieder (-4,3%). Seit der ver.di-Gründung im Jahr 2000 reduzierte
sich deren Mitgliedschaft um nicht weniger als 25% !
Die liberale „Weltwoche“ vom
2.2.2006 fasst die Entwicklung so zusammen: „Bis vor kurzem galten die
Schweizer Gewerkschaften als moribunde Funktionärsbetriebe ohne Saft und
Zukunft. Das hat sich mit dem aggressiven Auftreten der Unia grundlegend
geändert. Die Unia ist seit ihrer Gründung vor einem Jahr zu einer
schlagkräftigen Kampagnenorganisation mutiert und funktioniert nach den
Prinzipien der Privatwirtschaft: Sie pflegt ihren Auftritt, steigert ihren
Marktwert und betreibt einen effizienten Mitteleinsatz. Vor allem aber
akquiriert sie ihr Personal gezielt und steckt es in Weiterbildungskurse. Heute
ist die Unia ein attraktiver Arbeitgeber für junge Gewerkschaftssekretäre, die
ihr Handwerk bei Nichtregierungsorganisationen oder politischen
Initiativkomitees gelernt haben und keinerlei Lust auf klassische Politarbeit
in einer Partei verspüren. Gleichzeitig – und das ist ihr Erfolgsgeheimnis –
gelingt es der Unia, den ursprünglichen Charakter einer Bewegung zu wahren. Der
Umbau kam gerade noch rechtzeitig.“
Doch auch bei Unia ist nicht
alles Gold, was glänzt. Längst nicht überall betätigt sie sich als Rückgrat der
Lohnabhängigen. Beim Swissmetall-Werk in Reconvilier be-kam die
Unia-Führung offenbar Angst vor der Schärfe der Konfrontation und nötigte die
Streikenden unter der Drohung, kein Streikgeld mehr zu zahlen, zum Abbruch ihres
Kampfes. Den Patrons verhalf sie damit zu einem wichtigen Prestigeerfolg. „Es
ist ein dramatischer Moment. Unter den Arbeitern herrscht Wut, Enttäuschung.
Einige befinden sich im Schockzustand, andere weinen oder müssen sich
übergeben. Zahlreiche Augenzeugen berichten über Polizeibewegungen in dem
Gebiet.“ („Liberazione“ 5.3.2006.) Auch beim Schweizer Referendum über
die Personen-freizügigkeit am 25.9.2005 betätigte sich die Unia (zusammen
mit dem SGB und den christlichen Gewerkschaften) ganz als Sozialpartner und
verhalf der Regierungs-vorlage mit ihrem Votum zu einem knappen Erfolg.
Spannend wird die Frage
sein, wieviel Engagement Unia und SGB bei der Verteidigung der sozialen
Errungenschaften zeigen werden. Spätestens seit der Sozialhilfereform vom
September 2004 entwickelt sich auch die Schweizer Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik in Richtung „Hartz-Gesetze“ bzw. „Workfare“.
Neben dem verschärften Arbeitszwang sind die (Ende der 90er Jahre schon einmal
gescheiterten) sog. „1.000 Franken-Jobs“ in Zürich hier der
neueste Renner. Für tendenziell 1.000 Schweizer Franken (645 Euro) sollen die
Erwerbslosen halbtags als Brötchenschmierer und Hilfskellner, als
Straßenbahn-Putzer(innen) und natürlich als Dienstboten für das gehobene
Bürgertum arbeiten. Die ersten „Pilotprojekte“ sind bereits angelaufen.
Vorangetrieben werden sie von der grünen „Sozialvorsteherin“ und
ehemaligen Nationalrätin Monika Stocker. Die rechtspopulistische Schweizer
Volkspartei (SVP) des Großindustriellen und Bundesrates Christoph Blocher
macht derweil mit einer Hetzkampagne Stimmung gegen „Scheininvalide“ und
für eine Revision der Invalidenversicherung, die zu einer „Neudefinition des
Invaliditätsbegriffes“ und zu einer Rentenkürzung führen soll.
Mit neoliberaler,
ausländerfeindlicher und Law & Order-Propaganda ist es der SVP
gelungen bei den Nationalratswahlen 2003 ihren Erfolg von 1999 noch einmal deut-lich
zu überbieten und mit 26,7% (+4,2%) vor den Sozialdemokraten (SPS), die
auf 23,3% (+ 0,8%) kamen, stärkste Partei zu werden. Verlierer waren vor allem
die betulicheren bürgerlicheren Parteien FDP und CVP (17,3% bzw.
14,4%), die zusam-men 4,1% einbüßten. Ein deutlicher Beleg für die Vertiefung
der Gräben innerhalb der seit 1959 praktizierten. „Konkordanzdemokratie“,
d.h. der Großen Koalition aus SVP, FDP, CVP und SPS, die zusammen 81,6% der
Wähler repräsentieren und 217 der 246 Parlamentssitze innehaben. Die linke
Opposition im Nationalrat ist demge-genüber marginal: die Partei der Arbeit
(PdA), SolidaritéS und Links-Alternative kamen 2003 zusammen gerade mal auf
1,7% (+ 0,5%) und 4 Sitze.
Umso größere Bedeutung kommt
– neben der Gewerkschaftsbewegung – den Aktivi-täten der außerparlamentarischen
Linken zu. Eine der Hochburgen ist die 90.000 Einwohner zählende Industriestadt
Winterthur, 30 km vor den Toren Zürichs. Neben ihrer Beteiligung an den
Anti-WEF-Protesten, der Anti-Kriegs-Bewegung und diver-sen Kampagnen hat sie in
den letzten Jahren vor allem durch Haus- und Fabrikbe-setzungen von sich reden
gemacht. Die spektakulärste Aktion war sicherlich die 48stündige Besetzung des
seit 1999 leer stehenden 24stöckigen Sulzer-Hochhauses (der ehemaligen Zentrale
des Maschinenbaukonzerns Sulzer) Ende Februar 2004 durch 200 Aktivisten.
Darüber werden wir auf der Veranstaltung einen 20minütigen Videofilm
zeigen.
Ende letzten Jahres waren in
Winterthur als Antwort auf Mietwucher, Luxusmoderni-sierungen und das Fehlen
sozialer und kultureller Zentren 12 Häuser dauerhaft besetzt. Jüngste Aktion
ist die Besetzung des im Kantonsbesitz befindlichen Sidi-Industrieareals seit
dem 25.Februar 2006. Sie richtet sich gegen eine Politik, die auf „Innovations-Apéros“,
„Start-ups im Technopark“ und eine durch „Stadtmarketing lanciert(e)
neuartige Unternehmenshilfe“ setzt. Doch anders als hierzulande ist die
außerparlamentarische Linke Winterthurs kein studentisches Phänomen und kein
subkulturelles Strohfeuer. Die meisten sind selbst lohnabhängig und die
beteiligten „MarxistInnen Winterthur“ zum Beispiel haben u.a. eine viel
beachtete Broschüre über Streiks in der Schweiz herausgebracht. Sie werden auf
der Veranstaltung vertreten sein:
Fr. 24.März 2006, 19:30
Uhr, UJZ Kornstr.(28-30)
Antifa-AG der Uni Hannover + Gewerkschaftsforum Hannover
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Interviews,
Berichte + Kommentare zum Thema unter: http://antifa.unihannover.tripod.com/sozial.html
Die
Broschüre der MarxistInnen Winterthur gibt’s unter: http://home.tiscalinet.ch/mawinti
Diese
Veranstaltung wird gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt,
Berlin.
V.i.S.d.P.: T.Riebe, Rodenstr.7, 30451 Hannover