* Rosso:
Am 21.November 2006 wurde der
pro-westliche libanesische Industrieminister Pierre Gemayel (34) nahe Beirut in
seinem Auto bei einem gezielten Anschlag von Unbekannten erschossen. Das
seriöse und renommierte Online-Magazin „Telepolis“
schreibt am 25.11.2006 zum Tathergang: „Pierre Gemayel wurde
am vergangenen Dienstag nicht wie bei allen bisherigen Attentaten im Libanon
von einer Autobombe getötet. Die Täter stoppten den Dienstwagen des
Industrieministers mit zwei Autos auf einer belebten Strasse am helllichten
Tag. Durch ein Seitenfenster wurden Gemayel und einer seiner Leibwächter mit 12
Schüssen aus Pistolen mit Schalldämpfern getötet. Eine riskante Aktion, die so
perfekt geplant und professionell durchgeführt wurde, dass sie an eine
Operation eines Geheimdienstes denken lässt. ‚Die Täter waren über den Tagesablauf
des Opfers genau informiert’, sagte Robert Fisk auf Al Jazeera. Der britische
Journalist hatte mehrere Stunden am Tatort verbracht. ‚Pierre Gemayel befand
sich auf dem Weg zu einer Privatfeier, was nicht öffentlich bekannt war.’ Die
Täter mussten also einen Informanten oder das Telefon ihres Opfers abgehört
haben und zudem das Opfer Tag für Tag observiert haben.“
Interessant auch die politische
Einschätzung von „Telepolis“-Autor Alfred Hackensberger: „Für Hisbollah
kommt die Ermordung Pierre Gemayels zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt.
Angesichts der aktuellen Ereignisse hat Hisbollah ihre für Donnerstag
angekündigten Demonstrationen abgesagt. Man wollte auf der Straße der Forderung
nach einer stärkeren Beteiligung im Kabinett Nachdruck zu verleihen. Die
Kampagne für die "Regierung der nationalen Einheit", die mit voller
Kraft laufen sollte, wurde damit unterbrochen. Der Regierung von Fuad Siniora,
die man stürzen will, bekam durch den Tod Gemayels eine öffentliche Plattform
der Selbstdarstellung und dominiert die nationalen und internationalen Medien.
(…)Aus Respekt am Tode von Pierre Gemayel wird Hisbollah noch einige Tage
warten bis sie ihre Anhänger auf die Strasse ruft. Viel Zeit lässt
Generalsekretär Hassan Nasrallah sicher nicht verstreichen. Mit
Hisbollah-Demonstrationen kann in den nächsten Tagen gerechnet werden.“(
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24055/1.html)
Die
Demonstration wurde am Freitag, den 1.Dezember 2006 nachgeholt: Zur Beteiligung
meldet die ARD-Tagesschau am 1.12.2006 auf
ihrer Website: „Der Machtkampf im Libanon hat einen neuen Höhepunkt
erreicht. Hunderttausende Anhänger der schiitischen Hisbollah-Bewegung haben
sich im Zentrum der Hauptstadt Beirut versammelt um mit einem unbefristeten
Sitzstreik den Rücktritt der Regierung zu erzwingen.“ (siehe: http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID6151892_TYP6_THE_NAV_REF1_BAB,00.html)
Pierre Gemayel war der Juniorchef des
Gemayel-Clans, der eine Fraktion der in drei Teile gespaltenen rechtsradikalen
Falange anführt, die (zusammengenommen) unter den christlich-maronitischen
Libanesen hinter der pro-syrischen und demokratisch-nationalistischen Free
Patriotic Movement (FPM) von Michel Aoun mit großem Abstand die zweitstärkste
politische Kraft bildet. Seit Bekanntwerden des Mordes gilt es in den
Regierungen und den bürgerlichen Medien der USA, der EU und ihrer Anhängsel als
ausgemacht, dass die syrische Regierung hinter dem Mord steckt oder –
ersatzweise – die iranische. Der auch nicht gerade linke, aber immerhin recht
intelligente und meist gegen den Mainstream denkende Publizist und strategische
Analytiker Peter Scholl-Latour ist sich da gar nicht so sicher, wie er in einem
Interview für das zum Springer-Konzern gehörende „Hamburger
Abendblatt“ (www.abendblatt.de)
23.11.2006 erläutert.
Scholl-Latour Der
Nahost-Experte über Macht und Ohnmacht im Krisenherd
Wer befahl den Mord an Gemayel?
Welche Rolle
Syrien spielt, wie Amerika um eine Linie ringt, was der Iran-Irak-Gipfel am
Sonnabend bringt.
ABENDBLATT: Nach dem Mord am libanesischen
Industrieminister Pierre Gemayel wird der Verdacht geäußert, die Kugeln
stammten wieder einmal aus Damaskus. Glauben Sie das auch?
PETER
SCHOLL-LATOUR: „Wenn
jemand kein Interesse daran hatte, dass Gemayel gerade zu diesem Zeitpunkt
umgebracht wird, dann war es der syrische Präsident Bashar Assad. Es ist aber nicht
auszuschließen, dass einer der vielen syrischen Geheimdienste, die Assad nicht
alle kontrolliert, dahinter steckt. Es könnte aber durchaus auch sein, dass von
westlicher Seite gewisse Kräfte eine Annäherung zwischen Syrien und den USA,
die sich gerade anbahnt, torpedieren wollten.“
ABENDBLATT: Das Attentat geschah am selben Tag,
als bekannt wurde, dass Syrien und Irak ihre seit fast 25 Jahren unterbrochenen
diplomatischen Beziehungen wieder aufnehmen und dass zum iranisch-irakischen
Präsidentengipfel an diesem Sonnabend in Teheran womöglich auch Assad
eingeladen werden soll. Ist das Zufall?
SCHOLL-LATOUR: „Die Lage in der Region ist extrem
kompliziert. Da überlagert sich manches. Man hat zum Beispiel den Eindruck,
dass in Washington zwei Lager um die künftige Strategie in der Orientpolitik
ringen: Auf der einen Seite Präsident George Bush und seine Außenministerin
Condoleezza Rice, die gegenüber Syrien und Iran zu keinerlei Konzessionen
bereit sind, auf der anderen Seite sein neuer Beraterstab um James Baker und
der neue CIA-Chef Robert Gates, die Gespräche sowohl mit Damaskus als auch mit
Teheran befürworten, damit Amerika aus dem irakischen Schlamassel herauskommt.“
ABENDBLATT: Assad hat gesagt, der Weg zum Frieden
im Irak führe über Syrien. Ist da etwas dran, oder überschätzt er seine Rolle?
SCHOLL-LATOUR: „Im Westen wird immer angenommen, die
Regierung Syriens könne Einfluss auf die Sunniten im Irak ausüben. Aber das ist
völlig falsch. Assad und seine engsten Mitarbeiter sind überwiegend Alawiten,
also Angehörige einer islamischen Sekte, die von den Sunniten als Ketzer
betrachtet werden. Im Übrigen hat Assad genug damit zu tun, seine eigene
Position in Damaskus zu sichern. Und noch etwas: Teil einer möglichen
Friedenslösung in der Region kann er erst werden, wenn er mit Israel zu einer
Vereinbarung über die Rückgabe der besetzten Golanhöhen kommt. Doch daran
besteht in Israel momentan ein sehr geringes Interesse.“
ABENDBLATT: Sollte es am Sonnabend zum
Dreier-Gipfel kommen - was könnte davon ausgehen? Immerhin handelt es sich um
drei Staaten, von denen jeweils zwei über Jahrzehnte miteinander verfeindet
waren und wiederum zwei, nämlich Iran und Syrien, von US-Präsident Bush zur
"Achse des Bösen" gerechnet werden?
SCHOLL-LATOUR: „Ob Assad überhaupt daran teilnimmt, ist
fraglich. Denn dann würde er seinen Feinden in Washington Argumente liefern, da
sei eine Verschwörung im Gange. Dabei will sich Assad ja offenbar an Amerika
annähern, um seine eigene Position zu stabilisieren. Was die Iraker betrifft:
Jalal Talabani ist zwar Präsident, doch er ist kein Araber, sondern Kurde. Und
damit gehört er einer Gruppierung an, die sich praktisch vom Irak losgelöst
hat. Die beherrschende Rolle in diesem schwer durchschaubaren Geflecht spielt
eindeutig der Iran. Es besteht beispielsweise eine enge Bindung zwischen den
Schiiten des Iran und denen des Irak, zum Teil sogar verwandtschaftliche
Beziehungen. Andererseits gibt es unter den Schiiten auf beiden Seiten
Differenzen darüber, wie die Staatsgewalt ausgeübt werden soll. Hinzu kommt,
dass sich bei den Schiiten im Irak zwei Flügel mit je eigenen Milizen
gegenüberstehen - unter anderem bei der Frage, ob das Land aufgeteilt werden
soll oder nicht.“
ABENDBLATT: Sie sprachen von der beherrschenden
Rolle Teherans. Worin besteht die?
SCHOLL-LATOUR: „Der Iran wächst automatisch in die
Rolle der regionalen Führungsmacht hinein, daran ist gar nichts zu ändern. Die
letzte Hürde, nämlich Saddam Hussein, wurde weggeräumt. Es bildet sich momentan
eine schiitische Brücke, die von den Grenzen Afghanistans bis zum Mittelmeer
reicht. In dieser entscheidenden Region sind die Schiiten die größte Gruppe.
Der Hisbollah im Libanon wird Hörigkeit gegenüber Syrien nachgesagt. Aber davon
kann überhaupt keine Rede sein. Die Hisbollah-Milizen beziehen zwar ihre Waffen
über die syrische Grenze, doch ihr wahrer Schutzpatron sitzt in Teheran. In
allen Büros der Hisbollah, die ich besucht habe, hängen Bilder der Ayatollahs
Khomeini und Chamenei, des früheren und des jetzigen geistlichen Führers der
Iraner.“
ABENDBLATT: Sie haben die zweideutige Haltung der
Amerikaner gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten angesprochen. Was sollen und
können denn die Europäer dort tun - auch und gerade nach der Ermordung von
Gemayel, die ja die Spannungen in der Krisenregion erhöht?
SCHOLL-LATOUR: „Den Einfluss der Europäer kann man im
Prinzip vergessen. Nur die Franzosen unterhalten Beziehungen zum Libanon. Sie
haben gemeinsam mit den Amerikanern auf den Rückzug der syrischen Truppen aus
dem Libanon gedrungen. Wären die Syrer geblieben, würde zumindest noch eine
minimale Kontrolle über die Hisbollah existieren. Man darf auch nicht
vergessen, dass der libanesische Bürgerkrieg dank der Anwesenheit syrischer
Truppen zum Ende gekommen ist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass nun
der Libanon auf einen neuen Bürgerkrieg zusteuert. Schauen Sie sich doch die
Strukturen im Libanon an: Premierminister Fuad Siniora ist ein sunnitischer
Moslem, der Bevölkerungsanteil der Schiiten aber ist auf mindestens 40 Prozent
angewachsen, und der der Christen von fast 50 auf 35 oder sogar 30 Prozent
geschrumpft.“
ABENDBLATT: Das klingt nicht danach, dass die
Uno-Friedensmission mit Beteiligung der Bundeswehr im Libanon-Konflikt gute
Erfolgsaussichten hätte...
SCHOLL-LATOUR: „Sie hat eigentlich nur einen Zweck:
Ruhe an der Grenze zwischen Israel und Libanon herzustellen. Das ist, wenn man
mal von den Überflügen der israelischen Luftwaffe absieht, bisher weitgehend
gelungen. Der Beitrag der deutschen Marine ist dabei völlig irrelevant, denn
der Nachschub an Waffen für die Hisbollah kommt nicht übers Meer.“
Vorbemerkung:
*
Rosso
Der Name * Rosso steht für ein Mitglied der Antifa-AG
der Uni Hannover und des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der
Vergangenheit den Großteil der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat.
Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006
aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
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wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in
Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch oder gewerkschaftsforum-H@web.de