* Rosso:
Die innerpalästinensische Krise verschärft
sich weiter. Die Verhandlungen zur Bildung einer Regierung der Nationalen
Einheit, die faktisch vor allem eine Große Koalition aus Hamas und Fatah sein
würde, befinden sich an einem toten Punkt. Gleichzeitig verübten Landsknechte
des Fatah-Warlords Dahlan,
der laut bürgerlichen Medien über beste Kontakte zu CIA und Mossad
verfügt, in den letzten Tagen (erfreulicherweise fehlgeschlagene) Mordanschläge
auf Ministerpräsident Hanija und Außenminister al-Zahar von der Hamas. Der Präsident der Autonomiebehörde,
Al Fatah-Chef und “Mann des Westens” Mahmud Abbas droht nun mit der Ansetzung
von Neuwahlen, mit der er die Hamas-Regierung loszuwerden hofft.
Hauptstreitpunkte bei den Verhandlungen waren die Weigerung der Hamas den
Kolonialstaat Israel anzuerkennen und die Ablehnung einer so genannt “unpolitischen Technikerregierung”, in der
nach dem Willen der Fatah-Führung kein Hamas-Mitglied vertreten sein sollte.
Nur so hofft man der G7 gegenüber eine ausreichende Unterwerfungsgeste zu
vollführen, um eine Beendigung des Finanzembargos durch EU und USA zu erreichen
(und die Überweisung der von Israel widerrechtlich einbehaltenden Steuereinnahmen).
Etwas anderes als ein Kotau und eine Blankovollmacht für den Besatzer wäre die
Anerkennung Israel nicht, da Ministerpräsident Ehud Olmert erst kürzlich wieder erklärte, dass Israel
frühestens 2010 seine Grenzen (selbstverständlich einseitig) festlegen werde
und z.B. Verhandlungen mit Syrien oder gar eine Rückgabe des Golan ebenso wenig
in Frage kämen wie eine Räumung der Siedlungsblöcke in der West Bank oder die
Kontrolle der Grenze zu Jordanien.
Die sonst vom “freien Westen”
so gern beschworene und eingeforderte Demokratie interessiert Bush, Chirac,
Solana, Merkel oder Steinmeier in diesem Fall (ähnlich wie im Libanon) herzlich
wenig. Bekanntlich Hamas gewann mit ihrer Position einer Nicht-Anerkennung des zionistischen
Staates in freien Wahlen die Mehrheit der Sitze im palästinensischen Parlament.
Auch Umfragen aus den letzten Monaten zeigen, dass sie bei ihrer Ablehnung
dieses Kotaus die Mehrheit der Palästinenser hinter sich hat. So berichtete die
linksliberale israelische Tageszeitung “Haaretz”
(www.haaretz.com/hasen/pages/PrintArticleEn.jhtml?itemNo=764368)
am 18.9.2006, dass 66 Prozent der Palästinenser der Meinung seien, Hamas
sollte Israel nicht anerkennen. Und dies obwohl die Umfrage des PSR unter 1.200
Erwachsenen in Gaza und der West Bank gleichzeitig feststellte, dass die
Popularität der Hamas von 47% im März 2006 auf 38% Mitte September gesunken
sei. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Ablehnung einer solchen
Anerkennung des Kolonialstaates Israel weit über die Hamas-Anhängerschaft
hinausgeht.
Wie die strategischen Positionen der Hamas
im Verhältnis zur Besatzungsmacht heute aussehen und was ihre Alternativen zur
Blankovollmacht sind, danach fragte das binationale
Online-Wochenmagazin “Bitterlemons”
(www.bitterlemons.org) den
Hamas-Abgeordneten Salah al-Bardawil.
Das Interview erschien am 20.11.2006.
Apropos, bei so vielen Interviews mit
Hamas-Kadern und Antizionisten scheint es nur noch eine Frage der Zeit bis auch
der ehemalige Mossad-Offizier und nach wie vor
überzeugte Zionist Yossi Alpher
als Co-Direktor von “Bitterlemons” (wie schon
Uri Avneri) von sog. “Antideutschen” des
Vaterlandsverrats und der Werbung für islamistische
Gruppen bezichtigt wird.
EINE
PALÄSTINENSISCHE ANSICHT:
Für gegenwärtige und kommende Generationen
ein Interview mit Salah al-Bardawil
bitterlemons: Der Vorschlag
der Hamas für eine langfristige Waffenruhe (hudna)
fordert einen vollständigen Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 im
Austausch für eine langfristige Waffenruhe. Bedeutet dies, dass es solange
keine Waffenruhe geben wird wie ein derartiger Rückzug stattgefunden hat oder
beinhaltet der Hamas-Vorschlag die Möglichkeit, dass eine hudna
beginnen kann, wenn eine unumstößliche israelische Verpflichtung zu einem
derartigen Rückzug sowie ein klarer Zeitplan vereinbart wurde und ein <entsprechender> Prozess begonnen hat ?
Salah al-Bardawil: “Die hudna wurde in einer bestimmten Periode
vorgeschlagen. Die Israelis lehnten sie ab, deshalb wird sie nicht länger in
Betracht gezogen und es finden stattdessen Sondierungsgespräche über
europäische Initiativen statt.
Der Waffenstillstand beruhte
auf der Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit Jerusalem
als Hauptstadt als einer zeitweiligen Lösung, die nicht die Anerkennung Israels
zur Folge hat. Die Idee ist einen Zustand der Ruhe in der Region zu erreichen
und den immer währenden Kriegszustand zu vermeiden und das dieser Weg den
kommenden Generationen eine Chance eröffnet in Sicherheit zu leben.”
bitterlemons: Warum sollte
Israel diesen Vorschlag in Betracht ziehen? Was bietet er Israel, dass die
PLO-Position ihm nicht bietet?
Salah al-Bardawil: “Der
Waffenstillstand würde den Israelis die Möglichkeit geben, eine beträchtliche
Zeit lang in Sicherheit und Frieden zu leben. Der Zeitraum ist nicht definiert,
aber die Alternative lautet nur mit Krieg zu leben.
Als das Osloer Abkommen
unterzeichnet wurde, geschah dies nach der Ausübung regionalen und
internationalen Drucks. Die meisten Palästinenser waren mit dem Abkommen nicht
zufrieden, das nicht einmal ein Mindestmaß an palästinensischen Rechten
beinhaltete und das ist der Grund warum seit 1994 viele Aufstände stattgefunden
haben. Was die Israelis in Oslo anboten waren wertlose Seifenblasen, die
schnell platzten.
Die Hamas hat seitdem bei
Wahlen die Mehrheit gewonnen, was zeigt, dass eine Mehrheit der Palästinenser
ihrem politischen Programm zustimmt. Mit anderen Worten, die Hamas ist die
einzige Partei in der palästinensischen Arena, die Sicherheit und Stabilität
garantieren kann. Wir bieten palästinensischen Konsens.”
bitterlemons: Wie sähe der
Status der Gebiete aus, die Israel räumt und wie würde sich das auf die
politische Situation auswirken?
Salah al-Bardawil: “Im Fall,
dass ein solcher unabhängiger palästinensischer Staat geschaffen würde, wäre er
in jeder Hinsicht unabhängig, mit vollständiger Souveränität über Land, See und
Luftraum und mit der vollen Kontrolle über seine Grenzen. Für Siedlungen und
einen Wall ist da kein Platz. Beziehungen gäbe es ganz ähnliche wie sie jetzt
zwischen arabischen Ländern bestehen, die über gemeinsame Grenzen verfügen, was
allerdings keine Anerkennung Israels bedeutet.”
bitterlemons: Wie würden
Grenzkontrollen aussehen?
Salah al-Bardawil: “Wie Khaled Meshaal sagt, gibt es viele Beispiele auf der Welt, wo Länder, die ein antagonistisches Verhältnis zueinander haben und friedlich als Nachbarn zusammenleben, z.B. China und Taiwan. Der durch dieses Arrangement geschaffene palästinensische Staat wird Israel nicht anerkennen, aber in Wirklichkeit werden beide in Ruhe nebeneinander leben. Wir wollen den nächsten Generationen die Gelegenheit geben, über ihre Zukunft zu entscheiden, wie immer die aussehen mag.”
bitterlemons: Was würde
geschehen, wenn eine Seite oder Elemente einer Seite aufhören die Waffenruhe
einzuhalten?
Salah al-Bardawil: “Wir werden
einen solchen Waffenstillstand nicht ohne regionale und internationale
Garantien und Verpflichtungen erzielen, um sicherzustellen, dass jede
Verletzung durch eine Seite bestraft wird. Die Rolle der internationalen
Gemeinschaft wird darin bestehen den Waffenstillstand zu überwachen und zu
kontrollieren.”
bitterlemons: Was würde am
Ende der Periode der Waffenruhe geschehen? Würden Verhandlungen über offen
gebliebene Fragen beginnen und wenn diese scheitern, was dann?
Salah al-Bardawil: “Das werden
kommende Generationen entscheiden müssen.”
Salah al-Bardawil ist
Hamas-Abgeordneter.
Vorbemerkung,
Übersetzung aus dem Englischen und Einfügung in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht
für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und
des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil
der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen
wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in
Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch oder gewerkschaftsforum-H@web.de