* Rosso:
Vor kurzem war an dieser Stelle von
der tiefen Krise die Rede, die die bevorstehende Anerkennung und Kollaboration
mit der verhassten Royal Ulster Constabulary (RUC)
innerhalb von Sinn Féin hervorgerufen hat. Auf das
Konto der von Rechtsradikalen durchsetzten kolonialen Polizeitruppe RUC,
die seit 2001, in der Substanz kaum verändert, unter dem neuen Namen Police
Service Northern Ireland (PSNI) firmiert, gingen
diverse Morde, Attentatsversuche und Folterungen linker, republikanischer
Aktivisten, von der tagtäglichen Repression und Schikanierung einmal ganz
abgesehen. Daher ist diese, von der Sinn Féin-Führung
unter Gerry Adams und Martin McGuinness im Rahmen des sog. “Karfreitagsabkommens”
vom 10.April 1998 und des “St.-Andrews-Friedensplans”,
den Tony Blair im Oktober 2006 mit dem irischen Ministerpräsidenten Ahern aushandelte, betriebene Akzeptanz des britischen
Gewaltmonopols und der loyalistischen Schergen die Krönung eines politischen
Anpassungs- und Integrationsprozesses, bei dem der nicht gerade kleine, linke
Parteiflügel und erhebliche Teile der Anhängerschaft zu Recht “Bauchschmerzen”
bekommen. Dennoch gelang es der zunehmend klassisch sozialdemokratischen
SF-Führung auf dem außerordentlichen Parteitag Ende Januar 2007 mit allerlei
rhetorischen Tricks und der Verbreitung von reformistischen Illusionen noch
einmal den größten Teil der Kritiker “auf Kurs” zu bringen.
Gleichwohl zeigen die beiden
folgenden Berichte aus der rechtsliberalen “Neuen Zürcher Zeitung”
und aus der sozialistischen “jungenWelt”
worum es sich tatsächlich handelt: Um eine schlechte Kopie des “Marsches
durch die Institutionen”, einen „Historischen Kompromiss“ und die
Beteiligung an einer “Regierung der System überwindenden Reformen”, die
in den 70er Jahren in Deutschland und Italien sowie Anfang der 80er in
Frankreich und anderswo mit Pauken und Trompeten gescheitert ist. Zumindest
sofern man nicht das Ergattern von Leitungsposten durch Figuren wie Willy
Brandt, Egon Bahr und Herbert Wehner und später durch ihre “Enkel”
Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Jürgen Trittin & Co. zum Maßstab für den
Erfolg dieser “Strategie” machen will.
“Neue Zürcher Zeitung” 29.1.2007
Der
politische Flügel der Irisch-Republikanischen Armee, Sinn Fein, hat am Sonntag
die nordirische Polizei und Justiz als legitim anerkannt. Aus pragmatischen
Gründen haben die Rebellen sich nun endgültig auf demokratische Methoden
verpflichtet.
ali. Dublin,
28. Januar
Mit einer überwältigenden
Mehrheit haben die rund 900 stimmberechtigten Delegierten der Sinn-Fein-Partei
am Sonntag in Dublin dem Antrag der Parteiführung zugestimmt, Polizei und
Justiz in Nordirland anzuerkennen. Höchstens zwei bis drei Dutzend stimmten
dagegen, die befürchtete Spaltung wurde vermieden. Damit stellt sich die
älteste Partei auf der Insel Irland hinter das britische Gewaltmonopol im nach
wie vor britisch verwalteten Nordosten der Insel. Mehr noch als die Entwaffnung
der IRA vor anderthalb Jahren zieht dieser Parteitagsbeschluss einen
Schlussstrich unter den Nordirlandkonflikt - exakt 400 Jahre nach der
Kolonisierung des Nordostens durch schottische und englische Wehrbauern, die
ihren protestantischen Glauben mitbrachten.
«Wir kommen aus der IRA-Tradition, wir rangen der britischen
Armee ein Unentschieden ab.» Donnernder
Applaus folgte diesen klaren Worten von Martin McGuinness, dem Chefunterhändler
der Sinn-Fein-Partei und ehemaligen Kommandanten der IRA. McGuinness sprach am
Sonntag in den ehrwürdigen Hallen der Royal Dublin Society, einem Hort der
ehemaligen kolonialen Grundbesitzer, wo der Parteitag abgehalten wurde.
Zusammen mit dem Parteipräsidenten Gerry Adams, der seine IRA-Vergangenheit
kurioserweise leugnet, rief er die Partei auf, künftig die nordirische Polizei
anzuerkennen. Die tatsächliche Unterstützung für Polizei und Justiz wird von
der Bildung einer nordirischen Koalitionsregierung abhängig gemacht und von der
Übertragung der entsprechenden Vollmachten an diese einheimische Regierung.
Diese Einschränkung scheint indessen taktischer Natur - das Zugeständnis selbst
kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.
McGuinness, dem die
Sympathie des Saales sicher war, räumte ein, sein Herz sei gegen diesen
Schritt, aber sein Kopf dafür. Diese Zweifel wurden von zahlreichen Rednern
ausgedrückt; es kostete offensichtlich grosse
Überwindung, dem Antrag der Parteiführung zu folgen, denn die frühere
Inkarnation der Polizei, die Royal Ulster Constabulary,
war der Erzfeind gewesen. Zahlreiche Anwesende im Dubliner Saal, so durfte
vermutet werden, hatten einst Polizisten und Soldaten ermordet.
Lange Litaneien über
vergangene Willkür wurden vom Publikum mit Applaus quittiert. Die Kollaboration
der Polizei mit protestantischen Mörderbanden war erst letzte Woche von der Ombudsfrau für die Polizei erneut bestätigt worden. Doch
mehrere Redner drehten das Argument um: Nur die Betonköpfe in der Polizei und
unbelehrbare Unionisten-Politiker wollten verhindern, dass Sinn Fein Einsitz in
die Polizeikommission nehme, deshalb müsse dieser Schritt jetzt vollzogen
werden. Damit sei auch der letzte Vorwand, Sinn Fein auszugrenzen, beseitigt.
Ein ehemaliger
IRA-Häftling berichtete von seinem Gewissenskonflikt. Der ergraute Mann hatte
mit 17 Jahren einen Polizeibeamten umgebracht. Doch jetzt plädierte er dafür,
die Polizei von innen heraus zu beeinflussen. «Wir müssen ihnen Manieren beibringen», zitierte er eine Äusserung von Gerry Adams.
Im eklatanten
Widerspruch zu den tatsächlichen Entwicklungen der letzten zehn Jahre
behauptete die Parteiführung, sie selbst habe von Anfang an die Polizeireform
ins Zentrum ihrer Verhandlungen gestellt. Tatsächlich war es die gemässigte Katholikenpartei SDLP, die diese
Auseinandersetzung geführt und weitgehend gewonnen hat. Doch die SDLP ist
inzwischen von Sinn Fein verdrängt worden. Jetzt, wo die Hauptarbeit bewältigt
ist, wird auch Sinn Fein Einsitz in die Polizeikommission nehmen.
Die
britische Regierung wird aufgrund der jüngsten Entwicklungen entscheiden
müssen, ob sie das gegenwärtige, eher virtuelle nordirische Parlament zum
30. Januar auflöst und Neuwahlen auf den 7. März ansetzt. Alle
Anzeichen deuten auf diesen Schritt, obwohl Pfarrer Ian Paisley, der die grösste Partei in Nordirland führt, noch kein klares
Koalitions-Versprechen gegeben hat. Eine einheimische nordirische Regierung
soll am 26. März die bisherige britische Direktverwaltung ablösen. Sinn
Fein indessen schielt gleichzeitig über die Grenze: in der Republik Irland
finden im Mai oder Juni Neuwahlen statt. Als neuerdings gesetzestreue Partei
steht Sinn Fein auch in Dublin als Koalitionspartnerin zur Verfügung. Das
taktische Geschick und das politische Gespür der erfahrenen Parteiführung darf
nicht unterschätzt werden.
(Quelle: www.nzz.ch)
“junge Welt”
30.1.2007
Sinn Féins
Bedingungen
Republikaner
erkennen die probritischen
Polizeikräfte an – und könnten perspektivisch zur stärksten politischen Kraft
in Nordirland werden.
Florian
Osuch
Die irisch-republikanische Partei Sinn Féin hat am Sonntag abend
in einer historischen Abstimmung die nordirische Polizei anerkannt. Auf einem
Parteitag in Dublin billigten 90 Prozent der 900 Delegierten einen
entsprechenden Antrag. Sinn Féin habe »die Möglichkeit
geschaffen, die politische Landschaft auf dieser Insel für immer zu verändern«,
kommentierte der Parteivorsitzende Gerry Adams das Ergebnis. Im Gegenzug soll
sich nun die Democratic Unionist Party (DUP) des
rechtsradikalen Pfarrers Ian Paisley zur Zusammenarbeit mit den irischen
Republikanern bereit erklären. Das dürfte aber schwerlich gelingen, da der Sinn-Féin-Parteitag an die Anerkennung der Polizei zwei
Bedingungen knüpfte. Zum einen müsse zunächst die geplante Allparteienregierung
ihre Arbeit aufnehmen und zum anderen die Verantwortlichkeit für das gesamte
Polizei- und Justizwesen der zukünftigen nordirischen Regierung übertragen
werden.
Die Anerkennung der Polizei durch Sinn Féin war einer
der Hauptpunkte im St.-Andrews-Friedensplan von 2006,
und für die Partei, die einst als »politischer Arm« der Irisch
Republikanischen Armee (IRA) galt, ein nur schwer zu überwindendes hohes
Hindernis. Zwar hatten sich die königstreuen Polizeikräfte Nordirlands, die Royal
Ulster Constabulary (RUC), im Jahr 2001 den
neutralen Namen Police Service Northern Ireland
(PSNI) gegeben; doch veränderte sich deren personelle Zusammensetzung nicht
entscheidend. Nach wie vor besteht die Truppe zu mindestens drei Vierteln aus
London-loyalistischen Protestanten. Irische Republikaner lehnten die RUC /
PSNI bisher folglich als parteiisch ab – eine Position, die erst in der
vergangenen Woche durch einen Bericht über Verstrickungen der RUC in diverse
Verbrechen gestützt wurde.
Noch im November vergangenen Jahres hatte Adams die PSNI als »paramilitärischen
und religiös-rassistischen Apparat« bezeichnet und deren Auflösung
gefordert. Trotzdem suchte die Sinn-Féin-Parteispitze
nach konstruktiven Wegen, um die Auflagen von St. Andrews zu erfüllen. In der
schottischen Stadt hatten der britische und irische Premier, Anthony Blair und
Patrick Ahern, auf eine Neubelebung des nordirischen
Friedensprozesses verständigt. Demnach sollen am 7. März 2007 Neuwahlen
stattfinden und anschließend eine Allparteienregierung gebildet werden. Gelinge
dies nicht, werde das Projekt Selbstverwaltung von Nordirland aufgegeben und
die Provinz von Irland und Großbritannien gemeinsam verwaltet. Am Sonntag nun
begrüßte das Duo Blair/Ahern, einhellig die
Verabschiedung von Sinn Féins neuer Position als »weise
Entscheidung«.
Die Ziele von Sinn Féin sind klar. In einer
Allparteienregierung wird die Partei den Vizepräsidenten und mehrere Minister
stellen und ihren Einfluß als größte gesamtirische
Partei ausbauen. Mit etwas Geschick könnte Sinn Féin
in einigen Jahren zur stärksten Kraft in Nordirland werden, sofern sie den
konkurrierenden Sozialdemokraten (SDLP) weiter Stimmen abnehmen kann. Dann
würde erstmals der Vertreter einer irischen Partei – vielleicht sogar der
ehemalige IRA-Mann Gerry Adams – an der Spitze des Landes stehen und der Status
der Provinz erneut zur Verhandlung stehen. Ob Irland damit einer vereinten
sozialistischen Republik näher kommt, wie es einst Ziel von Sinn Féin war, bleibt abzuwarten.
(Quelle: www.jungewelt.de)
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht
für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und
des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil
der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
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