* Rosso:

 

In den vergangenen Wochen forderten die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas vor allem im Gaza-Streifen (zum Teil aber auch in der West Bank) mehr als hundert Tote und das Fünf- bis Zehnfache an Verletzten, darunter auch zahlreiche Zivilisten inklusive Kindern, die wider Willen “in die Schusslinie gerieten”. (Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl der BRD entspräche das hierzulande mehr als 2.000 Toten und 10.000 bis 20.000 Verletzten!) Forciert wurde das innerpalästinensische Blutbad durch das Hungerembargo der USA und der EU. Eine ganz direkte Förderung erfuhr es durch die Finanz- und Waffenhilfe Großbritanniens, Israels und der USA für den Fatah-Vorsitzenden und Präsidenten der Autonomiebehörde Mahmud Abbas sowie seinen Warlord in Gaza, Mohammed Dahlan, der sich u.a. mit Attentatsversuchen auf Hamas-Ministerpräsident Hanija und Außenminister al-Zahar erkenntlich zeigte. Im Gegenzug ließen Syrien und der Iran der Hamas Finanzhilfe zukommen. Auch wenn sich Fatah und Hamas heute (am 8.Februar 2007) unter saudischer Vermittlung in Mekka auf die seit langem angestrebte, aber nie zustande gekommene “Regierung der Nationalen Einheit” verständigt haben, ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Kämpfe erneut ausbrechen, weil die eine oder andere Seite versucht, die Patt-Situation zu ihren Gunsten zu überwinden.

 

In jedem Fall sollte von Interesse sein, wie nicht an eine der beiden Parteien gebundene palästinensische Politiker und Analytiker die entstandene Situation und ihre Ursachen einschätzen. Die unabhängige, linke italienische Tageszeitung “il manifesto brachte daher am 3.2.2007 das folgende Interview mit dem linksnationalistischen arabischen Knesset-Abgeordneten Azmi Bishara, einem führenden Vertreter derjenigen Palästinenser, die innerhalb der 1967er-Grenzen des Staates Israel leben. Bishara (50), der seit 1996 Mitglied der Knesset und „nebenbei“ als politischer Publizist und Schriftsteller tätig ist, versteht sich als Mitglied der Anti-Globalisierungsbewegung und gehörte z.B. zu den Referenten des Europäischen Sozialforums (ESF) in London im Oktober 2004.

 

Interview:

 

“Was bleibt dem Sieger? Die Kontrolle des Gefängnisses Gaza”

 

Palästinenser in der Knesset: Für den Abgeordneten Azmi Bishara liegen beide Bewegungen falsch und vergessen die Besatzung.

 

Michele Giorgio – Jerusalem

 

Azmi Bishara ist – genau wie ein Großteil der Palästinenser – verbittert über das, was in Gaza geschieht, über die Auseinandersetzungen, die die beiden größten politischen Gruppierungen (vielleicht für immer) voneinander entfernen. Er ist aber auch verbittert über die Führer der Fatah und Hamas und über die internationalen Parteien, die mit ihrem Druck und ihren Einschüchterungsaktionen dazu beigetragen haben die Palästinenser in den Bürgerkrieg zu drängen. “Das was in Gaza geschieht, ist paradox. Je mehr ich darüber nachdenke desto mehr sehe ich Gruppen von Gefangenen, die um die Kontrolle ihres Gefängnisses kämpfen. Ist das nicht absurd?”, fragt er und schüttelt den Kopf. Als arabisch-israelischer Abgeordneter in der Knesset, Führer der (linksnationalistischen) Tajammo-Partei und angesehener Intellektueller ist Bishara eine der im Westen und in der arabischen Welt bekanntesten palästinensischen politischen Persönlichkeiten.

 

Befinden wir uns im Bürgerkrieg?

 

“Wenn die kämpfenden Parteien weiter von Auseinandersetzung und Rache reden, ist es schwer dieser Katastrophe zu entgehen. Um diese gewaltsame Auseinandersetzung wieder auf die Gleise der Politik zurückzubringen, ist es notwendig, dass diejenigen, die für die Idee von israelisch-palästinensischen Verhandlungen eintreten und somit für einen Kompromiss mit dem Staat Israel die von der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung bei den von der Hamas gewonnenen) Wahlen im vergangenen Jahr zum Ausdruck gebrachte Entscheidung respektieren. Gleichzeitig sollten diejenigen, die die Hamas unterstützen und sich gegen ideologische und territoriale Opfer wenden, die ein politisches Abkommen (mit Israel) mit sich bringen würde, über die Stärke verfügen, die islamische Bewegung dafür zu kritisieren, dass diese darauf besteht, eine Autonomiebehörde regieren zu wollen, die keinerlei Souveränität besitzt und die Abkommen mit Israel eingegangen ist, denen sie sich nicht entziehen kann. Nur wenn diese Schritte getan werden, kann man darauf hoffen, aus dem Tunnel herauszukommen.”

 

Sie betonen allerdings auch die internationale Verantwortung.

 

“Wie kann man das Verhalten gegenüber einer Regierung (der Hamas-Regierung) nicht kritisieren, die man vom ersten Augenblick an dazu zwingen wollte das Programm zu ändern, mit dem sie gewählt wurde. Und wie kann man das Verhalten jener palästinensischen Kräfte nicht rügen, die versucht haben die Belagerung der Autonomiebehörde dazu zu benutzen die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass die (Hamas-) Regierung mit ihrer Mission gescheitert sei und es keine andere Möglichkeit gäbe als die Bedingungen zu akzeptieren, die das aus den USA, Russland, der UNO und der EU bestehende Quartett sowie Israel gestellt haben. Ohne dabei diejenigen zu vergessen, die keine Stellung beziehen.”

 

Auf wen beziehen sie sich da?

 

“Auf die Vielen, die sagen, dass sie zu beiden einander bekämpfenden Fraktionen auf Distanz bleiben wollen, während sie im Gegenteil intervenieren müssten, um den Führern von Fatah und Hamas zu sagen, dass es politisch und moralisch falsch ist, ihre Aktivisten dazu zu bewegen Gewaltakte gegen die Widersacher zu begehen, während die israelische Besatzung andauert. Wir dürfen nie vergessen, dass sich die Schlüssel für das Gefängnis Gaza nicht in den Händen der Gefangenen befinden, die sich heute bekämpfen.”

 

Was sollten die Palästinenser stattdessen tun?

 

“Auf die Straße gehen, aber nicht um sich dieser oder jener Seite anzuschließen, sondern um die politischen Führer dazu aufzufordern, der Realität ins Gesicht zu sehen und nicht in Illusionen zu leben, weil die palästinensische Frage ungelöst bleibt und ihr dramatischstes Ausmaß erreicht hat. Das palästinensische Volk hat (in den Besetzten Gebieten) noch nie unter diesen Bedingungen gelebt und alle haben die Pflicht sich immer daran zu erinnern – jeden Moment – bevor sie um die Kontrolle des Gefängnisses Gaza kämpfen.”

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:   * Rosso

 

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html) werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der Verantwortung des Gewerkschaftsforums.

 

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch  oder  gewerkschaftsforum-H@web.de