* Rosso:
Aufgrund der verkürzenden
Berichterstattung der bürgerlichen Medien hierzulande wird der Eindruck erzeugt
bei der nach langen und blutigen internen Kämpfen zustande gekommenen
palästinensischen „Regierung der Nationalen Einheit“ handele es sich nur
um eine „Große Koalition“ aus Hamas und Fatah. Dem ist nicht so. Neben
den beiden großen Parteien, die bei den Parlamentswahlen am 25.Januar 2006
zusammen 85,9% der Wähler repräsentierten (Hamas: 44,5%; Fatah:
41,4%), sind auch drei der vier kleineren Parteien, d.h. die gemeinsame
linkssozialdemokratische Liste von PPP, DFLP + FIDA „Al Badeel“ / „Die Alternative“ (2,9%, 2 Abgeordnete),
die alternativ-zivilgesellschaftliche, der Antiglobalisierungsbewegung
angehörenden Liste „Unabhängiges Palästina“ von Mustafa Barghuti (2,7%, 2 Abgeordnete) sowie die
bürgerlich-liberale Liste "Dritter Weg" von Hanan Ashrawi und dem ehemaligen
palästinensischen Weltbank-Funktionär und jetzigen Finanzminister Salam Fayed (2,4%, 2 Sitze) an der neuen Regierung beteiligt. Die
einzige Oppositionspartei im Parlament (der Islamische Dschihad
hatte die Wahlen boykottiert) ist die revolutionär-sozialistische Volksfront
für die Befreiung Palästinas PFLP (42.101 Stimmen, 4,25%, 3 Sitze), deren
Generalsekretär Ahmed Saadat seit März 2006 einer der
zahlreichen politischen Gefangenen der Besatzungsmacht Israel ist. Die Position
der PFLP zur „Regierung der Nationalen Einheit“ und zum Mekka-Abkommen,
auf dessen Grundlage sie zustande kam, erläuterte daher die PFLP-Abgeordnete Khalida Jarrar. Vor
ihrer Wahl war Khalida Jarrar
hauptsächlich in der Gefangenenhilfsorganisation Addameer (http://www.addameer.org/index_eng.html)
und in der palästinensischen Frauenbewegung aktiv. Das erste der beiden
folgenden Interviews erschien am 3.3.2006 auf der Website der
italienischen Palästina-Solidarität www.infopal.it
und auf der Seite des aus einem Teil der Autonomia-Bewegung von 1977
hervorgegangenen Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten; www.contropiano.org).
„Wir haben das Mekka-Abkommen begrüßt, weil es den internen Kampf
beendet hat, aber wir werden eine positive Opposition betreiben… weil wir es
für einen Schritt zurück halten“
Interview mit der PFLP-Abgeordneten Khalida
Jarrar
Ist die Weigerung der
Volksfront, sich an der Regierung der Nationalen Einheit zu beteiligen,
endgültig?
„Die Entscheidung der
Volksfront ist klar: Wir werden uns nicht an der Regierung der Nationalen
Einheit beteiligen und in den Reihen einer konstruktiven Opposition bleiben,
weil wir nach den ersten Verhandlungen mit Präsident Mahmud Abbas und
Ministerpräsident Ismail Hanija eine politische
Differenz festgestellt haben. Dabei handelt es sich um den Text des Dokuments,
auf dessen Grundlage die Regierung eingesetzt wurde und seinen Inhalt, was die
Einhaltung der von der PLO mit Israel unterzeichneten Abkommen anbelangt. Als
wir erfuhren, dass das die Endfassung ist, haben wir es als unmöglich erachtet,
etwas zu akzeptieren, was wir als einen Schritt zurück bezogen auf das Dokument
der Nationalen Einigung halten.“
Können Sie uns genauer
erklären, worin dieser „Rückschritt“ besteht?
„Der Punkt 3, letzter Absatz
des Dokuments über die Einsetzung der Regierung enthält die Verpflichtung der
Regierung die mit Israel unterzeichneten Abkommen einzuhalten. Wir sind gegen
diese Abkommen <u.a. die Osloer Abkommen> die die Interessen unseres Volkes nicht verwirklicht,
sondern die ihm und insbesondere dem Widerstand sehr viel Leid beschert haben.
Der erste Teil von Punkt 1
des Dokuments, insbesondere der Absatz drei, der von der Respektierung des
internationalen Rechts und der Beschlüsse der vorangegangenen palästinensischen
Parlamente spricht. Wir von der PFLP hatten uns aus dem Exekutivkomitee der PLO
zurückgezogen und zwei Versammlungen des Nationalrats boykottiert. Die erste
1988 als das palästinensische Friedensprogramm in Angriff genommen wurde, das die Anerkennung der UNO-Resolutionen 242 uns 338
enthält. Unsere Gegenposition war klar. Wir haben die Sitzung boykottiert, die
die Annullierung bzw. die Veränderung des nationalen palästinensischen
Abkommens behandelte. Es ist daher schwer möglich, dass sich die Volksfront an
dem Amtseinsetzungsdokument beteiligen kann, das die Respektierung der Abkommen
verlangt, deren Akzeptanz und Einhaltung wir immer abgelehnt haben.
Wir bestätigen aber, dass wir
das Mekka-Abkommen begrüßt haben, weil es den <innerpalästinensischen> Kampf beendet hat. Wir werden eine positive
Opposition betreiben, um die Lage der Palästinenser zu verbessern. Wir werden
die Regierung bei den Positionen, die es verdienen, in konstruktiver Weise
unterstützen und uns auf demokratische Weise widersetzen, wenn sie nicht
unseren Vorstellungen und unseren Verpflichtungen entspricht.“
Wird die Front der Regierung
der Nationalen Einheit das Vertrauen aussprechen, wenn sie sich im
Gesetzgebenden Rat präsentiert?
„Es ist noch zu früh, um das
zu sagen. Da wir uns jedoch nicht an der Regierung beteiligen, werden wir ihr
nicht das Vertrauen aussprechen und uns enthalten.“
Welche Position hat die
PFLP zur Verteilung der Ministerien, auch in Bezug auf Eure Forderung nach zwei
Ressorts und einem Posten bei der Sicherheit?
„Das stimmt überhaupt nicht.
Wer das im Namen der Volksfront erklärt hat, der lag falsch, weil er an den
Versammlungen nicht teilgenommen hat. Wir haben niemals über Ministerquoten
diskutiert. Wenn das war wäre, hätte sich die Front an der Regierung beteiligen
können, wenn sie mehr Ministerien hätte haben können.
Die Front diskutiert nicht aus
dem engen Blickwinkel der Quoten, sondern vom Standpunkt der palästinensischen
Interessen aus. Ich glaube, dass dies ein Versuch ist, um dem Image unserer
Bewegung zu schaden. Wir schämen uns nicht über Pluralismus und Demokratie zu
diskutieren und wir respektieren die Wahlergebnisse. Uns interessieren Quoten
nicht, weil wir befürchten, dass sich auch in den öffentlichen Diensten und im
Justizwesen die Logik der ‚Parzellierung’, d.h. der Ämteraufteilung auf
der Grundlage der Parteimitgliedschaften verbreitet.“
Aber glaubt Ihr nicht,
dass Euer Rückzug von der palästinensischen politischen Bühne als „dritter
Kraft“ die Bildung der Einheitsregierung beeinflussen kann?
„Wir werden weiterhin die
Rolle derjenigen spielen, die vereinen, auch wenn wir uns in der Opposition
befinden und wir werden uns nicht wie Oppositionelle zur Regierung verhalten.
Wir sind für die nationale Einigung und die Gestaltung der Opposition in
ziviler Weise. Wir werden keine weiteren Provokationen und Druck auf unser Volk
erlauben. Unsere Ablehnung einer Regierungsbeteiligung wird unser Verhältnis zu
den beiden Bewegungen Hamas und Fatah nicht beeinflussen.“
Glauben Sie, dass die
Regierung in der Lage sein wird diesem Druck standzuhalten?
„Wer glaubt, dass Israel und
die Vereinigten Staaten zu Verhandlungen bereit sind, um die Besatzung zu
beenden, der träumt. Der von den Amerikanern vorgeschlagene Plan hat die Road Map sowie
partielle und Übergangslösungen zum Ziel. Deshalb sollten diejenigen, die sich
Illusionen machen, dass man über diese Verhandlungen zu einer Beendigung der
Besatzung gelangen könnte, aufhören zu träumen.“
Glauben Sie, dass es der
kommenden Regierung gelingen wird, das Ende der politischen und
wirtschaftlichen Belagerung zu erreichen, die dem palästinensischen Volk
aufgezwungen wird?
„Wir glauben, dass jede
Regierung, der es sofort gelingt die Belagerung zu beenden, die Bedingungen des
<aus USA, EU,
Russland und der UNO bestehenden „Nahost“-> Quartetts akzeptiert hat. Wir sind allerdings der
Ansicht, dass, wenn die palästinensische Seite eine einheitliche Position
vertritt, die dem Dokument der Nationalen Einigung treu bleibt, wir der Welt
politisch entgegentreten und diese Belagerung schrittweise durchbrechen können.
Das erfordert allerdings gerade eine starke palästinensische Position. Immer
wenn Druck ausgeübt wird, müssen wir innehalten und planmäßig daran arbeiten
die Belagerung auf der arabischen, europäischen und internationalen Ebene zu durchbrechen.
Die USA werden immer mehr fordern und das verlangt Entbehrungen.“
Das zweite Interview mit Khalida Jarrar erschien drei
Wochen später in der unabhängigen linken italienischen Tageszeitung „il
manifesto“ vom 22.3.2007 und setzt zum Teil andere Akzente. Außerdem
gewinnt man den Eindruck, dass die Erfahrung jener drei Wochen eine
Verschärfung der Kritik zur Folge hatte:
Hamas-Fatah? „Eine Regierung der nationalen Aufspaltung“
Die Volksfront für die Befreiung
Palästinas: Die Road Map ist eine Gefahr, genau wie
die Sozialpolitik der Islamisten. Es spricht Khalida Jarrar.
Michele
Giorgio – Jerusalem
Die seit vergangenem Samstag
amtierende palästinensische Regierung der Nationalen Einheit ist sich sicher,
dass sie den internationalen Boykott trotz des israelischen Drucks für eine
Fortsetzung des Embargos brechen kann. Israel zufolge soll das Embargo solange
andauern wie die Palästinensische Autonomiebehörde die drei Bedingungen des <“Nahost“-> Quartetts nicht erfüllt: Anerkennung des jüdischen Staates, Akzeptanz
der von den Palästinenser mit Israel bereits unterzeichneten Abkommen und
Verzicht auf den bewaffneten Kampf. Einige positive Signale gibt es. Gestern
traf sich der EU-Gesandte Marc Otte außer mit
Präsident Abu Mazen <alias Mahmud Abbas> auch mit Außenminister Ziad
Abu Amr (der auf der Hamas-Liste <ins Parlament> gewählt wurde). Anfang der Woche hatte der
stellvertretende norwegische Außenminister eine Unterredung mit
Ministerpräsident Ismail Hanija (Hamas), während der
amerikanische Konsul mit Finanzminister Salam Fayed <von der rechtsliberalen Liste „Dritter
Weg“> zusammentraf. Gestern
kündigte die amerikanische Außenministerin Condoleezza
Rice allerdings einen „neuen Plan“ für die
Hilfen für die Autonomiebehörde an, der eine Reduzierung der Gelder und weitere
Restriktionen vorsieht, „um zu verhindern, dass sie bei der Hamas-Komponente
der neuen Regierung ankommen“.
Die Volksfront für die
Befreiung Palästinas (PFLP), die historische Formation der palästinensischen
Linken, fährt unterdessen fort die neue Regierung zu kritisieren und zieht ihre
Erfolgsaussichten stark in Zweifel. „Dies ist eine Regierung der Aufteilung
der Macht zwischen Hamas und Fatah und keine Regierung der nationalen Einheit“,
sagt die Abgeordnete und Spitzenvertreterin der PFLP-Führung, Khalida Jarrar. Wir haben sie
interviewt, während aus dem Flüchtlingslager in Askar
(Nablus) die Nachricht eintraf, das ein
palästinensischer Junge bei einem Angriff der israelischen Armee getötet wurde.
Warum habt Ihr
beschlossen der neuen Regierung fern zu bleiben, an der sich fast alle
palästinensischen Gruppierungen beteiligen?
„Vor allem aufgrund der Art
und Weise wie dieses Abkommen zwischen Hamas und Fatah zustande kam. Wir
beanstanden selbstverständlich nicht die Formel der nationalen Einheit, aber
hier hat nur eine Aufteilung der Macht stattgefunden. Übrigens mit der Besetzung
der Ministerämter nicht auf der Grundlage der Professionalität, sondern der
Zugehörigkeit zu dieser oder jener Partei. Das sind die üblichen Systeme, die
sich niemals ändern und von denen nun auch die islamische Bewegung Gebrauch zu
machen beginnt, nur um sich einen bedeutenden Teil der Macht zu sichern.
Nachdem Hamas jahrlang gegen die Osloer Abkommen protestiert hatte akzeptiert
sie jetzt, dass es Abu Mazen ist, der bei der
Diplomatie die Zügel in die Hand nimmt und die Verhandlungen mit Israel auf der
Basis der Road Map
führt, die wir als eine sehr gefährliche Falle für die Palästinenser
betrachten. Die einzige Chance für unser Volk besteht in der Einberufung einer
internationalen Konferenz, die über die vollständige Umsetzung der
internationalen Resolutionen in Palästina diskutiert. Aber die Regierung hat
einen anderen Weg eingeschlagen und das mit dem Segen der Hamas.“
Ihr kritisiert auch die
angeblich von den beiden großen Parteien der Regierung herbeigeführte „Einstellung“
der Untersuchungen über die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen
palästinensischen Kämpfern, die monatelang die Straßen der Besetzten Gebiete
mit Blut bedeckten.
„Da stehen wir vor einer
paradoxen Situation. Gegen die Leute von Fatah und Hams, die in den letzten
Monaten angeordnet haben, das geschossen wird, das den Rivalen im Hinterhalt
aufgelauert wird und die politische Morde befohlen haben, wird nicht nur nicht
ermittelt, sondern in einigen Fällen wurden sie durch die Übertragung eines
wichtigen Amtes in der neuen Exekutive geradezu belohnt.“
Befürchtet Ihr, dass die
Aufteilung der Macht, die Ihr beklagt, Konsequenzen für die palästinensische
Gesellschaft haben könnte?
„Diese Gefahr ist konkret.
Die Fatah hat verlangt, das sie die internationalen
Beziehungen gestalten und die möglichen Verhandlungen mit Israel führen kann
und dies auch erreicht. Die Hamas hat andererseits Ministerien wie das
Bildungsministerium, das Frauenministerium und das Arbeitsministerium behalten,
die ihr eine hohe soziale Kontrolle ermöglichen. Das könnte bedeuten, dass wir
in Zukunft die Umsetzung von der Religion, vom Kodex des Korans inspirierter
Gesetze erleben und das alles zulasten der Frauen, die in den letzten Jahren
einige bedeutende Bürgerrechte erkämpft haben. So wurde zum Beispiel der
Bildungsminister Nasr Eddin
Saher in seinem Amt bestätigt, der gerade vor einigen
Wochen die Zerstörung eines Schulbuches angeordnet hatte („Erzähl’
Vogel, erzähl’ weiter!“; Anm.d.Red.) mit Geschichten unserer Jahrtausende alten Tradition,
weil er sie für unmoralisch hält. Wir wünschen uns, dass die Fatah es nicht
akzeptiert hätte die Augen vor dem zu verschließen, was in der Gesellschaft
geschieht.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht
für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und
des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil
der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen
wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in
Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch oder gewerkschaftsforum-H@web.de