* Rosso:

 

Die letzten Wochen waren im Libanon von der sich zuspitzenden innenpolitischen Konfrontation zwischen dem pro- und dem antiimperialistischen Lager gekennzeichnet. Wobei das Letztere mit Amal, Hisbollah, der Kommunistischen Partei des Libanon, den linken sunnitischen Nasseristen und linken Drusen sowie der größten Partei der christlichen Maroniten – dem Free Patriotic Movement (FPM) des Ex-Generals Michel Aoun – in den Umfragen zuletzt 58% der Libanesen hinter sich hatte. Das Regierungslager, das sich selbst gern als “die Mehrheit” bezeichnet, kommt hingegen nur auf 42%. Beide Seiten mobilisierten bei Massendemonstrationen mehrere Zehntausend (die rechten nach der Ermordung von Industrieminister Pierre Gemayel) bzw. hunderttausend Menschen (Hisbollah, Amal, PCL , FPM etc.), was angesichts einer Gesamtbevölkerung von etwas mehr als 3,8 Millionen enorm ist, auch wenn die offiziellen Zahlen (“800.000” bzw. “mehr als eine Million”) natürlich stark übertrieben sind. Da sich die Auseinandersetzung, aufgrund der massiven Unterstützung von USA und EU für die Sinora-Regierung vorerst in einer Patt-Situation befindet, fragte die Tageszeitung des italienischen Industriellenverbandes “Il Sole – 24 Ore den stellvertretenden Generalsekretär der Hisbollah, Naim Kassem, nach der Zielsetzung seiner Partei und seiner Einschätzung der weiteren Entwicklung. Das Interview erschien am 12.12.2006.

 

Interview mit Naim Kassem, Nummer 2 der Hisbollah:

 

“Nein zum Mittleren Osten der USA”

 

von Ugo Tramballi

 

“Wir sind zu einem Kompromiss bereit, sagt Scheich Kassem mit dem zufriedenen Blick desjenigen, der einen Sieg auskostet. Mit “der Mutter aller Demonstrationen” als Beleg ihrer Stärke bei der am Sonntag mehr als eine Million Libanesen auf der Straße waren, ist die Hisbollah großzügig geworden. Kassem scheint auch nicht mehr an den Bemühungen des “Bruders” Ahmadinedschad interessiert zu sein, den Holocaust nicht anzuerkennen: “Es ist immer eine Tragödie, wenn menschliche Wesen getötet werden.” Naim Kassem (53 Jahre) hat nicht nur das Schicksal von Fouad Siniora, seiner Regierung und des Libanon in seiner Hand. Er ist, hinter Hassan Nasrallah, der Zweite im Kommando einer Bewegung, die die militärische Avantgarde der anti-amerikanischen Front im Mittleren Osten darstellt, die die Sicherheit unserer Soldaten im Südlibanon beeinflussen, über Krieg und Frieden mit Israel und die Freilassung ihrer Geiseln entscheiden kann. “Wir wollen nicht, dass der Libanon Teil dessen wird, was die Amerikaner den Neuen Mittleren Osten nennen”, erklärt Kassem.

 

Ein Mercedes mit verhängten Scheiben bringt uns aus dem Zentrum Beiruts in die Peripherie, in ein Büro zwischen den zerstörten Häusern, ins Epizentrum der israelischen Bombardements im vergangenen Sommer. Eine lange Wartezeit, ein Tee, eine Durchsuchung, dann eine weitere Fahrt an Bord eines BMW, von dessen Rückbank aus man nichts sehen kann, auf jeder Seite von schwarzen Vorhängen umgeben. Für die israelischen Geheimdienste ist Kassem ein Ziel. Nach ungefähr 20 Minuten öffnet sich die Wagentür in einem anderen Kellergeschoss. In einem, von anderen nicht zu unterscheidenden Stockwerk eines unbekannten Hauses und einem Büro ohne Wiedererkennungseffekte erscheint der Mann, der vor 20 Jahren die Hisbollah zusammen mit Nasrallah gegründet hat (und sein Nachfolger würde, wenn ihm etwas passieren sollte), endlich mit einem Lächeln. Vor zehn Tagen hatte die islamische Bewegung die Leute auf die Straße gebracht, weil sie – zusammen mit ihren Verbündeten – ein Drittel der Posten im Ministerrat kontrollieren will. Die notwendige Stärke, um gegen jede Entscheidung ihr Veto einzulegen. Das Angebot Amre Mussas, des Sekretärs der Arabischen Liga, lautet: dieses Drittel zuzugestehen, aber einen weiteren Minister vorzuschlagen, der das Zünglein an der Waage und eine unabhängige Persönlichkeit sein sollte, die sowohl von der Mehrheit als auch von der Hisbollah akzeptiert wird. “Andere Vorschläge als diesen akzeptieren wir nicht”, bekräftigt Kassem.

 

Ihr werdet keinen anderen Ministerpräsidenten als Fouad Siniora fordern?

 

“Das ist keine entscheidende Frage. Wir sind für jede Lösung offen. Wenn die Amerikaner sich nicht eingemischt hätten, wäre die Krise bereits gelöst. Die Zeiträume werden länger, weil die USA, einige arabische Staaten und – was das Schlimmste ist – Israel Siniora kontrollieren.”

 

Man fürchtet, dass das Ziel der Hisbollah die islamische Republik ist.

 

“Wir müssen Theorie und Praxis unterscheiden. Als Moslems glaube ich theoretisch an einen moslemischen Staat. Ich muss aber berücksichtigen, woran die Leute um mich herum glauben. Der Libanon ist sehr unterschiedlich. Das ist seine Stärke. Wir haben niemals eine islamische Republik verlangt, sondern die Beteiligung an der Regierung entsprechend der Verfassung.”

 

Iran, Syrien, Hisbollah, Hamas. Können wir das eine Allianz nennen?

 

“Es sind die Amerikaner, die einen Plan für die Region haben. Condoleezza Rice war da sehr deutlich: Sie hat es den Neuen Mittleren Osten genannt. Der libanesische Widerstand hat die Israelis hier raus gejagt. Auch syrisches Territorium ist besetzt und daher unterstützen die Syrer Libanesen und Palästinenser. Der Iran ist gegen die amerikanischen Bestrebungen und ruft die Leute dazu auf, Widerstand zu leisten. Das ist keine Allianz, sondern eine Reaktion, ein Widerstand gegen die amerikanische Politik.”

 

Der Südlibanon ist Ihr Schlachtfeld. Ist die UNIFIL-Mission, der Hisbollah zufolge eine befristete?

 

“Das ist sie per Definition. Aber für uns ist das keine bedeutende Angelegenheit. Wir werden sehen. Eure Rolle besteht darin dem Libanon und seiner Armee zu helfen unsere Grenzen zu sichern und die Rückkehr der Israelis zu verhindern. So sehen wir die UNIFIL, auch wenn Israel verlangt, dass Ihr den Widerstand erstickt.”

 

Wenn eine Patrouille, sagen wir eine italienische, Waffen findet oder auf Bewaffnete trifft, wie sollte sie sich dann Eurer Ansicht nach verhalten?

 

“Sie muss sich an die libanesische Armee wenden. Sie hat nicht das Recht irgendjemanden festzunehmen. Sie informiert die Armee, die die Festnahmen vornimmt. UNIFIL kann sich im Süden nicht eigenständig bewegen.”

 

Am Sonntag haben Sie in Beirut auf der Kundgebung gesprochen und gesagt, dass der Widerstand weitergeht. Wie sieht Eure Präsenz im Südlibanon aus?

 

“Wir verfügen über keine bewaffnete Präsenz südlich des Litani-Flusses. Wir sind da unten jedoch stark verankert. Genauso wie während des Krieges mit Israel. Nicht wir werden es sein, die militärische Aktionen durchführen. Falls aber irgendjemand den Waffenstillstand verletzt, werden wir absolut bereit sein zu reagieren.”

 

Ein UN-Bericht besagt, dass die Hisbollah “schwer aufgerüstet” hätte.

 

“Wir reden nicht über militärische Geheimnisse. Die UNO sollte ihre Informationen kontrollieren und aufmerksam und ausgewogen sein. Ich füge nur hinzu, dass der Widerstand sehr lebendig ist. Alles andere ist unsere Angelegenheit.”

 

Im Südlibanon wurden auch Infiltrationen der Al-Qaida signalisiert.

 

“Davon weiß ich nichts. Aber es gibt Leute, die Al- Qaida angeschlossen sind. Ob sie aktiv sind oder nicht, kann ich nicht sagen.”

 

Aber wenn es so wäre, würdet Ihr sie dann aufhalten?

 

“Warum? Der Süden steht unter der Kontrolle der libanesischen Armee und der UNIFIL. Die sind die Verantwortlichen, nicht wir.”

 

Stimmen Sie dem zu, was viele Israelis denken: dass der Krieg im Sommer nur die erste Runde war?

 

“Sie wollen sehr stark eine weitere. Sie wollen die strategische Abschreckung zurückerlangen, die sie in 50 Jahren aufgebaut und durch unseren Sieg verloren haben. Aber die Wünsche und die Fähigkeit sie zu verwirklichen, sind zwei verschiedene Dinge. Wir wollen den Krieg nicht wieder aufnehmen. Wir waren immer in der Defensive. Wir haben nie angegriffen.”

 

Wollen Sie damit sagen, dass Ihr keine weiteren israelischen Geiseln nehmen werdet?

 

“Genug mit diesen Operationen. Jetzt wäre ein Gefangenenaustausch richtig. Die Israelis tun so als seien sie an einem Übereinkommen nicht interessiert, aber sie wissen, dass wir bis zum Letzten gehen werden.”

 

Sind die beiden israelischen Soldaten, die Ihr gefangen genommen habt, denn wenigstens noch am Leben?

 

“Wir geben diese Informationen nicht an die Presse. Es finden Kontakte statt und diejenigen, die es wissen müssen, kennen die Situation der beiden Soldaten. Nein, es gibt keine direkten Kontakte zu den Israelis. Wir verhandeln mit den Abgesandten von Kofi Annan.”

 

 

Interessant dürfte für Linke hierzulande auch eine Kurzmeldung sein, die die pro-westliche, englischsprachige libanesische Tageszeitung “Daily Star” am 28.12.2006 brachte:

 

Kommunistischer Führer trifft sich mit Nasrallah

 

Das Politbüro der Libanesischen Kommunistischen Partei (LCP <bzw. im Französischen: PCL> http://www.lcparty.org/) gab am Mittwoch bekannt, dass ihr Vorsitzender <Dr. Khaled Haddadeh> jüngst private Gespräche mit dem Generalsekretär der Hisbollah, Sayyed Hassan Nasrallah führte.

 

In einer Stellungnahme erklärt die LCP, dass die Vereinigten Staaten unerträglich geworden seien und “die Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon gefährden”. Die Stellungnahme fügt hinzu, dass das Verhalten der Regierung von Ministerpräsident Fouad Siniora während des Krieges im Juli / August diese – zusammen mit ihrem “armseligen Vorgehen” beim Wieder-ins-Laufen-bringen des Landes – “vollkommen nutzlos machen”.

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung aus dem Italienischen bzw. Englischen und Einfügung in eckigen Klammern:   * Rosso

 

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html) werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der Verantwortung des Gewerkschaftsforums.

 

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch  oder  gewerkschaftsforum-H@web.de