* Rosso:
Der 87jährige Physiker Haider Abdel Shafi (Kurzbiographie unter: http://www.geocities.com/lawrenceofcyberia/palbios/pa03000.html)
ist nicht nur einer der wenigen noch lebenden Mitbegründer der PLO, sondern
auch eine der Galionsfiguren der palästinensischen Linken. Bei den Präsidentschaftswahlen
der Autonomiebehörde im Januar 2005 sollte er ursprünglich als gemeinsamer
Kandidat einer breiten Front der Linken (von der sozialdemokratischen FIDA,
über die zivilgesellschaftlich gewendete ehemalige KP – jetzt PPP – und die
linkssozialdemokratische DFLP bis hin zur revolutionär-marxistischen PFLP)
antreten, verzichtete dann jedoch aus Gesundheitsgründen, womit die (inhaltlich
sehr heterogene) Front nicht zustande kam. Die in der Regel strikt prozionistische Tageszeitung der ehemaligen italienischen
KP und jetzt ihrer Haupterben (der Linksdemokraten – DS), „l’Unità“ brachte am 22.10.2006
das folgende Interview mit Haider Abdel Shafi zu den
innerpalästinensischen Auseinandersetzungen. Wobei die Tatsache, dass Shafi der Fatah letztlich doch näher steht (und dabei die
immer stärkere Instrumentalisierung der Fatah als Hilfssheriff seitens der EU
und USA offenkundig unterschätzt) für die Veröffentlichung in der
DS-Tageszeitung förderlich gewesen sein dürfte.
Haider Abdel Shafi: „Europa beschwört
in Gaza die Somalia-Gefahr herauf“
Umberto
De Giovannangeli
„Gefängnisse
gibt es in Gaza mehr als eines. Es gibt das von Israel mit Waffengewalt
aufgezwungene physische Gefängnis. Aber es gibt auch ein anderes ‚Gefängnis’
und auch das ist erstickend: Es ist das ‚Gefängnis’ der Ohnmacht, zu der ein
Volk von einer Leitungsklasse gezwungen wird, deren Mission gescheitert ist.“ Hier spricht der „große Alte“
von Gaza: Haider Abdel Shafi, einer der Gründer der
PLO, Vater der palästinensischen Demokratie, ehemaliger Chef der PLO-Delegation
auf der Madrider Konferenz von 1991 und derjenige, der die erste
palästinensische Delegation bei den Verhandlungen in Washington leitete.
In den
Straßen von Gaza wird weiter geschossen und gestorben. Und nicht nur von
israelischer Hand. In den Straßen von Gaza vollzieht sich die Abrechnung
zwischen Hamas und Al Fatah: „Das Chaos kann zum Bürgerkrieg führen“,
stellt der PLO-Gründer mit Sorge fest. „Die Waffen maßen sich an die
politischen Dispute zu lösen. Das ist ein Wahnsinn. An diesem Punkt muss dem
Volk wieder das Wort erteilt werden – durch eine Volksabstimmung über den so genannten
‚Plan der Gefangenen’. Gaza darf keine Gefangene der Machtfehde bleiben, in der
sich die Partei des Ministerpräsidenten (Ismail Hanija von der Hamas; Anm.d.Red.) und der des Präsidenten (Abu
Mazen, Al Fatah; Anm.d.Red.) gegenüberstehen.“
Der „große
Alte“ aus Gaza lanciert ein Alarmruf, dessen Bedeutung der internationalen
Diplomatie nicht entgehen sollte: „Die Gefahr“ – unterstreicht er – „ist
das Ende der politischen Autonomie der Palästinenser, jener Autonomie, die es Yasser
Arafat, wenn auch mit tausend Fehlern und Widersprüchen, zu sichern gelungen
war. Eine Autonomie, die durch unsere Fehler in die Krise geraten ist, von der
israelischen Überheblichkeit / Unverschämtheit verletzt und von dem Machtwillen
bedroht wird, der jene arabischen und islamischen Regime animiert, die die
Absicht haben die Palästinafrage ‚selbst zu gestalten’ und sie für ihre
Machtinteressen zu nutzen.“
Shafi
kritisiert auch die von der internationalen Gemeinschaft der Hamas-Regierung
auferlegten Diktate: „Gegenüber der Hamas“ – hebt er hervor – „muss
Europa Politik machen und das kann es nur, wenn auf die Widersprüche einer
Bewegung eingeht, die in ihrem Innern unterschiedliche Seelen beherbergt. Von
der Hamas sollte man heute nicht die Anerkennung Israels verlangen, sondern den
Verzicht auf die terroristische Praxis.“ Der PLO-Gründer sieht die vom
italienischen Außenminister <und
DS-Führungsmitglied>
Massimo D’Alema ins Spiel gebrachte Möglichkeit einer
Truppe internationaler Beobachter im Gaza-Streifen positiv. „Ich bin noch mehr
aus politischen als aus Sicherheitsgründen dafür“, sagt er. „Diese
Truppe würde von der palästinensischen Bevölkerung als greifbarer Ausdruck des
internationalen Willens gesehen die Palästinenser nicht Israel oder den
‚falschen’ arabischen ‚Freunden’ auf Gnade und Ungnade auszuliefern.“
Die
Schüsse auf den Wagen von Hanija, die bewaffneten
Zusammenstöße zwischen den Milizen der Hamas und der Fatah. Doktor Shafi, besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges in den
Palästinensergebieten?
„Diese
Gefahr wird von Tag zu Tag konkreter. Israel hat darauf gesetzt, wobei es sich törichterweise
die Illusion hingibt, dass das bewaffnete Chaos seine Sicherheit stärken würde.
Das exakte Gegenteil trifft zu. Eine ‚Somalisierung’
der Palästinensergebiete ist das Schlimmste, was sich Israel und die ganze Welt
wünschen kann.“
Diesem
Chaos liegt doch aber die Unfähigkeit von Hamas und Al Fatah zugrunde eine
Übereinkunft über eine Regierung der Nationalen Einheit zu finden.
„Es ist
schwer über eine neue Regierung zu diskutieren, wenn ein Großteil der Minister
der amtierenden Regierung in den israelischen Knästen sitzt. Sie wissen, dass
ich niemals mit Kritik an der Arafat-Führung oder an der der Hamas gespart
habe. Ich fordere allerdings jeden auf, unter dem von Israel verhängten
ständigen Belagerungszustand über Politik zu reden. Dies vorausgeschickt, bin
ich der Ansicht, dass der einzig gangbare Weg der einer Rückkehr an die
Wahlurnen ist. Man muss dem Volk die Macht zurückgeben – mit dem Stimmzettel
als Waffe und nicht mit der Kalaschnikow. Ich denke an eine Volksabstimmung
über den so genannten ‚Plan der
Gefangenen’, der meiner Ansicht nach die Charakteristika eines gerechten
und ehrenhaften Friedens enthält…“
Was
sollte ein ehrenhafter Frieden konkret beinhalten?
„Einen
unabhängigen Staat, der diesen Namen wert ist, mit international garantierten
Grenzen und mit einem freien Zugang zu den Wasservorkommen. Einen territorial
geschlossenen Staat, ohne jüdische Siedlungen in seinem Innern, mit einer nicht
zufälligen Souveränität über Ost-Jerusalem. Haben Sie den Eindruck, dass das
radikale Forderungen sind? Meines Erachtens ist das für denjenigen, der bei
Worten wie Frieden und Gerechtigkeit nicht rot wird, das Minimum an Anstand.“
Israel
behauptet nicht über vertrauenswürdige Verhandlungspartner zu verfügen, mit dem
es sich an den Verhandlungstisch setzen könnte.
„Israel hat
bewusst darauf hingearbeitet, jede palästinensische Führung, die diesen Namen
wert ist, zu begraben. Der Unilateralismus war schon
immer das Leuchtfeuer seiner Politik. Die Resultate haben alle vor Augen.“
Hat das
Wort Dialog auf dem Boden Palästinas noch einen Sinn?
„Nur wenn
es mit dem Begriff Gerechtigkeit verbunden wird. Sonst bleibt es ein leeres
Wort, ohne Sinn.“
Am
Jerusalemtag hat der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad
im Namen des unterdrückten Palästinas seine Herausforderung an Israel lanciert.
„In meinem
langen Leben habe ich gelernt, diesen hochtrabenden Proklamationen zu
misstrauen, die für innenpolitischen Zwecke gut sind und dafür Israel noch
stärker zu bewaffnen. Es werden nicht die iranischen Ayatollahs sein, die die ‚Gefängnisse’ von Gaza aus den Angeln
heben.“
Vorbemerkung, Übersetzung
und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht für ein
Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und des
Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil der
Übersetzungsarbeit beider Gruppen übernommen hatte. Nach Auflösung der Antifa Uni (nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006; siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
erscheinen die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo. Die Übersetzungen der gewerkschaftsbezogenen
Texte erfolgen ab sofort nur noch im Namen und in der Verantwortung des
Gewerkschaftsforums Hannover.
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