* Rosso:
Wie bereits an anderer Stelle betont,
ist Fausto Bertinotti (67) auch als Präsident
der italienischen Abgeordnetenkammer (und damit dritthöchster Repräsentant des
NATO- und G8-Staates Italien!) der entscheidende Mann bei Rifondazione
Comunista (PRC). Er ist es, der die politische Linie
vorgibt und die Partei zu immer neuen „Wenden“ nach rechts, auf die
ausgetretenen Pfade der Sozialdemokratie scheucht, um der herrschenden Klasse
und einigen wechselwilligen Linksdemokraten die vollkommene Systemimmanenz und das
„Verantwortungsbewusstsein“ Rifondaziones unter
Beweis zu stellen. In einem langen Interview für die vom PRC herausgegebene
Tageszeitung „Liberazione“ vom 26.2.2007
erklärte er dem, von ihn selbst (gegen innerparteilichen Widerstand)
eingesetzten, Direktor des Parteiorgans, Piero Sansonetti,
die neuesten Leitlinien und lieferte – als echter „Praktiker und Theoretiker
der gesellschaftlichen Alternative“ – natürlich auch gleich den dazu
gehörigen ideologischen Überbau. Große Worte, bombastische Phrasen und magere politische
Inhalte sind dabei – vom marxistischen Standpunkt aus betrachtet – wie immer
garantiert. Aufschlussreich für den weiteren Weg der größten Partei der sog. „radikalen
Linken“ Italiens sind Bertinottis Aussagen
allerdings allemal. Aber auch eine unfreiwillige und viel sagende Situationskomik
wird mitunter geboten. Und statt dem Kapital, dem Kapitalismus oder der
Bourgeoisie (die im gesamten Interview nur einmal, ganz am Ende, in der
nebulösen Form der „starken Mächte“ vorkommen) hat Bertinotti
einen neuen Hauptfeind entdeckt: „die Antipolitik“. Das strategische
Ziel ist daher nun nicht mehr ein irgendwie gearteter „Sozialismus“ oder
gar „Kommunismus“, sondern die Rettung „der Demokratie“ vor der „Antipolitik“,
die in erster Linie dadurch erfolgt, dass man „die Politik“ und „die
politische Kultur rekonstruiert“. In besonders radikalen Momenten darf es
sogar eine diffuse “linke politische Kultur“ sein. Doch lauschen wir den
Worten des Meisters:
Interview:
Interview
mit dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer: „Unterbrechen wir die Diskussion
darüber, wie wir uns organisieren und beginnen wir mit der über das ‚Was
tun?’.“ „Die radikale Linke muss in der Lage sein das Problem der
Effizienz zu lösen, also das der Einheit. Nur so kann sie sich mit dem
reformistischen Flügel auseinandersetzen.“
Bertinotti: „Gegen die Antipolitik eine linke
politische Kultur rekonstruieren!“
von Piero
Sansonetti
Bertinotti, was geschieht derzeit in der
italienischen Politik? Welches Urteil fällst Du über den Kampf, der das Land in
den letzten Tagen erschüttert hat? Wie siehst Du die Lösung, die für die Krise
gefunden wurde. Wie denkst Du über das Verhalten…
Bertinotti lässt mich die Frage nicht beenden, unterbricht mich
und erklärt mir, dass er sehr zufrieden ist ein Interview mit „Liberazione“ zu machen und dass er darin über Politik,
die Zukunft der Linken, über die Bewegungen und die Ideen sprechen wird, die
notwendig sind um die großen Schlachten dieser Jahre zu schlagen. Er hat jedoch
nicht die Absicht, näher auf die Diskussionen über die parlamentarischen
Kräfteverhältnisse und die institutionellen und Regierungsbeschlüsse
einzugehen. Es sei nicht korrekt, wenn sich der Präsident der
Abgeordnetenkammer in einem so heiklen politischen Augenblick mit einem
Interview für die Zeitung seiner Partei in den parlamentarischen Kampf
einmischen würde.
Einverstanden. Ich versuche
auch gar nicht darauf zu insistieren. Ich ändere die Frage.
Bertinotti, die radikale Linke ist in dieser Phase gezwungen
von der Utopie zur Realpolitik überzugehen. Läuft sie nicht in irgendeiner
Weise Gefahr ihre Natur zu verändern, die Haut zu wechseln?
„Die Utopie sind wir in
unserer Geschichte immer kritisch angegangen. Wir haben sie nicht abgelehnt und
nicht verherrlicht. Die Utopie ist eine Kategorie, die in einigen Phasen der
Geschichte der Arbeiterbewegung entscheidend war. Sie ist sehr stark in der
allerersten Phase. Dann wird sie vom wissenschaftlichen Sozialismus, von Marx,
in gewisser Weise in Frage gestellt. Und in der nachfolgenden Periode geradezu
hinweggefegt als die ‚deterministische’ Vorstellung die Oberhand gewinnt
und man der Meinung ist, dass der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus
quasi ein Automatismus sei, eine natürliche und unvermeidliche historische
Tatsache – so wie es der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus war. Man
behauptet, dass das sozialistische Ergebnis in die natürliche Entwicklung der Produktivkräfte
eingeschrieben sei. Wann wurde die Utopie wiederentdeckt? Jedes Mal, wenn man
sich der ‚harten Antwort der Geschichte’ bewusst wird. Vor allem am Ende
des gerade abgeschlossenen Jahrhunderts als die Geschichte auf die Illusionen
des 20.Jahrhunderts, auf die konkreten Fehler und auf die konkreten Schrecken
antwortete. Da wird die Utopie zu einer Gelegenheit, zu einer Chance für die
Rekonstruktion, um den Diskurs nicht zu beenden, um eine Perspektive offen zu
halten…“
Cesare Luporini sprach `89 vom Sozialismus als Horizont, an dem
fest zu halten sei…
„Exakt. In jener Phase besaß
die Utopie eine sehr wichtige Rolle. Ich denke jedoch, dass die
Arbeiterbewegung immer dieses Verhältnis zur Utopie gehabt hat. Sie hat sie als
eine Möglichkeit aufgefasst, um den Horizont zu erforschen, als ein Mittel der
Politik und der Forschung / Suche, aber niemals als Zweck, als ausschließlicher
Inhalt der Politik. Dann kommt die Globalisierung und die Globalisierungskritik
und die Utopie ändert – so glaube ich – noch einmal ihre Natur, regeneriert
sich, wird konkret.“
In welcher Weise wird sie
konkret?
„Sie verwandelt sich in die
Kritik des Kapitalismus. Wie lautet die berühmteste Parole der alternativ globalisierenden (altermondialista)
Bewegung?“
Eine andere Welt ist
möglich…
„Genau. Untersuch’ die drei
Worte! Das erste (‚eine andere’) repräsentiert die Veränderung, die
Alter-native, die Umkehrung einiger Fixpunkte der Gesellschaft. Mit unserer
alten Sprache könnten wir sagen: den ‚Ausstieg aus dem Kapitalismus’.
Das zweite Wort (‚Welt’) behauptet den globalen, weltweiten Charakter
der Politik. Und das dritte Wort ist die Definition der Konkretheit:
‚möglich’. Wir befinden uns im Realen, im Realistischen. Wir sind
außerhalb des Traums.“
Gibt es nicht einen
schwer zu schlichtenden Gegensatz zwischen dieser konkret-utopischen Linie der
Linken und den Regierungserfahrungen, d.h. der
Realpolitik?
Bertinotti denkt ein wenig nach. Sammelt die Gedanken und sucht
nach den richtigen Worten.
„Schau, ich unterschätze die
Regierungserfahrung, die in Italien und in anderen
westlichen Ländern stattfindet, durchaus nicht. Ich glaube allerdings nicht,
dass man die Politik daran ‚aufhängen’ kann. Das heißt die ‚konkrete Utopie’, von der wir sprachen,
an der Eroberung der Regierung aufhängen. Die Regierungsbeteiligung ist eine
sehr wichtige Erfahrung für die Linke. Wenn sie aber zum Kompass, wenn sie zum
Wesentlichen, wenn sie das Refraktionsprisma wird, durch das man die Realität
betrachtet, dort die eigenen Analysen definiert und fixiert, dann begreift man
nichts mehr, dann verliert man die Orientierung.“
Ich mache einen Einwand:
Die große öffentliche Meinung ist meinem Eindruck nach mit zwei starken und
zueinander in Gegensatz stehenden Überzeugungen aus dem 20.Jahrhundert
herausgekommen. Die erste lautet, dass Einen die Regierungen anekeln. Die
zweite lautet, dass die Regierung das Einzige ist, was in der Politik zählt und
dass die Politik ihren Abschluss in dem Wettstreit findet, wer sie erobert. Ist
es nicht so? Und wenn dem so ist, ist es dann nicht falsch den Wert des An-der-Regierung-Seins zu unterschätzen?
„Ich denke, dass das, was Du
sagst, stimmt. Aber es ist nur eine Feststellung des Standes der Dinge. Dann
muss man begreifen, was vor sich geht. Die enorme Bedeutung, die die
Regierungen in Bezug auf die öffentliche Meinung einnehmen, ist der Schwäche
der Politik geschuldet. Europa erlebt heute eine Krise der Politik. Und
innerhalb dieser Krise gibt es eine Krise der Politik der Linken. Und diese
Krise der Linken ist Teil einer noch größeren Krise, die die Krise der
Demokratie ist. Die Schwächung der großen Subjekte der Massenpolitik (der
Parteien, Gewerkschaften, d.h. der großen sozialen Koalitionen, der Politiken,
der Ideen, der Gemeinden) hat auf der fast verwüsteten, öffentlichen Bühne nur
zwei Protagonisten übrig gelassen: die öffentliche Meinung und die Regierung.
Nur, die Eine gegenüber der Anderen. Ohne Vermittlungen, ohne Scharniere, ohne
kollektive Organismen, die in der Lage sind Politik zu produzieren und die
Forderungen und Konflikte in Politik zu verwandeln. Die Regierung besitzt an
diesem Punkt nicht mehr ihre Bedeutung als ‚Produzentin von Werken’ –
und wird nicht mehr nach dem beurteilt, was sie tut – sondern vergrößert,
aufgrund des Fehlens anderer Subjekte der Politik, das eigene Erscheinungsbild
und das eigene Gewicht ins Gigantische. Sie ersetzt sie, weil gegenüber dem
Volk nur noch sie allein da ist. Wenn wir diesen Stand der Dinge akzeptieren,
dann akzeptieren wir den Sieg der Antipolitik.“
Weil die zentrale Rolle
der Regierungen Antipolitik bedeutet?
„Weil die Antipolitik – in
Ermangelung der Politik – zum Beziehungsmechanismus zwischen Regierung und öffentlicher
Meinung wird. Sie ersetzt die Entfaltung des Konflikts. Willst Du den quasi
arithmetischen Beweis dafür? In Europa haben die amtierenden Regierungen in
allen Wahlkämpfen der letzten Jahre verloren. (Die einzige Ausnahme ist Blair,
der jedoch eine beträchtliche Verringerung seiner Wählerschaft erlebt hat.)
Erinnerst Du Dich an Aznar vor den Wahlen? Er
erschien unschlagbar, ein Halbgott. Er war zum Symbol des modernen und
siegreichen Regenten geworden. Er ging in die Wahlen und verlor. Erinnerst Du
Dich an Schröder? Er war eine absolute Macht, regierte mit einer enormen
Machtfülle. Als er den Eindruck gewann, dass Oskar Lafontaine sein Wirken
stören könnte, jagte er Lafontaine aus der Regierung. Dann ging es zu den
Wahlen und er hat verloren. Und genauso Jospin und ebenso Berlusconi und alle
Anderen.
Warum? In Ermangelung politischer
Organismen nimmt die Vollmacht und die Antipolitik zu.
Das sind zwei Seiten ein und desselben prekären Gleichgewichtes. Bestehend aus
drei schon vorbestimmten Passagen: Delegierung, Resignation und dann Verriss /
Abbruch. Das ist ein sehr riskantes Gleichgewicht, weil es die Demokratie
verschlingt, über den Haufen wirft. Und die Antipolitik fängt mittlerweile an
in die Politik einzusickern, sie zu durchdringen, sie zu erobern.“
Zum Beispiel im Berlusconismus?
„Gewiss, das ist ein
deutliches Beispiel. Ich sehe die Antipolitik allerdings auch in der
Mitte-Linken um sich greifen. Um diplomatisch sein, sprechen wir nicht von
Italien. Schauen wir nach Frankreich: In Ségolène
Royals Wahlkampf gibt es sehr viel Antipolitik, gibt es einen sanften
Populismus. Ségolène Royal hat die Kritiken der
Antipolitik und die Forderungen der Antipolitik aufgegriffen und sie
übernommen. Verstehst Du? Die Antipolitik schreitet voran, weil sie einige
Elemente der Kritik an der Politik enthält, die absolut modern und begründet
sind und sich auf der Höhe der Krise der Politik befinden. Diese Situation
erzeugt zunehmende Krisen der Demokratie.“
Was ist der Grund für
dieses Umsichgreifen der Antipolitik?
„Ich glaube, dass diese
Gesellschaft, die eine ungerechte Gesellschaft ist, Konflikt erzeugt. Dies
scheint mir eine feststehende, unbestreitbare Tatsache zu sein. Genauer gesagt
erzeugt sie Konflikte (im Plural): Arbeitskonflikte, Konflikte zwischen den
Gemeinschaften <Communitys>,
Geschlechter- / Gattungskonflikte, berufliche Konflikte, korporative Konflikte,
identitäre… Diese Konflikte produzieren keine Siege
oder Niederlagen, je nach dem, wer regiert. Es gibt eine Autonomie zwischen
Konflikten und Regierungen. Eine Bewegung gewinnt oder verliert nicht kraft der
Regierungssituation, in der sie agiert. Was nicht passiert ist, dass diese
Bewegungen Errungenschaften anhäufen können. Das heißt das Problem ist, dass
diese Bewegungen, wenn sie gewinnen, nicht ‚erringen’, sondern einfach
nur ‚verhindern’. Und damit gelingt es ihnen, durch ihre Erfolge, nicht
Demokratie zu schaffen. Sie agieren innerhalb der Krise der Demokratie, bieten
durch ihre Kämpfe einen Ausgleich zur Krise der Demokratie, produzieren aber
keine Antikörper zur Krise der Demokratie. Das heißt es gelingt ihnen nicht,
politische Resultate des vorangegangenen Zyklus zu erzielen. Die Bewegungen des
vergangenen Jahrhunderts eroberten ‚Kasematten’ und riefen stabile
Veränderungen der öffentlichen Meinung hervor. Diese Bewegungen, die wir heute
haben, sind manchmal auch sehr stark und besiegen sehr mächtige Feinde,
schaffen aber keinen Common Sense und keinen Massenkonsens. Nun begreift
man, dass sich hier das Vakuum der Politik, das Fehlen von Subjekten auswirkt,
die in der Lage sind Sammelbecken dieser Forderungen und dieser Vorstöße und
auch dieser Errungenschaften ‚bei der Verhinderung’ zu bilden.“
Dieser Mangel ist, würde
ich sagen, keinen absoluter: Es gibt die radikale Linke, es gibt Rifondazione…
„Sie spielen eine sehr
wichtige Rolle. Sie erzielen auch viele Erfolge. Hier müssen wir jedoch von der
‚kritischen Masse’ sprechen, d.h. von der Möglichkeit eine Tendenz
hervorzurufen. In der radikalen Linken existiert noch kein Subjekt, das in der
Lage wäre es mit dieser Dimension aufzunehmen, die kritische Masse zu
erreichen. Dies provoziert eine andere Art von Konsequenz, die ich zu erklären
versuche. Es kommt vor, dass sich in Europa die traditionellen Konflikte
spalten, sich zweiteilen und ihr Wesen verändern. Wir erleben heute zwei
Gruppen von Konflikten. Eine Gruppe von Konflikten, die den Unterschied zwischen
rechts und links betreffen, die sehr deutlich sichtbar und sehr hitzig sind,
wenn sich die Linken in der Opposition befinden. Und die andere Gruppe, die den
Gegensatz zwischen ‚Oben’ und ‚Unten’ der Gesellschaft anbelangt,
d.h. zwischen Leitungsschicht und Basis und diese zweite Art von Konflikt ist
sehr viel stärker, wenn die Linke an der Regierung ist. Diese beiden Konflikte
überschneiden sich. Die Auseinandersetzung zwischen oben und unten wird zum
Vehikel der Antipolitik.“
Warum überwiegt der
Konflikt „Oben-Unten“, wenn die Linke an der
Regierung ist?
„Weil es den linken
Regierungen oftmals nicht gelingt sich die Stärke und den Druck der Bewegungen
zunutze zu machen. Dies schwächt den Rechts-Links-Konflikt ab, schließt ihn aus
dem Palazzo aus und lässt somit der anderen Art von Konflikt Raum.“
Auf welchem Weg kommt man
aus diesem Vakuum heraus?
„Es gibt keine andere
Möglichkeit als die Rekonstruktion organisierter politischer Subjekte. Damit es
aber dazu kommt, muss wieder eine politische Kultur und eine linke politische
Kultur geschaffen werden.“
Entschuldige, aber ich sehe die Möglichkeit linke
politische und kulturelle Subjekte zu rekonstruieren nicht, wenn das nicht
dadurch geschieht, dass verschiedene Teile, verschiedene Menschen und
verschiedene Sektoren der linken Politik wieder anfangen nachzudenken,
miteinander zu reden, sich auseinanderzusetzen und ein gemeinsames Denken zu
produzieren… Ich glaube nicht, dass eine einzelne Kraft der Linken existiert,
die in der Lage ist das Problem zu lösen, auf das Du hingewiesen hast.
„Ich sehe das genauso. Ich
glaube, dass es nur dann einen Ausweg aus dieser Krise gibt, wenn sich Kräfte
vereinen und das Problem der politischen Kultur sowie das des ‚Was tun?’
an die erste Stelle stellen. Man muss sich von dem lösen, was bislang gelaufen ist.
Das heißt vom organisatorischen Ingenieurswesen der Parteien, das nach dem
institutionellen Ingenieurswesen etc. kommt. In den letzten Jahren war es immer
so. Es gelingt der Politik nur daran zu denken, wie sie sich selbst beschreiben
und sich häuslich einrichten kann: Welches Wahlgesetz, welche
Parteiengeographie, welche Mechanismen der Aufteilung der Macht… Das Verhältnis
zu den Völkern, zu den Bewegungen und das Problem, welche Kultur notwendig ist,
um ein politisches und soziales Gesellschaftsprojekt in Angriff zu nehmen, bleibt außen vor. Ich fände es gut, wenn es den
verschiedenen Teilen der Linken gelänge, sich darauf zu konzentrieren, Ideen in
Bezug auf dieses Problem zu produzieren, anstatt Zeit damit zu verlieren neue
Schemata, neue Parteienarchitekturen usw. zu entwerfen.“
Wenn ich richtig
verstehe, dann sagst Du: Beenden wir die große Quälerei mit den neuen
Zusammenschlüssen oder Auflösungsprozessen der Parteien und konzentrieren wir
uns auf die Beziehungen zwischen Politik und Gesellschaft. Das heißt statt neue
Parteien zu schaffen, schaffen wir eine neue Politik…
„Ja, genau so. Unterbrechen
wir die Diskussion darüber, wie wir uns organisieren und beginnen wir mit der
über das ‚Was tun’. Und versuchen wir über das Thema der politischen
Kultur und der Krise des Verhältnisses zwischen Politik und Gesellschaft
nachzudenken, auch indem wir die traditionellen Parteien überqueren, ohne uns
die Frage zu stellen, wie wir sie überqueren, sondern indem wir uns fragen, wie
es uns gelingt uns zu einigen und welche Ideen und Lösungen wir produzieren
können.“
Gibt es innerhalb dieser
Argumentation eine neue Einheit der Linken?
„Ja, ich denke schon. Um die
Krise der Politik anzugehen, muss man sich die Frage stellen, wie die ‚kritische
Masse’ zu erreichen ist. Wenn Du dieses Thema umschiffst, wenn Du es auf
wer weiß wann vertagst, dann kannst Du ewig und sehr gut säen, aber es wird Dir
niemals gelingen, zu ernten. Diese kritische Masse muss transversal /
parteiübergreifend sein. Sie muss uns dazu zwingen, Politik querdurch zu
machen.“
Entschuldige, aber ich
verstehe nicht recht. Gib mir ein Beispiel !
„Nehmen wir die italienische
Außenpolitik. Sie wurde von der Regierung gemacht und davor noch in der
Endfassung des Programms entwickelt. Es ist eine Außenpolitik, die einen Sinn
hat und einen Beitrag zu Europa leistet. Sehr schön. Aber ich frage mich: Warum
können die Linken nur an der Außenpolitik der Regierung mitwirken und haben
(sie als Linke) keine gemeinsame Vorstellung von der Außenpolitik, von den
internationalen Beziehungen, vom Frieden? Und somit eine politische Kultur,
eine Vorstellung von der Welt und dann eine Vorstellung von Europa etc. etc.
Diese Argumentation gilt auch für den sozialen Konflikt oder für die Umwelt
oder den Geschlechterkonflikt oder die Rechte der Arbeit…“
Wie geht man in diesem
Rahmen das Verhältnis zwischen der radikalen und der reformistischen Linken an.
Sind diese Kategorien noch gültig?
„Auf der Ebene der
politischen Lager sind es noch reale Kategorien. Wenn wir diese beiden
Definitionen beibehalten, müsste man also in traditionellen Begriffen sagen:
Diese beiden Linken müssen sich treffen und sich auseinandersetzen. Wenn wir
uns jedoch auf der Ebene der politischen Kulturen und nicht der Lager messen,
sehen die Dinge ein bisschen anders aus. Schauen wir uns das mal an: Die
radikalen Linken besitzen auf dieser Ebene unterschiedliche Profile. Ich
glaube, dass mittlerweile das Profil derjenigen radikalen Linken dazu neigt die
Oberhand zu gewinnen, die sich in der Beziehung zu den Bewegungen dieses
Jahrhunderts neu begründet hat. Die orthodoxen Kulturen der Linken, die sich
noch im Gegensatz zur Sozialdemokratie herausgebildet haben, sind weniger bedeutend.
Die erfolgreiche radikale Linke ist jene, die sich mit dem Feminismus kreuzt,
mit dem Ökologismus etc. Was passiert im anderen
Lager? Die Reformisten besitzen eine große quantitative Stärke, die jedoch
durch einen Verlust der politischen Kultur gekennzeichnet ist. Die
sozialistischen Parteien in Europa beziehen sich zu einem Gutteil auf jene
Kultur, die Riccardo Bellofiore die sozialliberale
nennt. Was heißt das? Dass sie denken, dass die Korrektive zur Reduzierung der
sozialen Unzufriedenheit und zur Ausweitung der Rechte zustande kommen müssen,
ohne das Paradigma der Konkurrenzfähigkeit in Frage zu stellen. Auch wenn –
siehe Frankreich, siehe Fabius – ein Teil der stark linken Sozialdemokratie am
Leben bleibt. Die Tendenz ist jedoch die sozialliberale. Um ein politisches
Laboratorium der Linken fruchtbar machen zu können, müsste diese sozialliberale
Tendenz in irgendeiner Weise verringert werden. Nicht aus einem ideologischen Grund,
sondern weil die Tiefe der sozialen Krise, aber auch der politischen Krise,
bedeutet, dass Du heute eine Idee für das soziale, ökonomische und
demokratische Modell aufzeigen musst. Das ist es, was Europa braucht. Keine
Reparatur, sondern der Aufbau von etwas Neuem. Ich denke jedoch nicht an eine
Diskussion mit präventiven ideologischen Gartenzäunen. Die Unterschiede ergeben
sich nicht aus den ‚Identitäten’ der Diskussionsteilnehmer, sondern aus
den Diskussionsthemen. Wenn man festlegt, dass die Themen der Politik behandelt
werden (das Gesellschaftsmodell, Gesellschaftsprojekt) und nicht die Themen der
Administration, werden diejenigen ausgeschlossen, die die Politik als simplen
Verwaltungsakt auffassen, was der Schlüssel des Sozialliberalen ist. Heute kann
man die Linke so darstellen: die reformistischen Linken überwiegen auf der
Ebene der Organisationen, die radikalen Kulturen überwiegen auf der Ebene der
politischen Kulturen.“
Warum hat die radikale
Linke diese Stärke und diese Schwäche?
„Weil sie nicht in der Lage
ist einen Vorschlag zu machen, der das Problem der kritischen Masse berührt.
Deshalb sagt der Wähler oftmals: ‚Du hast Recht, aber ich wähle ihn.’ Es
stellt sich das Problem der Wirksamkeit der Politik. Das ist ein Hauptproblem
für die Bewegung und für diejenigen, die Bedürfnisse haben. Ich bin gezwungen
zu sagen, dass Du in Ordnung bist, es Dir allerdings nicht gelingt, mein
Problem zu lösen, auch wenn Du optimale Ideen für seine Lösung hast. Also wähle
ich den Anderen, der mein Bedürfnis vielleicht sehr schlecht beantwortet, aber
ich denke immer, dass er etwas tun könnte, wenn er darauf eingehen würde… Wenn
die radikale Linke nicht in der Lage ist das Problem der Wirksamkeit zu lösen
und damit das Problem der Einheit, die reformistischen Kräfte immer einen
Vorteil haben werden, weil sie eine Startvorteil besitzen, was die Zustimmung
anbelangt und somit ihrerseits das Problem der Einheit scheinbar bereits gelöst
haben.“
Bertinotti, im politischen Kampf dieser Phase ist klar, dass es
ein Problem gibt: die massive Intervention der starken Mächte, die in der
politischen Auseinandersetzung die Kräfteverhältnisse verdrehen. Was muss man
da tun?
„Man muss die starken Mächte
analysieren. Sie in ihrer Stärke wissenschaftlich analysieren und vermeiden zu
glauben, dass jene Mächte ‚Komplotte’ sind. Das sie Verschwörungen sind,
die vereitelt werden könnten. Dem ist nicht so. Das sind Kräfte, die in der
Kultur ihr Gewicht besitzen. Ich sehe nicht den Vertreter der starken Macht,
der zum Telefon greift und befiehlt. Nein, er hat das Terrain der Politik
gepflügt und erntet an einem bestimmten Punkt die Früchte, die Effekte <seines Tuns>. Man muss
also verstehen, wo ihre Stärke liegt. Es ist nicht nur so, dass sie die Macht
haben. Sie haben die Macht und neigen dazu hegemoniale Prozesse zu schaffen.
Sie sind Konstrukteure der öffentlichen Meinung, sie arbeiten am Konsens. Das
Problem ist, ihre Stärke herauszufinden und ihnen auf offenem Feld
entgegenzutreten. Ich würde sagen: ‚auf respektvolle Weise’. In dem
Sinne, dass ich die Grundlage ihrer Position anerkenne und ich gedenke sie zu
besiegen, weil ich in der Lage bin einen höheren, stärkeren Standpunkt
vorzuschlagen, der noch fähiger ist, Zustimmung zu vereinen. Ein Standpunkt,
der tendenziell in der Lage ist sich als universeller Standpunkt zu
präsentieren. Nur auf diesem Terrain gewinne ich. Nur wenn ich sie übertreffe.
Nicht wenn ich weine, protestiere und merkwürdige Regeln fordere. Manchmal habe
ich den Eindruck, dass wir es machen wie der Held Tecoppa:
Er verlangte, dass die Gegner im Fechtkampf unbeweglich stehen blieben und
darauf warteten, dass er sie durchbohrt…“
Anmerkung 1:
Cesare Luporini (geboren 1909 in Ferrara, gestorben 1993 in Florenz), italienischer
Philosoph und Existenzialist, der in Deutschland studierte und in Kontakt zu
Martin Heidegger stand. Professor für Philosophie an den Universitäten Pisa und
Florenz. Autor zahlreicher Bücher. Zu den bekanntesten zählt „Materialismus und Dialektik“ (Editori Riuniti, 1974) Entwickelte sich im Weiteren zum Marxisten. Stark
engagiert in den Bewegungen für das Recht auf Abtreibung, gegen Atomwaffen und AKW’s sowie der antiklerikalen Bewegung zur Abschaffung des
Konkordats. Langjähriges Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei
(PCI) und ihres Zentralkomitees. 1958 – 1963 Senator.
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Bertinottis Begeisterung für eine „transversale, quer zu den
Parteien verlaufende Politik“ ist mittlerweile so groß, dass er sie nicht
nur auf die Mitte-Linke anwenden, d.h. „quer“ zu Vatikan-treuen
christdemokratischen, linksliberal-antiklerikalen, sozialdemokratischen und
(nominell) kommunistischen Positionen praktizieren will. Nein, sie soll auch
Teile der zum Berlusconi-Lager gehörenden offiziellen Rechten einbeziehen, um
der schwächelnden Regierung Prodi
und ihrer „Reformpolitik“ ein stärkeres Fundament zu verschaffen. Wobei
der große Fausto nicht nur geflissentlich die Tatsache ignoriert, dass „transversale“
Politik eine uralte Krankheit der (bürgerlichen) italienischen Politik ist und
von der radikalen Linken sowie den bewussten Teilen der Arbeiterbewegung immer
– und zu Recht – als Form der „Sozialpartnerschaft“ und der „Klassenkollaboration“
kritisiert und verworfen wurde. Eine Politik, die im Übrigen sehr viel Schaden
angerichtet und wenig Nutzen gebracht hat (hier sei nur an die „Volksfrontregierung“ von 1944-47 und an
die informelle Große Koalition aus DC, PCI und liberalen Kleinparteien Ende der
70er Jahre im Rahmen des sog. „Historischen Kompromisses“ erinnert.)
Mit seiner neuesten „Wende“
dementiert sich Bertinotti selbst: Bislang galten ihm
„wechselnde Mehrheiten“ nämlich immer als absolut inakzeptabel und als
größtmögliches Übel, dem die „radikale Linke“ durch die Demonstration „ihres Verantwortungsbewusstseins“, d.h.
der Gefolgschaftstreue zu Prodi & Co., unbedingt
vorbeugen und auf eigene Positionen verzichten müsse. Denn solche Mehrheiten
würden Rifondazione den so teuer erkauften „Einfluss
auf die Regierung“ rauben. Jetzt sind solche „variablen Geographien“
freilich völlig in Ordnung, wie die FIAT-eigene
Tageszeitung „La Stampa“ am 5.3.2007
auf ihrer Website (http://www.lastampa.it/redazione/default.asp)
zu berichten weiß. Offenkundig hat hier die Staatsräson des Staatsmannes Bertinotti obsiegt. In freundlicher Verbindung mit dem
verbalradikalen Populisten und Präsidenten der Europäischen Linkspartei, Bertinotti, der Rifondazione Comunista (PRC) als italienischer ELP-Sektion
nun gelegentlich wieder die Chance zur Pseudoopposition eröffnen will. Auf dass
die Damen und Herren PRC-Abgeordneten und -Senatoren
beim nächsten Kriegs- oder Kolonialtruppeneinsatz ihre Hände in Unschuld
waschen können.
Regierung:
Bertinotti: „Ja zu
variablen Geometrien, wenn es das Okay der gesamten Mehrheit gibt“
Fausto Bertinotti
kommentiert den von Innenminister Amato gemachten Vorschlag, bei einzelnen
Maßnahmen variable Mehrheiten zu bilden. Trockenes „Nein“ von der CdL
ROM
Bei einigen politischen
Themen kann die parlamentarische Mehrheit nicht die Regierungsmehrheit sein.
Der Präsident der Abgeordnetenkammer, Fausto Bertinotti,
sagt dies in einem Beitrag während der Aufzeichnung der heutigen Folge der <linksliberalen Polittalkshow> „Otto e mezzò“
(Halb Neun) des Fernsehkanals „La7“ (Das 7.Programm). „Bei einigen
Themen“ – sagt Bertinotti – „kann man die
variablen Mehrheiten akzeptieren, wenn die gesamte Mehrheit der Ansicht ist,
dass diese Materie akzeptiert werden kann, ohne die Mehrheit selbst in Frage zu
stellen.“ Dieses System, unterstreicht der Präsident der Kammer jedoch, „darf
nicht als eine Keule benutzt werden. Wenn die variable Mehrheit zehnmal für
eine Erweiterung in die Mitte sorgt, ist das eine andere politische Mehrheit“.
Für den Präsidenten der Kammer sollten Gesetze mit variablen Mehrheiten vorzugsweise
auf dem Gebiet der institutionellen Fragen erlassen werden. „Es gibt ein
Themengebiet, auf dem variable Mehrheiten in der Natur der Sache liegen, zum
Beispiel beim Wahlgesetz. Es ist nicht zu verstehen, warum das ein von der
Regierungsmehrheit ausgearbeitetes Gesetz sein muss.“ Dem Präsidenten der
Abgeordnetenkammer zufolge handelt es sich um ein Thema, dass „eine
einmütige und transversale Anlage besitzt und tendenziell von allen akzeptiert
werden muss“.
Vorbemerkungen,
Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht
für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und
des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil
der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen
wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in
Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch oder gewerkschaftsforum-H@web.de