* Rosso:
In einem Hintergrundbericht zur Lage
in Palästina, in dem sie Akteure unterschiedlicher Provenienz zu Wort kommen lässt,
räumt die wichtigste Tageszeitung der Schweiz – die „Neue Zürcher Zeitung“
(www.nzz.ch) – am 19.12.2006 mit dem in den hiesigen bürgerlichen Medien und in
weiten Teilen der sich selbst für „links“
oder „linksradikal“ haltenden Szene
beliebten Vorurteil auf die Hamas sei eine Terrororganisation, die die
Vernichtung des armen, schwachen Israels im Sinne habe und daher als
Verhandlungspartner für einen langfristigen Frieden und eine Lösung der
Palästina-Frage nicht in Frage komme. Weshalb sie mit einem Finanzembargo (d.h.
dem Aushungern der palästinensischen Bevölkerung) in die Knie gezwungen und ihr
mit den vom Fatah-Vorsitzenden und Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud
Abbas (dem „Mann des Westens“)
angesetzten Neuwahlen nun endlich der Todesstoß versetzt werden könne. Dem
widerspricht die rechtsliberale und bisher alles andere als Hamas-freundliche NZZ nachdrücklich und plädiert
für eine gleichberechtigte Einbeziehung der Hamas. Bereits einen Tag zuvor (am 18.12.2006)
hatte sie in einem Kommentar die Idee vorgezogener Neuwahlen ad absurdum
geführt:
„Optimisten mögen ihre
Hoffnung auf die Neuwahlen setzen, die Abbas angekündigt hat. Nach den
bisherigen Enttäuschungen dürfte es unter den Palästinensern aber nicht mehr
viele geben, die sich von Wahlen etwas versprechen. Nach dem Zusammenbruch der
Behörde stellt sich auch die Frage, welche Institution überhaupt noch faire und
freie Wahlen durchführen kann. Dass der Präsident gegen den erklärten Willen
der Hamas einen Urnengang durchsetzen kann, ist eher unwahrscheinlich. Dazu
brauchte es ein minimales Einverständnis zwischen den beiden Seiten, von dem
heute nichts zu spüren ist.“ Doch Neuwahlen wurden nicht nur aus
pragmatischen Gründen verworfen, sondern auch eine schonungslose Kritik an
Abbas, Israel und der Politik der USA und „Europas“
(also der G7 !) geleistet, die man aus dem
bürgerlichen Lager so bisher kaum hörte:
„Abbas' Rede vom Samstag
war die Bankrotterklärung der Autonomiebehörde. Diese ist finanziell
ausgeblutet und politisch auseinandergebrochen (…) Sie wird in Zukunft noch weniger imstande
sein, ihre politischen und sozialen Aufgaben zu erfüllen, und dürfte immer mehr
in der Bedeutungslosigkeit versinken.
Dass der gewählte Präsident das gewählte
Parlament auflöst, ist auch eine Niederlage der Demokratie. Daran schuld sind
in erster Linie der Machthunger und der Starrsinn der Politiker in den
beiden Lagern sowie ihre Unfähigkeit, das Wohl des Volkes im Auge zu
behalten. Aber einige Schuld trifft auch die Aussenwelt.
Da ist einmal Israel, das die Führer der Palästinenser systematisch zu
schwächen versucht; Arafat wurde belagert und für unbedeutend erklärt, Abbas
wurde ignoriert, Parlamentarier und Minister wurden ins Gefängnis gesteckt und
einige Hamas-Führer umgebracht. Die USA und Europa haben den
Palästinensern die Demokratie als Allheilmittel für ihre Probleme empfohlen,
die von ihnen gewählte Regierung aber politisch und finanziell boykottiert und
damit die Spaltung der Behörde gefördert. Das Scheitern der Behörde ist auch
ein weiterer Nagel im Sarg der Oslo-Verträge, aus denen sie hervorgegangen war.“
Vielleicht
beruht diese plötzliche Neigung zu einer Kompromisslösung auch auf der Kenntnis
der Fakten, die der Chef des zionistischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Yuval Diskin, wenige Tage darauf in einer Kabinettssitzung
der Olmert/Peretz-Regierung
unterbreitete. Dort stellte er fest, die Chancen der Fatah heute abgehaltene
Neuwahlen zu gewinnen, seien „gleich Null“.
Vielmehr könne dabei die Hamas mit einem noch größeren Wahlerfolg rechnen als bei
den Parlamentswahlen Ende Januar 2006 (siehe: http://www.imemc.org/content/view/23354/1/).
Der palästinensische Präsident Abbas hat
Neuwahlen angekündigt und damit die Konfrontation mit der Regierung der Hamas
verschärft. Eine Alternative zu einem in Verhandlungen erreichten Einvernehmen
zwischen der Fatah und der Hamas sehen Beobachter aber nicht.
kw. Ramallah,
18. Dezember
«Das
palästinensische Problem wird auch mit Neuwahlen nicht gelöst. Unser Problem
sind die internationalen Sanktionen und die Besatzung», erklärt der palästinensische
Erziehungsminister Naser ash-Shair
die Ausrufung von Neuwahlen durch Präsident Abbas. Der eloquente Herr im grauen
Anzug, der mit einem ganzen Kontingent von Leibwächtern zum Gespräch in einem
Hotel in Ramallah erscheint, definiert die Ziele der
Hamas, welche die Mehrheit im Parlament hat, klar und deutlich: «Wir wollen eine Einheitsregierung, den
Stopp der Sanktionen und natürlich unseren Staat.»
Seit Monaten wird erfolglos über eine
Einheitsregierung verhandelt, was zu einer stetigen Zunahme der Gewalt zwischen
Anhängern von Fatah und Hamas auf der Strasse und schliesslich
zu Abbas' Ankündigung von Neuwahlen führte. Grund für das Scheitern der
Gespräche waren laut Shair die Posten des Innen- und
des Finanzministers, auf die sich die Hamas mit der Fatah nicht einigen konnte.
«Falls wir die Einheitsregierung nicht
zustande bringen, bedeutet dies eine grosse Gefahr
für das palästinensische Volk», ist sich Shair
bewusst und deutet auf die Möglichkeit eines Bürgerkriegs hin, den in den
besetzten Gebieten aber weder die Hamas noch die Fatah wollten. Nach Shairs Meinung hat die Hamas jedoch in den Verhandlungen
genügend Zugeständnisse gemacht. Keiner der Minister solle laut den bisher
getroffenen Abmachungen aus der ersten politischen Reihe der Hamas oder der
Fatah kommen, und Ministerpräsident Ismail Haniya
würde zurücktreten, sobald der Präsident einen neuen Ministerpräsidenten
gewählt habe.
Mit der Waffenruhe, auf die sich beide Parteien
in der Nacht auf Montag geeinigt haben, konnten die heissen
Gemüter vorübergehend etwas beruhigt werden. Shair
glaubt jedoch, dass die Situation längerfristig nur mit dem Beizug
internationaler Vermittler unter Kontrolle gebracht werden kann. Als Mediatoren könnten beispielsweise die Ägypter den beiden
Parteien aus der Blockierung helfen, in die sie sich manövriert hätten, meint
der Hamas-Minister.
Europa und die USA wollen der Hamas jedoch
so lange Gespräch und Unterstützung verweigern, wie diese Israel nicht
anerkennt und der Gewalt nicht abschwört. Für Shair
sind das Scheinargumente. «Israel ist
eine Tatsache, das wissen auch wir. Wir akzeptieren die Grenzen von 1967, was
will Israel mehr?» Solange Israel Besatzer bleibe und den
palästinensischen Staat nicht anerkenne, sehe die Hamas jedoch keinen Grund,
Israel offiziell anzuerkennen. Diese Karte will sie erst ausspielen, wenn sie
etwas als Gegenleistung erhält. Für den Frieden und eine lange Waffenruhe mit
Israel sei die Hamas aber bereit. Ob es Israel auch ist, daran zweifelt Shair.
Eine absolute Krise nennt Helga Baumgarten, deutsche
Politikwissenschafterin an der Universität Birzeit,
die gegenwärtige Situation. Die Fatah wolle die internationalen Forderungen
erfüllen, um endlich den Boykott zu beenden. Die Hamas weise dagegen darauf
hin, dass Arafat sich schon den internationalen Bedingungen gebeugt und dafür
nichts erhalten habe, ausser die Weiterführung der
Besetzung, den Ausbau der jüdischen Siedlungen und die Ausweitung der Gewalt.
Der Sturz der Hamas-Regierung, oder zumindest die Annahme der internationalen
Bedingungen, sei mit dem internationalen Finanzboykott nicht erreicht worden. Dass
die Strategie nicht aufgehen würde, habe die EU schnell erkannt und deshalb
im Juni den «temporären Mechanismus»
geschaffen.
Dank diesem Arrangement wurden bisher rund
112 Millionen Euro an der Hamas-Regierung vorbei in die palästinensischen
Gebiete geschleust. Mit diesem Geld wurden die Angestellten im sozialen Bereich
und die Angestellten der Autonomiebehörde mit niedrigem Lohn ganz oder
teilweise entlöhnt. Ausgeschlossen von den Zahlungen blieben die Funktionäre
mit Löhnen über 600 Dollar im Monat und die 80 000 Mitarbeiter der
Sicherheitsdienste. «Das Geld reicht zwar
nicht für den ganzen Regierungsapparat, aber die Angestellten erhalten doch
wieder ein wenig Geld. Die Menschen hier überleben sowieso nur noch Dank
internationaler Hilfe. So kann man lange weitermachen», meint
Baumgarten. Sie hält es deshalb für am wahrscheinlichsten, dass alles so
weitergeht wie bisher: «Es wird einfach
über eine Einheitsregierung weiter verhandelt. Das ist zwar unbefriedigend,
aber nur so kann eine nachhaltige Lösung gefunden werden.»
Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland
und heute Direktor des Zentrums für europäische Studien in Herzliya,
glaubt, dass Stabilität in den besetzten Gebieten nur über Verhandlungen mit
Israel erreicht werden kann. «Israel
sagt, dass man mit der Hamas nicht verhandeln kann, weil sie eine
terroristische Organisation sei. Das sind Ausreden. Wir haben von der PLO
dasselbe gesagt und dann doch verhandelt, wenn es günstig für uns war. Mit
der Hamas hat Sharon im Sommer 2005 heimlich verhandelt, um einen ruhigen
Abzug aus dem Gazastreifen möglich zu machen. Wichtig ist, dass ein
gegenseitiges Interesse besteht», sagt Primor.
Seiner Meinung nach will Israel nicht
Frieden, sondern Ruhe, und dafür brauche es die Hamas. Die Hamas sei in einem
besetzten Land an die Macht gekommen. Um die schrecklichen Lebensbedingungen
der Palästinenser zu verbessern und sich damit den politischen Kredit zu
erhalten, sei sie notgedrungen auf Israel angewiesen. Denn, so sagt Primor, Israel kontrolliere nicht nur das gesamte
Westjordanland, sondern auch den Gazastreifen und trage zur Finanzkrise der
palästinensischen Behörde bei, indem es die eingezogene Mehrwertsteuer
zurückbehalte.
Zum Verhandlungsangebot an die
Palästinenser, das der israelische Ministerpräsident Olmert
Ende November machte, meint Primor: «Olmert hat eingesehen, dass er ohne Verhandlungen keine
Ruhe bekommt.» Die Raketen auf Sderot seien auch
mit noch mehr Gegengewalt nicht zu stoppen. «Mit
den Palästinensern zu verhandeln, falls diese eine Koalitionsregierung bilden,
ist eine Möglichkeit, das Gesicht zu wahren, obwohl Olmert
weiss, dass die Hamas die Oberhand behalten wird. Zu
ernsthaften Verhandlungen wird es jedoch erst kommen, wenn die amerikanische
Regierung den nötigen Druck ausübt», erklärt Primor.
Nach dem verlorenen Libanon-Krieg und mit
seinen ständig wechselnden und sich oft widersprechenden Aussagen habe Olmert jedes Ansehen in der Bevölkerung und seine
politische Stärke verloren, meint der ehemalige Diplomat. Es bleibe die Frage,
ob Olmert deshalb überhaupt noch über die nötige
Legitimation und den Rückhalt in der Bevölkerung verfüge, um Verhandlungen
durchzuführen. Deshalb müsse die palästinensische Regierung die israelische
Bevölkerung zu überzeugen versuchen, dass es sich lohne, mit der Hamas zu
sprechen und nicht wie bisher auf die Europäer oder die arabischen Führer als
Erlöser des palästinensischen Volkes zu hoffen. Wie die Hamas übt sich auch die
israelische Regierung in der Abschiebung von Verantwortung, statt den Kreislauf
der Gewalt im Dialog zu durchbrechen zu suchen. Der stellvertretende israelische Verteidigungsminister Ephraim Sneh spricht behäbig unter einem Ölgemälde des
ermordeten Ministerpräsidenten Rabin in einem Konferenzsaal der Knesset über
die Strategie seines Landes. «Den Krieg
in Libanon haben wir verloren, weil das Verteidigungsbudget zu klein war.
Was wir brauchen, ist ein grösseres
Verteidigungsbudget, um uns wirksam zu wehren.»
Aber ist die israelische Politik der
Besetzung und der Vergeltungsschläge nicht kurzsichtig, weil sie die
palästinensische Bevölkerung radikalisiert? «Wir
befinden uns in einem Teufelskreis, den kann man nicht plötzlich stoppen. Je
härter wir sind, desto mehr Terrorismus bekommen wir, desto härter müssen
wir sein. Wir müssen die richtige Balance finden», sagt Sneh
und fügt an: «Aber mit der Hamas
verhandeln wir nicht. Wir wollen nicht, dass sie regieren. Das ist eine
Terrororganisation.»
Vorbemerkung
und Hervorhebungen: * Rosso
Der Name * Rosso steht
für ein Mitglied der Antifa-AG der Uni Hannover und
des Gewerkschaftsforums Hannover, das bereits in der Vergangenheit den Großteil
der Übersetzungsarbeit beider Gruppen geleistet hat. Nachdem sich die Antifa Uni nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober
2006 aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html)
werden die explizit politischen Übersetzungen von nun an in individueller
Verantwortung unter diesem Logo veröffentlicht. Die Übersetzungen der
gewerkschaftsbezogenen Texte erscheinen ab sofort nur noch im Namen und in der
Verantwortung des Gewerkschaftsforums.
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