Strukturprobleme des
Israel-Palästina-Konflikts
Moshe Zuckermann
Am 19. Oktober 2001 sprach Moshe Zuckermann, Professor für deutsche
Geschichte an der Universität Tel Aviv und u.a. Autor des Buches Zweierlei
Holocaust, an der Universität Leipzig über "Strukturprobleme des
Israel-Palästina-Konfliktes". Wir dokumentieren im Folgenden eine gekürzte,
transskribierte Version des freigehaltenen Vortrags.
Von der
Eskalation in die Sackgasse
(...) Einen Vortrag mit Aktualität zu
beginnen, ist ein heikles Unterfangen, denn die Aktualität verändert sich
ununterbrochen. Als ich eingeladen wurde, erschien es noch unvorstellbar, dass
ein israelischer Politiker von einem Palästinenser ermordet wird. War es
wirklich nicht vorstellbar? Oder war das evtl. ein Szenario, welches absehbar
schien, weil die Liquidierungspolitik gerade von Israel schon seit einigen
Monaten gezielt betrieben wird. D. h., könnte man sich nicht die Frage stellen,
ob diese erneute Eskalation der Auseinandersetzung in der Struktur des Konflikts
bereits angelegt war und jetzt natürlich einen neuen Kulminationspunkt erreicht
hat, der die gesamte Lage nicht nur verschärft und radikalisiert, sondern
zeitweilig in eine Sackgasse geführt hat?
Ich sage "zeitweilig in eine
Sackgasse geführt hat", da ich die These vertreten möchte, dass es im Endeffekt
dazu kommen wird, dass Israelis und Palästinenser, unter welchen Bedingungen
auch immer, sich zusammensetzen werden, um diesen Konflikt politisch beizulegen.
Damit will ich gesagt haben, dass es keine militärische Lösung für diesen
Konflikt gibt. Weder von israelischer noch von palästinensischer Seite. Weder
das israelische Militär ist heute dazu fähig, die Emanzipationsbestrebungen der
Palästinenser zu unterdrücken, noch sind die Palästinenser mit ihrem
"Freiheitsterror" fähig, Israel militärisch dazu zu zwingen, sich an den
Verhandlungstisch zu setzen. Das könnte dazu führen, dass in diesem Prozess
Drittkräfte mitwirken müssen. Die momentane Sackgasse kann aber nur kurzfristig
aufrechterhalten werden - früher oder später wird es dazu kommen, dass sowohl
die Palästinenser als auch die Israelis zu der notwendigen Einsicht gelangen
werden, das Problem lösen zu müssen. Der Preis, es nicht zu tun, ist zu
hoch.
Im Folgenden möchte ich erläutern, warum es im Moment noch nicht dazu
kommt, und warum es immer noch eine ganze Menge Hindernisse auf dem Weg zu einer
potentiell vorstellbaren Lösung gibt.
Der gescheiterte
Friedensprozess
Vor etwa einem Jahr entbrannte die zweite
palästinensische Intifada. Sie begann infolge eines gescheiterten
Friedensprozesses, einsetzend mit dem Oslo-Abkommen von 1993, kulminierend in
dem zweiten Camp David-Treffen, welches im Sommer 2000 stattfand. Die große
Frage, die sich seit einigen Monaten stellt, ist die nach den Gründen des
Scheiterns der Verhandlungen zwischen Barak und Arafat. Denn es ist vollkommen
klar, dass Barak ein Angebot machte, welches von keinem früheren israelischen
Politiker - weder von Peres noch von Rabin, geschweige denn von früheren
Politikern - an die Palästinenser gerichtet worden war. Das heißt, in relativen
Begriffen betrachtet, war es ein progressives Angebot. Im Vergleich zu
vorhergehenden enthielt es weit mehr Zugeständnisse. Und siehe da, Arafat hat
dieses Angebot zurückgewiesen. Ist der Mann dumm? Wie kommt es, dass er ein so
fabelhaftes Angebot ausgeschlagen hat?
Wie Sie wissen, ist der Mann nicht
dumm. Ob aber das Angebot so fabelhaft gewesen ist, müsste man untersuchen. Denn
eine Sache stellte sich in der letzten Intifada und auch schon in Camp David
heraus: die Tatsache nämlich, dass unter folgenden vier Bedingungen kein Frieden
zwischen Israel und Palästina möglich sein wird.
Die eine Bedingung ist, dass
Israel sich aus mindestens 98 % der seit 1967 besetzten Gebiete zurückzieht. Die
zweite Bedingung ist, dass nahezu alle, ich würde sagen 95 % der Siedlungen auf
diesen Gebieten der Westbank und des Gazastreifens abgebaut werden. Dritte
Bedingung: Dass die Jerusalem-Frage im Sinne einer Zweistaatenlösung angegangen
wird. Ergebnis davon wäre eine Hauptstadt Jerusalem sowohl für Israel als auch
für Palästina. Die vierte, vielleicht prekärste Bedingung ist die, dass Israel
zumindest symbolisch jenes an den Palästinensern begangene historische Unrecht
und damit auch das Rückkehrrecht der Palästinenser anerkennt. Dies wäre
Voraussetzung, um eine pragmatische Lösung für die Beilegung der
Flüchtlingsfrage zu schaffen. (...)
Alle diese vier Bedingungen kamen
letztendlich zur Sprache, aber unter einer Voraussetzung, die die ganze Affäre
zu einem im Grunde totgeborenen Kind hat werden lassen - nämlich die Tatsache,
dass Barak davon ausging, es handle sich um eine finale Lösung des Konflikts,
nach der die Palästinenser keine Ansprüche mehr an Israel stellen. Aus den vier
oben genannten Gründen konnten die Palästinenser aber das weitreichende Angebot
nicht als Abschluss aller Verhandlungen akzeptieren.
Barak war bereit, große
Teile der Westbank und des Gazastreifens zurückzugeben. Er war bereit, ein
Großteil der Siedlungen abzubauen, und es war sogar ein Kompromiss vorstellbar,
nach dem Siedlungen bestehen bleiben und den Palästinensern dafür Ersatzland auf
israelischem Kern-Territorium angeboten wird. Selbst bei der Jerusalem-Frage,
die für viele Israelis ein Tabu ist, gab es einen Fortschritt. Zumindest wurde
in die richtige Richtung verhandelt, denn das Tabu, dass Jerusalem nicht
angerührt wird, ist durchbrochen worden.
Eine historische Anerkennung des
Unrechts, welches an den Palästinensern begangen wurde, und eine symbolische
Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser wurde von Barak gleichwohl
nicht angeboten. Aber auch so wäre Arafat nicht fähig gewesen, Camp David unter
den von Barak vorgeschlagenen Bedingungen abzuschließen. Eine entsprechende
Konfliktlösung wäre in dieser Form von der Mehrheit der Palästinenser nicht
akzeptiert worden.
Unter diesem Gesichtspunkt hat der israelische Publizist
Uri Avneri die richtige Analogie formuliert, als er meinte: "Es ist zweifelsohne
so, dass jemand der 20 km gelaufen ist, mehr zurückgelegt hat, als jemand der 10
km gelaufen ist. Aber der Marathonlauf ist erst nach 42,195 km beendet." Es
waren noch gute 20 km zurückzulegen, bevor man dieses "fabelhafte" Angebot
Israels als ein für die Palästinenser annehmbares Angebot hätte apostrophieren
können. Darüber hinaus geht es aber letztlich nicht um die Frage, was die
Politiker in ihren Verhandlungsvorschlägen anbieten, sondern inwieweit diese
realiter durchsetzbar sind.
Ideologie und Struktur der israelischen
Gesellschaft
Die sogenannte israelische Friedensbereitschaft wurde
historisch noch nie real und praktisch auf die Probe gestellt. Die Rückgabe des
Sinai zählt hier nicht als plausibles Gegenargument, da Ansprüche auf die
ägyptische Halbinsel nie in ein ideologisches Programm eines israelischen
Politikers eingegangen sind. Mit anderen Worten: dieses Territorium wurde nicht
als originärer Bestandteil Israels begriffen. Dem entgegen sieht ein großer Teil
der israelischen Bevölkerung heute das Westjordanland als das Land der Urväter.
Die Nationalreligiösen sind diejenigen, die in überspannten Momenten sich zu der
Äußerung hinreißen lassen, eher sollte Tel Aviv zurückgegeben werden als Hebron,
die Stadt des Urvaters Abraham. Schon mit diesem Topos lässt sich ein zentrales
Strukturproblem, welches einer Friedenslösung auf israelischer Seite
entgegensteht, verdeutlichen. So wird eine politische Lösung für nicht möglich
gehalten, weil diese einem biblischen Mythos widerspräche. Der Mythos wird somit
zu einem entscheidenden politischen und ideologischen Argument.
Exkurs über den Zionismus
Um die israelischen Hindernisse zu
erklären, muss ein kleiner Exkurs in die hundertjährige Geschichte des
politischen Zionismus in die Erörterung einfließen.
Der Zionismus ist eine
Ideologie, die auf einem negativen Moment basiert. Gemeint ist damit, dass der
Zionismus, bevor er überhaupt wusste, was er wollte, sehr klar wusste, was er
nicht wollte. Ein zentrales Postulat des Zionismus ist von daher die sogenannte
"Negation der Diaspora", die Aufhebung des Exillebens der Juden in aller Herren
Länder. Sie wissen, dass die Juden nahezu 1900 Jahre überall in der Welt
verstreut waren. Der politische Zionismus ist allerdings vom sogenannten
religiösen Zionismus zu unterscheiden. Für den religiösen Zionismus heißt es,
eines Tages werde der jüdische Messias kommen und dann werden die Juden alle im
Land der Urväter versammelt werden.
Der politische Zionismus, der sich u.a.
mit Moses Hess Mitte des 19. Jahrhunderts und dann besonders mit Theodor Herzl
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, wollte dieses religiöse Moment politisch
überformen und in ein praktisches Programm umsetzen. Ziel war die Entstehung
einer jüdisch-nationalen Heimstätte. Diese ist eine Art "Kopfgeburt", wenn ich
das so sagen darf. Israel, das sich im Jahr 1948 gründete, ist wohl der einzige
Nationalstaat in der Weltgeschichte, der im Überbau entstanden ist, d. h. als
eine Idee konzipiert war, bevor es die Vorstellung eines entsprechenden
Territoriums, bevor es den Staatsrahmen und auch die Gesellschaft für die
Vollführung der Idee gegeben hat. Israel ist in den Köpfen von osteuropäischen
Sozialisten und zentraleuropäischen Liberalen entstanden. Damit die Idee
"Israel" vollzogen werden konnte, musste erst ein Territorium festgesetzt
werden. Und an dieser Stelle rekurrierte der politische Zionismus, der sich
säkular verstand, auf ein biblisches Moment in seiner ideologischen Begründung
des israelischen Territoriums: Eine moderne politische Bewegung, die nationale
Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes, argumentiert für ihre territoriale
Bestimmung, indem sie auf einen biblischen Mythos, auf Gottes Verheißung - die
Versprechung des heiligen Landes - verweist. Übertrüge man eine solche
ideologische Herangehensweise auf die deutsche Situation, so könnte dies
bedeuten, dass im Bundestag das deutsche Territorium damit legitimiert wird,
dass Hermann, der Cherusker im Jahre 9 u.Z. die Römer im Teutoburger Wald
geschlagen hat.
Der geographische Ort wurde also von Europa aus als ein
Territorium im Nahen Osten bestimmt. Das daraus folgende Problem bestand darin,
dass dieses Gebiet erst eingenommen werden musste, um jüdisches Territorium zu
werden. Ein Topos des Zionismus besagte: ein Land ohne Volk für ein Volk ohne
Land. Stimmte es zwar, dass es ein Volk ohne Land war, so stimmte der andere
Teil der Aussage ganz und gar nicht. Denn es gab damals schon eine Bevölkerung
im nachmaligen Territorium Israels - nämlich die Palästinenser. Diejenigen, die
heute sagen, dass der Zionismus ein Kolonisationsprojekt war, meinen genau die
Tatsache, dass ein bereits bevölkertes Gebiet territorial erobert wurde;
zunächst noch durch Besiedlungspolitik und ökonomische Techniken - noch nicht
unbedingt militärisch. Das erste Postulat des Zionismus gründet auf dieser
Notwendigkeit, das Land zu besiedeln, d. h. die praktische Negation der Diaspora
zu betreiben. Die auf der Welt verstreuten Juden müssen in das Land Israel
gebracht werden, d. h. ihre Existenz in den Residenzländern muss aufgegeben
werden.
Komplementär dazu entsteht das zweite Postulat, es soll der "neue
Jude" erschaffen werden. Was bedeutet dies? Es geht um das negative Spiegelbild
des Diasporajuden. Der Bewohner Israels soll wehrhaft werden, er soll produktiv
werden, d. h. er soll unter anderem die Berufe der Zirkulationssphäre, wie z. B.
Händlertum, Hausierertum, Bankierwesen fallen lassen. Er soll sich ganz
allgemein die aufrechte Haltung als mentale nationale Eigenschaft aneignen. Die
Negation der Diaspora und die Schaffung des neuen Juden; diese beiden
Forderungen wurden zur Zentralachse des Zionismus. Davon wurden zwei weitere
Forderungen abhängig gemacht: Erstens müssen sich in Israel alle
Diasporagemeinschaften versammeln. Und zweitens müssen diese doch recht
unterschiedlichen Gemeinschaften in Israel miteinander "verschmelzen" - was man
im Deutschen Schmelztiegel und im Amerikanischen melting pot nennt.
Wie sich
bei dieser Angelegenheit sehr bald herausstellte, gab es eine ganze Menge
Probleme. Denn wenn der Zionismus sich anmaßte, einen Staat zu gründen, der
nicht religiös - mithin theokratisch - sondern eben politisch-säkular
legitimiert sein sollte, so war das gesamte orthodoxe Judentum vom neuen Projekt
ausgeschlossen. Und in der Tat ist es bis zum heutigen Tag so, dass orthodoxe
Juden den zionistischen Staat nicht als den Staat der Juden akzeptieren. Sie
leben dort - aber sie leben dort in einem Residenzstaat und nicht in "ihrem"
Staat. Der orthodoxe Jude sieht den Judenstaat erst dann entstehen, wenn der
Messias gekommen ist und alle Juden im neuen Königreich Israel versammelt sein
werden. Es gab allerdings eine einflussreiche Argumentation religiöser Juden,
die einen Anschluss an den politischen Zionismus erlaubt. Die sogenannten
Nationalreligiösen meinten nämlich, dass schon die Errichtung des Staates Israel
und die damit verbundene zionistische Ideologie Indiz für die baldige Ankunft
des Messias seien. Das waren dieselben Leute, die dann nach der Besetzung der
Gebiete im Jahre 1967 meinten, jetzt, nachdem man sozusagen "das Land der
Urväter" - die Westbank - besetzt hatte, ist der Messias nicht nur unterwegs,
sondern er muss wohl schon "um die Ecke" sein. Diese Argumentation fußte auf der
politischen Aufladung der Theologie, ging allerdings ihrerseits spätestens seit
1967 in die Ausgestaltung der israelischen Politik ein. Die Prädisposition dafür
war schon in der vorstaatlichen Ära angelegt, als die zionistische Ideologie als
nationale Befreiungsbewegung biblische Momente in sich aufnahm. Neben der
territorialen Bestimmung manifestierte sich dies auch in der Wahl der
hebräischen Bibelsprache als Nationalsprache.
Fragmentierung der
Gesellschaft
Ein zentrales Grundproblem der israelischen Gesellschaft ist
also die seit dem Zionismus existierende Diskrepanz bei der Trennung zwischen
Staat und Religion. Angeblich gibt es in Israel diese Trennung. Aber schon die
Tatsache, dass der Begriff des israelischen Staatsbürgers im Allgemeinen durch
die Religion definiert ist, mithin nur Juden Staatsbürger werden dürfen,
widerlegt diese Aussage. Ein prämodernes Moment geht in das moderne
Staatsgebilde ein. Dies bedeutet aber auch, dass das Religiöse in Israel
überhaupt eine zentrale politische Rolle spielt. (...)
Die zweite
Problematik, die es in Israel gibt, ist die der ethnischen Diskrepanz. Es gibt
in Israel eine hegemoniale Beherrschung durch ein aschkenasisch dominiertes
Elitewesen. Juden europäischer Herkunft bzw. mit europäischen Vorfahren
beherrschen bis heute die ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und
kulturellen Bereiche der israelischen Gesellschaft. Auch wenn heutzutage eine
bestimmte Transformation oder eine Auflösungstendenz dieser spezifischen
Elitenkonstellation bemerkbar ist, bleibt es in Israel bei einer ethnisch
bevölkerten Klassenstruktur. Mit wenigen Ausnahmen werden die israelischen
Unterschichten - sozioökonomisch betrachtet - von orientalischen Juden bzw.
Arabern gebildet.
Womit ich zum dritten Moment komme. Es gibt in Israel seit
Anbeginn eine ca. 15-20%ige Minorität israelischer Palästinenser, die in dem
zionistisch definierten Judenstaat eine nichtjüdische Minderheit als formal
anerkannte Staatsbürger bilden. Real aber sind es Bürger zweiter Klasse. Eine
vierte Problematik mit erheblicher Auswirkung auf den Konflikt ist, dass es in
Israel starke Klassenunterschiede gibt. Die Spanne zwischen den oberen und
unteren Einkommensschichten gehört innerhalb der "entwickelten Länder" zu den
größten. In dieser Beziehung stand Israel vor wenigen Jahren an zweiter Stelle
gleich hinter den USA, die eine noch größere soziale Ungleichheit zu verzeichnen
haben. In Israel, einem Land, das ursprünglich sozialdemokratischen, früher noch
sozialistischen Idealen anhing, ist das allerdings eine viel bemerkenswertere
Tatsache.
Die fünfte Komponente, auf die es hinzuweisen gilt, verbindet sich
mit der seit 1990 stattfindenden Einwanderung von bisher ca. 1 Million ehemals
sowjetischer Juden. Dabei wurde die israelische Demographie stark verändert. Die
orientalischen Juden witterten sogar Konspiration: Man versuche, über diese
vorwiegend aschkenasischen Juden die israelische Gesellschaft "zu
verweißlichen". Von dieser Verschwörungstheorie abgesehen, handelte es sich
jedoch um eine Einwanderungswelle, bei der sich die Einwanderer nicht von
vornherein in die israelische Gesellschaft integrieren wollten. Ähnlich wie
Juden, welche in den 20er/30er Jahren aus Deutschland ins damalige britische
Mandatsgebiet einwanderten und meinten, ihre kulturelle Herkunft, ihre Berliner
oder Wiener Lebenswelt aufrecht erhalten zu können, sagen auch viele heutige
russische Einwanderer, sie seien aus ökonomischen Gründen gekommen, weswegen sie
sich nicht unbedingt in die israelische Kultur integrieren wollen. Diese sei
"barbarisch" und die eigentliche Kultur brächten sie aus Rußland mit.
Soziologisch betrachtet, entsteht hier eine Diskrepanz an gesellschaftlicher
Identifikation. Erst in letzter Zeit kam es zu einer größeren Konsolidierung von
gemeinschaftlicher Solidarität. So zum Beispiel, nachdem es vorwiegend aus
Rußland stammende jüdische Jugendliche waren, die in einer Disco bei einem
palästinensischen Bombenanschlag ums Leben kamen. Auch als eine ukrainische
Rakete ein Flugzeug, in dem vorwiegend israelisch-russische Juden saßen,
abgeschossen hatte und alle Insassen umkamen, hieß es: "Auch wir - die
russischen Einwanderer - müssen unseren 'Blutzoll' entrichten, auch wir sind ein
Teil von dieser prekären Sicherheitsidentität in Israel."
Folgen der
Desintegration
Was bedeuten die angesprochenen Problemfelder für den
Nahost-Konflikt? Ich habe versucht, darzulegen, wie gespalten die israelische
Gesellschaft ist. Und welche Konfliktachsen in ihr existieren. Die
gesellschaftliche Identifikation in Israel kann deshalb bis heute nur über das
Negative geschaffen werden. Das bedeutet, dass die Sicherheitsfrage, wie sie in
Israel genannt wird, immer die Funktion erfüllte, die normalerweise das
bürgerliche Bewusstsein oder die Zivilgesellschaft positiv hätten liefern
können. Weil es in Israel aber eben gegenwärtig keine Zivilgesellschaft geben
kann, da hier 15 % der Bürger schon seit jeher als Bürger zweiter Klasse
behandelt werden, ist der Anspruch von Demokratie in Israel ein relativer
Begriff. Ganz ohne Zweifel ist Israel demokratischer als die es umgebenden
arabischen Staaten. Aber von Demokratie im Sinne einer Gleichberechtigung der im
Land lebenden Bürger kann nicht die Rede sein, denn die Araber in Israel werden
seit gut 50 Jahren systematisch diskriminiert und unterprivilegiert. Ich rede
von "unterprivilegiert" im Sinne der Verteilung von Ressourcen zur Bildung einer
Infrastruktur und im Sinne der gesellschaftlichen Integration dieser Menschen in
Israel. Es war kein Zufall dass, als sich im Oktober 2000 beim Ausbrechen der
Intifada die israelischen Araber mit ihren nationalen Genossen in der Westbank
solidarisierten und Proteste, Demonstrationen und Aktionen im Norden Israels
veranstalteten, die israelische Polizei auf diese Leute geschossen hat und 13
israelische Araber dabei umkamen. Einige Beispiele zum Verständnis: Es gab z.B.
schon Demonstrationen von orthodoxen Juden, bei denen ganz Jerusalem abgesperrt
war und israelische Polizisten von orthodoxen Juden mit Kottüten beschmissen
wurden. Es ist nicht zum Schusswechsel gekommen. Es sind schon Siedler, die es
dazu gebracht haben, dass Teile der Westbank lahm gelegt wurden, von der
israelischen Polizei bzw. vom Grenzschutz auseinandergetrieben worden - es ist
nie zum Schusswechsel gekommen. Es gab israelische Juden, die arbeitslos
geworden waren und Straßendemonstrationen gemacht und dabei den Verkehr lahm
gelegt haben. Sie wurden von der Polizei auseinandergetrieben - es ist nie zum
Schusswechsel gekommen. Im Falle der angesprochenen Proteste wurden 13
israelische Bürger - ich rede nicht von den in der Westbank lebenden
Palästinensern - von der Polizei erschossen. Das indiziert zweierlei. Erstens,
dass es in der Tat eine Ambivalenz für die in Israel lebenden Araber gibt, die
sich auf der einen Seite als israelische Bürger sehen, auf der anderen Seite
aber sich mit den Bewohnern der palästinensischen Autonomie solidarisieren. Es
indiziert aber auch die Tatsache, dass der Staat sein Gewaltmonopol ungleich
anwendet. Das führt zu der großen Frage, was passieren würde, wenn es zu einer
Verhandlungslösung des Konflikts käme, in welcher der Passus enthalten ist, dass
Israel sich aus der Westbank zurückziehen müsse. Ein Szenario ist denkbar,
demzufolge 180.000 der 200.000 Siedler freiwillig weggehen würden und weitere
20.000 mit ökonomischen Abfindungen zum Abzug bewegt werden könnten. Es reicht
aber, dass 1.000 Hardliner sagen: "Nur über unsere Leiche - wir ziehen uns hier
nicht zurück", was zur Folge hätte, dass das Gewaltmonopol des Staates Israel
gegen sie angewendet werden müsste. Das heißt, es könnte dazu kommen, dass das
israelische Militär oder der Grenzschutz eventuell Menschen anschießt, was zu
Toten führen könnte. Für meine Begriffe ist es allerdings ganz und gar nicht
ausgemacht, dass ein Großteil der israelischen Bevölkerung es absegnen würde,
wenn Juden auf Juden schießen. Mithin bedeutet das, dass die Möglichkeit eines
Bürgerkriegs in Israel im Falle einer Räumung der Gebiete nicht undenkbar ist.
Ich bitte, dies mit zu bedenken. Es verweist auf die Skylla und Charybdis der
historischen Situation, in der sich Israel befindet. Wenn sich Israel aus den
besetzten Gebieten zurückzieht und einen palästinensischen Staat anerkennen
will, muss es auch in Kauf nehmen, dass es nicht leicht sein wird, einen
Großteil der israelischen Bevölkerung dafür zu gewinnen. Ich weiß, dass es seit
gut 10-15 Jahren konstante statistische Daten gibt, die behaupten, dass 65% der
Israelis für einen palästinensischen Staat und bereit sind, auch dafür
einzustehen. Ich erlaube mir hier, vor Ihnen das in Frage zu stellen, denn ich
glaube, wir Israelis sind in diesem Fall groß im Reden, aber auf die Probe sind
diese noch nie gestellt worden. (...)
Es ist so überaus deutlich, dass es
immer zwei Gruppen gibt, die versuchen, gegen eine Konsolidierung des
Friedensprozesses zu wirken. Das sind auf der einen Seite die
fundamentalistischen Kräfte auf der palästinensischen Seite - aber das sind
auch, und davon redet man auch hier in Europa viel zu wenig, nicht im minderen
Maße die fundamentalistischen Kräfte auf der israelischen Seite. Aus der
Siedlerbewegung, diejenigen, deren Hardliner sagen, lieber umkommen als sich
zurückziehen, ist 1995 der Mörder Itzhak Rabins hervorgegangen. Aus dieser
Siedlerbewegung ist auch die Argumentation hervorgegangen, Rabin sei ein
Verräter am Zionismus gewesen, da er versucht habe, den Friedensprozess
voranzutreiben und vielleicht zu einem finalen Abschluss zu bringen. Heute sind
viele in der israelischen Bevölkerung bereit, die Ermordung Rabins ad acta zu
legen und zu sagen, der Mann sei in der Tat "zu schnell" vorgegangen. Ich
wiederhole in dem Zusammenhang noch einmal meine These: Die Tatsache, dass
Israel seine Friedensbereitschaft bekundet, besagt noch gar nichts darüber, ob
es auch fähig ist, sie zu praktizieren. Der israelische Parlamentsabgeordnete
Azmi Bishara, ein israelischer Palästinenser, für meine Begriffe vielleicht der
brillanteste Kopf im israelischen Parlament, hat es vor einigen Jahren auf den
Punkt gebracht, als er sagte, Israel kann nicht beides haben wollen: Will es ein
demokratischer Staat sein, d.h. ein Staat all seiner Bürger, kann es kein
Judenstaat mehr sein. Will Israel aber nur ein Staat der Juden sein, kann es
schlechterdings keine Demokratie sein.
Das riesige Problem besteht also
darin, dass eine Friedenslösung in jedem Fall das zionistische Selbstverständnis
in Israel in Frage stellen würde. Das ist auch der Grund, warum alle
Verhandlungen und etwaige Zwischenerfolge mit Vorsicht zu betrachten
sind.
Zudem gibt es in Israel noch die Paradoxie, dass nur eine rechte
Regierung Frieden bringen und nur eine linke Regierung einen wirklichen Krieg
führen kann. In beiden Fällen können sich die jeweiligen Regierungen darauf
verlassen, dass die Oppositionsparteien ihnen Unterstützung gewähren werden. Von
einer rechten Partei ist nicht zu erwarten, dass sie Frieden haben will, denn
das würde bedeuten, dass das ideologische Moment, etwa der Anspruch auf das
Westjordanland aufgegeben werden muss - schier undenkbar für Leute wie den
jüngst ermordeten Tourismus-Minister, undenkbar für einen Großteil nicht nur der
rechtsradikalen Partei, sondern auch für einen Großteil der Likud-Partei, der
sogenannten rechtskonservativen Partei Israels. Daraus erklärt sich, dass man
jetzt im Grunde genommen lieber die Intifada hat, mithin durch sie den Anlass
erhofft, hart durchgreifen zu dürfen, anstatt die notwendige Friedenslösung
voranzutreiben. Ariel Scharon hätte schon längst ein Friedensangebot machen
können, sogar unter seinen eigenen Vorstellungen und Voraussetzungen. Scharon
weigert sich, diesen Frieden anzubieten, weil er genau weiß, dass seine
Koalition innerhalb von einer Woche auseinanderfallen würde. Andererseits kann
er es sich unter dem Blick der "Welt", Europas und Amerikas, nicht leisten, die
Palästinenser total zu zerschlagen. Scharon reagiert entsprechend, indem er
sagt, solange die Palästinenser Terror machen, wird es keine Friedensgespräche
geben. Und die Palästinenser argumentieren, es wird so lange Terror geben, wie
wir keine Aussicht auf Frieden haben.
Arafat, der Fundamentalismus
und die Aussichten eines palästinensischen Nationalstaates
Die
Palästinenser befinden sich in einer Phase historischer Konsolidierung.
Festmachen lässt sich dies an der Verfestigung ihres nationalen Bewusstseins und
ihrer nationalen Bewegung. Dabei stellt sich heraus, dass die säkulare
politische Bewegung, ähnlich dem Zionismus zu seiner Zeit, von vornherein den
Fundamentalismus in Form des islamischen Dschihad und der Hamas in sich trägt.
Diese Bewegungen halten Arafat in Schach. Will er in der Tat eine Friedenslösung
voranbringen, muss auch er im Extremfall mit bürgerkriegsähnlichen Situationen
rechnen.
Das zweite Problem, mit dem sich Arafat auseinander zu setzen hat,
ist die Tatsache, dass er in dem Moment, in dem er den Friedensschluss mit
Israel akzeptiert, zwar nominell einen souveränen Staat bekommen kann, aber
einen Staat, der mehr oder minder gesellschaftlich und ökonomisch vor einem
infrastrukturellen Nichts steht. Die große Frage, die sich dann für die
Palästinenser ergeben würde, lautet: Wofür haben wir hier gekämpft? Geht es
wirklich nur darum, dass wir hier endlich eigene Briefmarken kleben und eine
eigene Fahne schwenken dürfen, oder steigert sich damit auch der Lebensstandard?
Ohne massiven Kapitalimport aus Europa und Amerika wird ein Friedensschluss in
der Region nicht möglich sein. Und wie dieser Staat dann die Zwischenphase bis
hin zur Schaffung einer funktionstüchtigen Infrastruktur überbrücken will, ist
ganz und gar nicht raus.
Selbst die Zeit, die benötigt würde, um sich
konzeptionell mit Aufbauplänen zu beschäftigen, ist ein sehr unsicherer Faktor.
Arafat ist nicht mehr der Jüngste, auch nicht mehr der Gesündeste, aber er ist
im Moment noch die Zentralfigur, die in der Welt als der anerkannte politische
Führer der Palästinenser gesehen wird. Sollte Arafat abtreten, indem er sein Amt
aufgibt oder stirbt, dürfte im palästinensischen Lager ein riesiger politischer
Machtkampf entbrennen, der dazu führen könnte, dass ein Friedensschluss mit den
Palästinensern noch weiter in die Ferne rückt. Genau dies ist allerdings der
Grund, warum viele Israelis darauf hoffen, dass Arafat abtritt oder anderweitig
nicht mehr da ist.
Gibt es also bei diesem Stand des
Israel-Palästina-Konfliktes keine Aussicht auf eine politische Lösung? Ich würde
folgendes sagen. Auch wenn viele Fakten derzeit in eine Sackgasse weisen, darf
man sich in ihr dennoch nicht einrichten. Zumindest die Prinzipien eines
möglichen Auswegs müssen immer wieder verdeutlicht und verteidigt werden. Zu
diesen Schritten gehört meiner Meinung nach, dass die Palästinenser in einer
ersten Phase zum Aufbau eines Nationalstaates befähigt werden. Nur so kann ihre
historische Konstituierung als Kollektivsubjekt auf einer friedlicheren Ebene zu
einem gewissen Abschluss kommen. Dieser Staat wird ohne Hilfe Europas und
Amerikas nicht zu machen sein. Für meine Begriffe wird er darüber hinaus auch
noch lange Zeit von Israel, was den Arbeitsmarkt und andere ökonomische Fragen -
wie z.B. die Wasserversorgung - betrifft, abhängig bleiben. In einer zweiten
historischen Phase muss es zu einer konföderativen Struktur zwischen Israel und
Palästina unter Einbeziehung von Jordanien kommen. Denn auch in Jordanien leben
eine ganze Menge Palästinenser. Es würde im Prinzip bedeuten, dass man eine Zone
schafft, die unter friedlichen Voraussetzungen versucht, Probleme dieser Region,
nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch, kulturell und gesellschaftlich zu
lösen.
Eine Sache sollte klar sein - das gilt für die Israelis wie für die
Palästinenser. Eine Trennung, wie sie heute von den zionistischen Linken, der
Meretz- und Arbeitspartei nach dem Motto vorgeschlagen wird - "Lasst sie ihren
Staat haben, aber dann wollen wir damit nichts mehr zu tun haben." - eine solche
Trennung ist heute unter den gegebenen gesellschaftlichen, demographischen und
kulturellen Interaktionen nicht mehr denkbar.
Perspektive Frieden
Israel muss eine Generalentscheidung treffen. Was will es von sich selber?
Will es weiterhin ein Okkupationsregime bleiben, dann wird der Terror nicht
einfach so aufhören. Der Terror ist in diesem Fall die Kampfwaffe der Armen, der
Unterlegenen, der Verfolgten. Für meine Begriffe wird Israel bei
Aufrechterhaltung einer solchen Situation längerfristig keine Möglichkeit zum
Fortbestehen haben. Israel kann nicht ewig im Kriegszustand existieren. Es ist
schon wahr, dass Israel den ganzen Nahen Osten in Schutt und Asche legen kann,
dabei würde aber auch Israel selber in Schutt und Asche gelegt werden. Das ist
keine besonders angenehme Perspektive, die man Kindern bzw. Jugendlichen
anbieten kann. Israel muss sich mit den strukturellen Problemfeldern des
Konflikts anders konfrontieren als bisher. Gerade in der derzeitigen Situation
sieht man die inneren Widersprüche und Gegensätze gelöst, indem es sozusagen
wieder einen neuen Feind von außen gibt. Sie wissen ja, erstes Gesetz der
Sozialpsychologie: Will man eine Gruppe zusammenbringen, will man sie
konsolidieren, muss man einen äußeren Feind schaffen. Solch ein Feind entstand
durch die von den Palästinensern angefangene Intifada. In dem Moment, als die
Intifada für Israel eine Bedrohung darstellte, als sie im Alltagsleben Opfer von
Terroranschlägen forderte, in dem Moment rückte sozusagen die gesamte jüdische
Bevölkerung zusammen.
Ich kann ihnen heute weinenden Auges berichten, dass
es die israelische Linke kaum noch gibt. Sie ist nach und nach in die Mitte
gerückt. Eine ganze Menge ehemaliger Linker aus der "Peace Now"-Friedensbewegung
sagen heute: "Wir sind ernüchtert, jetzt haben wir endgültig erkannt, was die
Palästinenser sind, so wie der Westen erkannt hat, was der Islam ist."
Essentielle Wesensbestimmungen, sei es in Bezug auf die Palästinenser, sei es in
Bezug auf den Islam, werden heute immer öfter gebrauchte und weniger
hinterfragte politische Argumente.
Der Krieg gegen die Palästinenser führt
aber in eine Sackgasse. Von daher meine ich, dass unter den realen politischen
Bedingungen eine Einmischung von Außen unabdingbar geworden ist. Ohne eine
gesteigerte Einmischung von Amerika - und dies sage ich als ein linksradikaler,
nicht-zionistischer israelischer Intellektueller - und die Einmischung der
europäischen Union ist ein Frieden gegenwärtig nicht zu machen. Vielleicht hat
ja der "Kampf gegen den Terror", der von den USA und den westlichen Verbündeten
geführt wird, wenigstens den positiven Nebeneffekt, dass eine Friedenslösung im
Nahen Osten vorangetrieben wird. Vielleicht treten die Amerikaner ähnlich wie
nach dem Golfkrieg 1991 an die Israelis heran und sagen: "Ihr seid ein Moment
der Unruhe in dieser Region. Wir können es uns aus geopolitischen Gründen nicht
erlauben, dass man alle paar Jahre einen regionalen Krieg entbrennen lässt.
Macht jetzt Frieden." In dieser Hinsicht ist in der Tat der
israelisch-palästinensische Konflikt paradigmatisch für die neue Weltordnung
geworden. Ob die Amerikaner das auch so durchziehen und ob die Europäer dazu
fähig sind, steht auf einem anderen Blatt
geschrieben.