"Solidarität mit Israel" bedeutet das Ende linker Politik

Einige grundsätzliche Anmerkungen zum Befreiungskampf der Palästinenser und der Degeneration der deutschen Linken aus Anlass des Pro-Israel-Kreuzzuges eines Teils des Fachschaftsrates SOWI.

In der Nummer 4 (Sommersemester 2002) seines Zentralorgans "vorläufiges Fazit" und via Internet beglücken einige Leute, die im  Namen des FSR SOWI sprechen, die Studierenden und die politische Linke Hannovers mit einem Traktat, das nicht nur unverschämt, heuchlerisch und von extrem dürftigem intellektuellen Niveau, sondern in seiner Ausrichtung schlicht reaktionär ist.

Schenkt man dem Fachschaftsrat Sozialwissenschaften und seinen (Online)-Publikationen Glauben, wird es allmählich Zeit Opas Kalaschnikow aus dem Erddepot auszugraben und sich auf die neue Resistance vorzubereiten. Warum? Weil der völkische Mob marschiert - immerhin hat laut den FSR-Sowi-Autoren, die brav ihre halb verdaute “Bahamas”-Lektüre wiederkäuen, am 13. April in Berlin mit rund 10.000 Teilnehmern "der größte antisemitische Aufmarsch in Deutschland seit 1945" stattgefunden.


Mit Superlativen ist die “Durchblicker”-Fraktion der studentischen Linken ja noch nie sehr sparsam umgegangen. Wer jetzt allerdings glaubt, die meinen einen Nazi-Aufmarsch (und sich darüber wundert, dass darüber gar nichts in den Nachrichten zu sehen war), wird schnell eines Besseren belehrt. Die Rede ist vielmehr von der " 'Pali-Demo', wie der größte antisemitische  Aufmarsch in Deutschland seit 1945 im Szene-Baby-Sprech auch genannt wird" (FSR Sowi). Eine Solidaritätsdemonstration mit Palästina, die deswegen so verwerflich war, weil es dort "Anbiederung an Leute" gab, die "in ihrer vermeintlichen Blindheit mit faschistischer Praxis" "potentielle 'Verbündete im Kampf gegen den Krieg Israels' ermorden”. Mit "faschistischer Praxis", werden wir aufgeklärt, sind die "unsinnigerweise als 'Selbstmordanschläge' bezeichneten terroristischen Aktionen in Israel" gemeint.

Da es bundesweit zahlreiche ähnlich weit verbreitete Positionen  der sog genannten Anti-Deutschen (Zeitschrift "Bahamas" & Co) und eine noch weiter verbreitete - und nicht weniger schräge - "anti-nationale Neutralität" bzw. Äquidistanz im Palästina-Konflikt gibt, wollen wir die Dartstellung des FSR-Sowi nutzen, um einige Dinge zu klären.

Waren also am 13. April in Berlin 10.000 Neonazis auf der Straße? Zumindest eine der Interim-Redaktionen denkt laut darüber nach. "Denn im Grunde haben die erwähnten Pro-Antisemitismus-Demos eine solche inhaltliche Nähe zu Naziaufmärschen, daß eine anti-antisemitische Linke über einen entsprechenden Umgang damit nachdenken muss" (Interim 550/Vorwort). Das klingt klasse und echt irgendwie linksradikal - zumal die Interim ja auch postuliert, dass die anti-israelische Position hierzulande Staatslinie sei - hat aber mit der Realität nichts mehr zu tun, ist  im ideologischen Kern stockbürgerlich und trägt dazu bei, die durch den Balkankrieg ohnehin stark ausgedünnten Faschismus-Begriff weiter zu entwerten und damit das Geschäft der neuen Rechten zu betreiben.

Für die Antinationalen und ihre Fans reduziert sich Faschismus offensichtlich auf Judenvernichtung. Sie reproduzieren, in einer psychologischen Endlosschleife gefangen die Situation der ausgehenden 50er Jahre: Unter der Maske der bürgerlichen Demokratie lauert die nationalsozialistische Volksgemeinschaft unbelehrbarer Nazis - die Generation der Väter und Großväter, die 1945 schnell das Parteiabzeichen beiseite gelegt haben, um "gute Demokraten" zu werden. Beim ersten günstigen Augenblick bricht deren unbelehrbarer faschistischer Charakter aber wieder durch. Die politische Konsequenz, die ein aufrechter Linker daraus ziehen muss ist: 1.) dieser "Volksgemeinschaft" grundsätzlich zu misstrauen; 2.) immer wieder mahnend auf die Verbrechen der Vergangenheit hinzuweisen und 3.) die Schuld der Elterngeneration zu "sühnen" insbesondere natürlich sich persönlich für die Existenz eines jüdischen Staates als historische Konsequenz aus der Shoah verantwortlich zu fühlen. Weil dieser oberste moralische Imperativ (ein neues Auschwitz zu verhindern) alle anderen moralischen Bedenken aussticht, fällt es dann plötzlich doch ganz leicht, moralische Bedenken, die beispielsweise das nicht ganz menschenrechtskonforme Vorgehen der israelischen Armee in den Autonomiegebieten betreffen, schnell hinten anzustellen.

Das hier nur kurz skizzierte Denken der Antinationalen ist zutiefst bürgerlich, weil es im Kern von der Kollektivschuld-These (und vom Stillstand bzw. der immerwährenden Wiederholung der Geschichte) ausgeht: "Die überwiegende Mehrheit der damals von ihrem Lebensalter her verantwortlichen Deutschen, und hier spreche ich als historischer Augenzeuge, war eindeutig pronazistisch, sie hat mitgemacht, und nichts hätte ihr ferner gelegen als Widerstand - er ist bezeichnender Weise beim "häßlichen Deutschen" noch heute verpönt. Hitler hat sich auf sie verlassen, und er konnte es, wie die Geschichte gezeigt hat." (Ralph  Giordano, Das Problem: Der häßliche Deutsche). Diese These vereinigt nicht nur elegant die Massenverachtung der Totalitarismustheorie mit der moralischen Reinheit emigrierter bürgerlicher Intellektueller, sie ist auch darauf angelegt, den politischen und sozialen Charakter und die Entstehung des Faschismus zu vernebeln. Die Theorie,  die die Westalliierten nach 1945 aufbrachten, dient dazu, die Verantwortung des deutschen Kapitals (Deutsche und Dresdner Bank, IG Farben, Stinnes, Krupp usw.), seine Unterstützung für die Machtergreifung der Nazis und sein Profitieren von deren Politik (Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Aufrüstung, Zwangsarbeiter, "Arisierung" jüdischen Eigentums)  zu minimieren, um eben dieses Kapital genau wie alte Nazis, Wehrmachts- und SS-Offiziere für die Restauration bürgerlicher Herrschaft in Deutschland und ihren Feldzug gegen das sozialistische Lager erneut einzuspannen..

Wenn also - wie beim Fachschaftsrat Sowi - von der "faschistischen Praxis" der Selbstmordattentate schwadroniert wird, können wir das nur als krassesten Unfug bezeichnen (und in seiner theoretischen und analytischen Schlagkraft ungefähr genauso erleuchtend wie die Analyse des ideellen Musterautonomen der 80er Jahre, der alle Bullen "echt irgendwie faschistisch" fand).

Andere Teile der linksradikalen Restszene ziehen es vor, sich in bekannter Manier selbst zu geißeln und "den Antisemitismus in den eigenen Reihen" zu suchen, statt sich den Realitäten zuzuwenden. Wer sich dem moralisierenden Anspruch dieser "Debatte" verweigert, gerät in den Verdacht mindestens ein "notorischer Anti-Imperialist" zu sein. Das aber sind wir gerne, wenn denn mit dieser Bezeichnung angedeutet werden soll, dass wir die materiellen Tatsachen (d.h. die internationalen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse) nicht völlig ignorieren.

Um nur ganz beispielhaft einer beliebten Geschichtsklitterung entgegenzutreten: Zionismus ist keine ideologische Konsequenz aus dem Holocaust, sondern hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa (insbesondere in Großbritannien mit seinem kolonialen Empire) entwickelt. Die USA haben die Gründung und Existenz des israelischen Staates nicht aus Menschenfreundlichkeit und antifaschistischem Selbstverständnis heraus unterstützt, sondern um einen Statthalter westlicher imperialistischer Interessen im Nahen Osten zu haben. Dass bei der Gründung dieses Staates mal eben rund 800.000 Menschen vertrieben wurden, dass dieser Staat UN-Resolutionen und bürgerlich-demokratische Spielregeln in einem fort ignoriert, hat den einzig autorisierten "Verteidiger der Menschenrechte" dabei noch nie sonderlich gestört.

Ein Staat, der "Terror-Sympathisanten" aus ihren Häusern vertreibt und diese anschließend von Bulldozern abreißen lässt - ohne sich mit den Feinheiten bürgerlicher Rechtssprechung aufzuhalten, der sogenannte “Terroristen” nicht vor Gericht stellt, sondern kurzerhand liquidiert und zwar von Hubschraubern aus per Rakete auf Autos und Gebäude (ohne sich im Geringsten um Passanten oder Zivilisten zu kümmern), kämpft - ganz vorsichtig ausgedrückt - einen ziemlich schmutzigen Krieg mit den Methoden übelster Militärdiktaturen.
Amnesty International schreibt beispielsweise im Jahresbericht 2002 unter der lakonischen Überschrift "ungesetzliche Tötungen": "Im Berichtszeitraum (1.1. bis 31.12 2001) haben die israelischen Sicherheitskräfte mehr als 460 Palästinenser getötet, unter  ihnen 79 Kinder. Die weitaus meisten Opfer wurden im Verlauf von Demonstrationen, bei der  Bombardierung von Wohngebieten oder an Kontrollpunkten auf ungesetzliche Weise getötet, da von ihnen keine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer Menschen ausging. Mindestens 32 Palästinenser starben  im Zuge vorsätzlich verübter extralegaler Hinrichtungen, bei denen auch 15 unbeteiligte Menschen zu  Tode kamen. IDF-Truppen und andere israelische Sicherheitseinheiten setzten Hochgeschwindigkeitsmunition und Gummigeschosse mit Metallkern gegen Steine oder Molotowcocktails  werfende Demonstranten ein, was Tote und Verletzte forderte. Auch Mörser, Granatwerfer und Artilleriegeschosse, darunter so genannte Flechettes oder Pfeilgeschosse, wurden auf Palästinenser abgefeuert."


Der Druck, der sich aus der Zuspitzung dieser Auseinandersetzung ergibt, hat zudem zur Formierung, Militarisierung und zur Ausbildung einer Bunkermentalität der israelischen Gesellschaft erheblich beigetragen: Dass israelische Soldaten während der "Operation Schutzwall" zum Zeitvertreib die Wassertanks auf den Häusern von Palästinensern zerschossen haben, ist kein Ausrutscher, sondern Ausdruck einer rassistischen Grundhaltung, die sich ziemlich gut in der momentan recht populären Parole "Keine Araber, kein Terror" zusammenfassen lässt. Mit einem solchen Staat können und wollen wir uns als Linke nicht solidarisch erklären. Mehr noch: wer sich mit einer solchen rassistischen Politik solidarisch erklärt, hat sämtliche Kategorien und Grundprinzipien linker Politik im Mülleimer seiner persönlichen Entwicklungsgeschichte entsorgt.

Eine Zusammenarbeit mit Leuten, die sich zu Hilfstruppen eines Rassisten- und Kolonialistenregimes machen, das sich seit Jahrzehnten (weil es im Unterschied zum Irak oder zu Libyen zu den wichtigsten Vorposten des Imperialismus in der Region zählt und bereits im Besitz von etwa 200 Atombomben sowie B- und C-Waffen ist) ungestraft über jede UN-Resolution hinwegsetzt, zahllose Massaker an Palästinensern und arabischen Israelis verübt hat und diese zu Menschen dritter Klasse macht, seine politischen Gefangenen systematisch foltert und zu den wichtigsten politischen Verbündeten des Apartheidregimes in Südafrika sowie der brutalsten Militärdiktatur in Lateinamerika (Guatemala) zählte, ist für uns politisch undenkbar und muss es für jeden Linken, der sich ernst nimmt, ebenfalls sein.
   
   AntiFa AG der Uni Hannover, Juni 2002


Eine notwendige Anmerkung:
Die nebenstehende „Schweizer Käse-Karikatur“ hat für zahlreiche und lang anhaltende Diskussionen gesorgt. Deshalb wiederholen wir hier noch mal, was wir bereits bei diversen anderen Gelegenheiten mündlich und schriftlich erklärt haben (am 3.12.2002 auf der Fachschaftsräte-Vollversammlung, in unserem Brief an die Fachschaftsräte vom 1.2.2003, in unserer Antwort auf das Ultimatum des SPD/PDS-AStA vom 16.5.2003 usw.):
Wir betrachten den Abdruck besagter Karikatur des linken algerischen Karikaturisten Khalil Bendib im Nachhinein als einen Fehler, weil sie (auch wenn wir sie nach wie vor nicht als antisemitisch ansehen) missverstanden werden kann und daher von der dringend notwendigen Debatte um die inhaltlichen Fragen (Wie ist die Politik des Staates Israel und der Sharon-Regierung zu bewerten ? etc.) ablenkt.
Dass die Karikatur noch heute, nach längerem, zielgerichteten Suchen auf unserer Homepage zu finden ist, liegt ganz einfach daran, dass wir allen, die auf diese Auseinandersetzung stoßen, die Gelegenheit geben wollen, sich selbst ein Bild zu machen und nicht auf die Horrorgemälde angewiesen zu sein, die davon gezeichnet werden. Daran haben wir nie einen Zweifel gelassen. Im Gegensatz zu manch Anderem, setzen wir auf Aufklärung statt Zensur und auf das kritische Urteilsvermögen der Leute, auch wenn man da manchmal enttäuscht wird.