Kommentar aus der Frankfurter Rundschau vom 1.10.2002
Scharons Spiel
Von Rolf Paasch
Ariel Scharon geht weiter seinen Weg:drei Marschschritte voran, zwei Trippelschritte zurück. Erst befiehlt der israelische Premier seinen Truppen die Zerstörung der palästinensischen Regierungsgebäude und die Festsetzung Arafats. Dann lockert er auf Geheiß Washingtons den Belagerungsring und lässt jene mutmaßlichen Terroristen ziehen, deren Verhaftung er zuvor zum unverzichtbaren Ziel der Militäroperation erklärt hatte. Zunächst wild loszustürmen und dabei weit über das Ziel hinauszuschießen, um dann im Gegenfeuer ein Stück weit zurückzukriechen, dies war schon in der Armee das Verhaltensmuster von General Scharon. Mit dem Unterschied, dass die Sequenz von forcierter Gewalt und taktischem Rückzug in der Politik auf Dauer die systematische Zerstörung jeder friedlichen Zukunft mit sich bringt.
Es ist noch nicht lange her, da forderte Ariel Scharon „sieben Tage Ruhe", ehe seine Regierung mit der Autonomiebehörde wieder politische Verhandlungen führen könne. Im Sommer aber vergingen sechs Wochen Ruhe, unterbrochen nur vom Lärm einer bisher einmaligen Reformdiskussion in der palästinensischen Autonomiebehörde. Und worin bestand die israelische Reaktion? 75 Palästinenser wurden in dieser Zeit von israelischen Truppen erschossen. Politische Anreize für die Gegner Arafats? Fehlanzeige.
Als es dann Mitte September zwei Selbstmordattentätern gelang, die Sicherheitszäune zu durchbrechen, reagierte Scharon wieder „aus dem Bauch statt mit Gehirn", wie es ein israelischer Kolumnist beschrieb. Der politische Preis für die hirnlose Zerstörung von Arafats Amtssitz misst sich an der Wiederbelebung der komatösen Figur des Palästinenser-Präsidenten, am Verstummen palästinensischer Reformer, an der erneuten Radikalisierung der „palästinensischen Straße“ und an der Verstimmung Washingtons.
In jeder „normalen“ Demokratie mit einer funktionierenden Opposition müsste sich eine Regierung für eine solch kontraproduktive Politik verantworten. Nicht so in Israel, wo die Perfidie palästinensischer Selbstmordattentate zusammen mit dem rein reaktiven Populismus Scharons zum besinnungslosen Schulterschluss führt. Oder wie ließe sich sonst erklären, dass es kaum Proteste gab, als Scharon den selbst erklärten „ethnischen Säuberer“ Effie Eitam zum Verwalter der Siedlungsprogramme ernannte. Besser kann man die absurde Verschwörungstheorie der Extremisten, dass Scharon einen Golfkrieg zur Vertreibung der Palästinenser nach Jordanien nutzen will, nicht mehr stützen.
Als würde das klägliche Versagen der Arafat-Clique zur Desillusionierung der palästinensischen Bevölkerung nicht genügen, forciert Scharon mit seiner Politik der Härte noch das weit verbreitete Gefühl der Hilflosigkeit. Wer auch nur ein paar Tage in Ramallah oder Nablus Zeuge der israelischen Besatzung wird, versteht, dass es hier weniger um den Schutz der israelischen Bevölkerung geht, als um die systematische Erniedrigung der Palästinenser.
Jeder berechenbare Kolonialismus ist humaner als die aktuelle Willkürherrschaft der israelischen Streitkräfte im Westjordanland. „Besatzung ohne Verantwortung“ nennt dies selbst die israelische Presse. Israels ehemaliger Botschafter in Bonn, Avi Primor, unterstellt dem Likud-Premier dabei weniger kurzsichtiges Handeln als eine „südafrikanische Strategie“ zur Einrichtung von, „Homelands“ zwischen Westbank und Gaza-Streifen.
Dabei bot jetzt der zweite Jahrestag der Al-Aksa-Intifada allen politischen Akteuren den Anlass für eine Bilanz dieses Aufstandes und seiner Bekämpfung. In der palästinensischen Autonomiebehörde hatte diese Diskussion mit all ihren Mängeln und Vorbehalten begonnen, ehe Ariel Scharon ihr mit der Entsendung von Panzern und Bulldozern zu Arafats Amtssitz ein Ende setzte. In Israel dagegen zeigt sich das politische Personal unfähig zur Selbstkritik. Die Rechten des Likud-Blocks sehen sich unter Scharon kurz vor dem Ziel ihrer kühnsten Träume. Die Linken der Labor Partei verzweifeln an ihren tragischen - Außenminister Peres - oder opportunistischen - Verteidigungsminister Ben-Elieser - Figuren.
Wenn Kritiker im In- und Ausland dem Premier jetzt die „Kapitulation vor Arafat“ oder die Verärgerung der USA vorwerfen, dann überschätzen sie leicht den politischen Schaden des jüngsten Rückzugs für Ariel Scharon. George W. Bush mag mit seiner Verfügung zur Befreiung Arafats der Welt angedeutet haben, was Washington in Nahost bewirken könnte, wenn es denn wollte. Doch für Scharon ist dies nur der taktische Verweis durch einen US-Präsidenten, der zudem im Begriff ist, das israelische Paradigma präventiver Interventionen für die Weltmacht zu übernehmen.
Und so wird Israels Premier im Schatten US-amerikanischer Golfkriegspläne und im Vakuum europäischer Außenpolitik weiter Siedlungen und Mentalitäten aufbauen, die jede Zwei-Staaten-Lösung zu sabotieren drohen. Scharons Strategie - ob sie sich im Spiel auf Zeit erschöpft oder zu vielen „Bantustans“ auswächst - bleibt ein von allen Freunden Israels verdrängter Skandal.