Inland
Herbert Wulff
»Grundlegender Bruch«
Bundestreffen des »Netzwerks für eine kämpferische
und demokratische ver.di« in Kassel: Debatte über
Gegenstrategien zum Kurs der Spitzenfunktionäre
»Ist ver.di noch zu retten?« Unter dieser provokanten
Fragestellung trafen sich am Samstag gut 30 Aktivisten der
Dienstleistungsgewerkschaft in Kassel zum 17. Bundestreffen des seit
1996 bestehenden »Netzwerks für eine kämpferische und
demokratische ver.di«. Im Mittelpunkt stand dabei, wie schon beim
Treffen der ver.di-Linken am vorangegangenen Wochenende, die Kritik am
kürzlich ausgehandelten Tarifvertrag für den
öffentlichen Dienst (TVÖD).
Kritik an »Tarifreform«
»Das Bitterste an dem Abschluß ist, daß die
ver.di-Spitze so tut, als würde man von einem Erfolg zum
nächsten rennen«, monierte Stephan Kimmerle vom Sprecherrat
des »Netzwerks«. Das Gegenteil aber sei der Fall: Mit der
Möglichkeit zur Arbeitszeitverlängerung über
Öffnungsklauseln, dem Wegfall von Zuschlägen, der
Einführung von »Leistungslöhnen« und einer neuen
Niedriglohngruppe sowie dem Verzicht auf tabellenwirksame
Einkommenserhöhungen in den kommenden drei Jahren sei die Masse
der öffentlich Bediensteten, insbesondere ältere
Beschäftigte und Familien, eindeutig Verlierer der
»Tarifreform«. Daß Vorstand und Tarifkommission einer
Niedriglohngruppe von 1286 Euro West/1189,55 Euro Ost zugestimmt haben,
nannte Kimmerle angesichts der Mindestlohndebatte
»zynisch«. Auch für die gewerkschaftliche
Durchsetzungsfähigkeit sei das Tarifwerk »verheerend«,
da es den »Spaltpilz« in die Betriebe trage. Kimmerles
Fazit: »Die ver.di-Spitze hat sich vollständig auf die Logik
eingelassen, daß Gewerkschaften nicht mehr dafür da sind,
die Konkurrenz unter den Beschäftigten aufzuheben, sondern
dafür die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Betriebe
herzustellen – das ist ein grundlegender Bruch in der Entwicklung
unserer Gewerkschaft.«
Diese Einschätzung teilten auch andere der aus verschiedenen
Regionen angereisten ver.di-Aktivisten. »Wenn es innerhalb der
Gewerkschaften nicht bald zu einer Gegenbewegung kommt, dann wird das
Kooperatismus pur«, meinte eine Kollegin aus Hannover. Viele der
Anwesenden betonten die Notwendigkeit systematischer
Aufklärungsarbeit in den Betrieben, um der Politik der
Gewerkschaftsführung etwas entgegensetzen zu können. Ohne
betriebliche Verankerung werde die Linke nicht in der Lage sein, einen
Kurswechsel ihrer Gewerkschaft zu erkämpfen. »Das Problem
ist aber, daß uns unsere Führung bei der betrieblichen
Arbeit immer wieder Brocken in den Weg schmeißt«, so Steffi
Nitschke, Betriebsrätin im Klinikum Kassel.
Landesbedienstete isoliert
Lorenz Blume, Vertrauensmann in der örtlichen Uni, hob hervor,
besonders die Landesbediensteten, für die der TVÖD bislang
nicht übernommen wurde, befänden sich »in der
schlechtestmöglichen Ausgangssituation«. Dieser traditionell
gewerkschaftlich schwach organisierte Bereich sehe sich nach der
Einigung mit Bund und Kommunen nun isoliert den Forderungen der
»Arbeitgeber« ausgesetzt. Annette Müller von der
Uniklinik Frankfurt/Main berichtete ebenso wie Agnes Hasenjäger
von der Medizinischen Hochschule Hannover, es gebe »kaum
Bereitschaft, für den TVÖD, also für eine
Verschlechterung, in Aktion zu treten«. In Frankfurt konzentriere
man sich deshalb auf den Widerstand gegen Privatisierung, erklärte
Müller. Viele Kollegen seien von der Kündigung der
Tarifverträge zu Arbeitszeit und Sonderzahlungen in Hessen,
Niedersachsen und anderen Ländern bereits betroffen. »Von
den 7000 Beschäftigten arbeiten schon 1800 zu schlechteren
Bedingungen«, berichtete Hasenjäger aus Hannover.
Neben der Veröffentlichung von Publikationen zu dieser und anderen
Auseinandersetzungen will sich das »Netzwerk« in den
kommenden Monaten auf die Krankenhäuser konzentrieren, wo man
infolge veränderter Finanzierungsregeln turbulente Entwicklungen
erwartet.
* Infos: www.netzwerk-verdi.de
aus: junge Welt vom 25. April 2005