Im Übereifer des Gefechts
Zur antideutschen Debatte über angeblichen und tatsächlichen Antisemitismus innerhalb der Linken
von Utz Anhalt, Sven Cavalcanti, Marcus Hawel, Oliver Heins und Gregor Kritidis (sopos)
»In der Linken gewinnt der, der als erster das Wort Auschwitz in den Mund nimmt.«
Jürgen Elsasser
Zu welchen Auswüchsen eine verselbstständigte Antisemitismus-Debatte führt, sieht man seit einiger Zeit in Berlin und Hamburg. In Berlin entblödet sich ein gewisser »antideutscher« Flügel der Ex-AA/BO (ehem. Antifaschistische Aktion/Bundesorganisation) nicht, den Völkermord an den nordamerikanischen Indianern als »notwendig zur Zerschlagung der feudalen Strukturen« und Adorno wie Marcuse und Fromm als Reaktionäre (sie!) zu bezeichnen. Die Debatte hat eine Schärfe (und einen Irrsinn) angenommen, daß weiße deutsche Männer (das sind die meisten Antideutschen) jegliche Kritik an der rechten israelischen Regierung als antisemitisch abbügeln und Bush, Blair und Rumsfeld als antifaschistische Befreiungskämpfer bejubeln. Sie werfen sogar israelischen Linken, die gegen Shiron stehen, vor, indirekt den Antisemitismus zu schüren. Verschwörungstheorien (Antisemitismus) werden selbst zur Basis von Verschwörungstheorien.
Der moderne Antisemitismus hat konkrete Kennzeichen:
1.) Er ist völkisch. Er geht davon aus, daß Völker (Rassen etc.) per Abstammung bestimmte Eigenschaften aufweisen. Damit ist sein Volksbegriff körperlich (Volksgemeinschaft, Staatskörper, Lebensraum).
2.) Aus dem gleichen Grund ist dieser Antisemitismus biologistisch. Er setzt eine biologische Hierarchisierung von Menschen an die Stelle gesellschaftlicher Entwicklungen. Damit naturalisiert er Herrschaftsverhältnisse.
3.) Der Antisemitismus ist in seinem Biologismus metaphysisch. Der »Jude« stand für ein Prinzip, in dem archaische Dichotomien auf eine unsichtbare Gruppe gerichtet wurden. Damit verknüpfte er christliche antijüdische Ansätze mit moderner Pseudowissenschaft (völkische Esoterik). Die Bezugssysteme waren Jahrhunderte alt, wurden von den Nazis dynamisiert und damit Hebel eines kapitalistischen Modernisierungskriegs.
4.) Der eliminatorische Antisemitismus der Nazis stand nicht solitär. Er war zentraler Bestandteil eines rassistischen Gesamtzusammenhangs (»arische Herrenrasse«), der sich aus der inneren Logik heraus selbst reproduzierte (Slawen waren in diesem Weltbild ebenfalls »Untermenschen«, die aber nicht vernichtet, sondern versklavt werden sollten, Schwarze galten als »tierhaft« etc.). Die Verknüpfungen der Auszubeutenden und zu Vernichtenden innerhalb dieses rassistisch-antisemitischen Weltbildes waren integraler Bestandteil der gesamten NS-Politik (»jüdisch-bolschewistische Untermenschen«, »verjudete Nigger«, »russische Flintenweiber« etc.).
5.) Der Antisemitismus war und ist anti-intellektualistisch. Er bekämpfte mit »den Juden« auch emanzipatorische Traditionslinien in der Wissenschaft. »Jude« war Substrat für eine Subsummierung verschiedener Feindbilder (Marxismus, beim SA-Flügel Großkapital, Boheme, Intellektuelle, USA, Moderne).
6.) Der Antisemitismus vor der Naziherrschaft war teilweise eine kleinbürgerliche Kritik am Großkapital, die aus falschen Prämissen die falschen Schlüsse zog (Kapitalismus personifiziert als »jüdisches Finanzkapital«, »parasitäre Wallstreet«).
7.) Der Antisemitismus hatte und hat ein statisches Kulturverständnis. Kultur entstand aus dem »Boden« und vermittelte sich über das »Blut« auf diesem Boden lebender »Rassen«. Demzufolge galt moderne Kunst (z.B. Kubismus) als »entartet« oder »verjudet«.
8.) Neuere Spielarten des Antisemitismus brechen sich Bahn in blinden Solidarisierungen mit angeblichen Befreiungsbewegungen - meist fundamentalistisch, islamistischer Herkunft - deren Ziel die Vernichtung des Staates Israel ist, d. h. das Existenzrecht Israels infragestellt.
Flugschrift sopos 5/2003 www.sopos.org
Es gibt noch mehr Kennzeichen des Antisemitismus, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen.
Richtig ist, daß es auch in der Weimarer Linken (insbesondere in der KPD, von der viele zur SA überliefen) antisemitische Ressentiments verbreitet waren. Zwar ist Antisemitismus auch eine verkürzte Kapitalismuskritik. Die derzeitige »antideutsche« Debatte dreht diesen Spieß allerdings um, in dem offensichtlich aus einer verkürzten Kapitalismuskritik automatisch Antisemitismus herausgelesen wird. Eine Abscheu vor der demokratischen Kultur der USA kennzeichnet den Antisemitismus. Umgekehrt ist eine Kritik an US-Regierungen nicht zwingend antisemitisch.
Ist am Ende jeder, der sich mit sozialen Bewegungen in Arabien solidarisiert, ein Antisemit? Jeder, der Sharon kritisiert, ein Antisemit? Jeder, der die US-Regierung imperialistisch schimpft, ein Antisemit? Am Ende haben wir dann eine »anti-antisemitische« 'weltarmee unter Bush und Blair mit den antideutschen Kommunisten als Saalschutz. Die Autonomen, Sozialisten, Pazifisten etc., die dagegen demonstrieren, ein »völkischer Mob«?
Einer marxistischen Kritik an den Herrschaftsverhältnissen ging es darum zu zeigen, daß der Antisemitismus Teil eines imperialistischen und antiemanzipatorischen Gesamtzusammenhangs war. Darüber läßt sich kontrovers streiten. Jemand, der erwähnt, daß neben den sechs Millionen jüdischen Menschen auch 15-20 Millionen »nichtjüdische« Sowjetbürger als Resultat des deutschen Faschismus der systematischen Vernichtung der Nazis zum Opfer fielen, verkennt aber nicht automatisch die einzigartige historische Besonderheit des industriellen Massenmordes an den Juden, für den Auschwitz als Chiffre steht. Immer noch gehört es zu den Grundlügen der Bundesrepublik, den linken Widerstand (und die sowjetischen Opfer des NS-Regimes) weitgehend totzuschweigen.
Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang Karl Heinz Roth oder Franz Neumann zu lesen, die aufzeigten, daß die NS-Politik unter Klassengesichtspunkten ein extremer Modernisierungsschub im Interesse des Kapitals war. Neben der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung gehörte dazu die Zwahgsintegration der Arbeiter in ein totales Staatsarbeitsprogramm mit Zuckerbrot und Genickschuß (»Kraft durch Freude«, Führerprinzip im Betrieb). -Kitt dafür war der Antisemitismus und die Volksgemeinschaftsideologie.
Aus undogmatisch marxistischer Sicht ist die orthodox-marxistische Dimitroffthese (Faschismus als Herrschaftsform der reaktionärsten und chauvinistischsten Kräfte des Kapitals) völlig zu Recht stets als einseitig und verkürzt kritisiert worden; sie berücksichtigt weder die Mentalitätsgeschichte des Antisemitismus,
noch die Volksgemeinschaftsideologie als »deutschen Sozialismus«.
Es gab Berührungspunkte zwischen »proletarischen« Nazis und chauvinistischen Nationalkommunisten in der Weimarer Republik. In Rußland gibt es ähnliche Bündnisse (Nationalbolschewismus) wieder. Es handelte sich dabei nicht nur um strategische Querfrontkonzepte. Punktuell gab es Überschneidungen zwischen »völkischen Stalinisten« und der »Ehre der Arbeit« in der SA. Die Stalinisten argumentierten in Osteuropa völkisch (slawischer Urgrund etc.). Stalin betrieb eine völkische Politik in der Sowjetunion mit der Praxis des Genozids. Hier hat die dogmatische Linke an ihrer Geschichte eine Menge aufzuarbeiten. Was in der antideutschen Debatte allerdings abläuft, ist etwas anderes als eine Reflektion über Querfront, linken Antisemitismus etc. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Weil Antisemiten von nationaler Befreiung reden, sind nationale Befreiungsbewegungen längst nicht antisemitisch.
Weil Antisemiten gegen das »jüdische Finanzkapital« hetzen ist Kritik am Finanzkapital nicht automatisch antisemitisch. Die mögliche Konsequenz wäre ein beliebiges Mundtotmachen antikapitalistischer Kritik.
Alle oben erwähnten Merkmale des Antisemitismus treffen auf die Antifa-AG nicht zu. Sie vertritt nicht einmal ansatzweise einen völkischen Standpunkt. Auch ein biologistisches oder metaphysisches Weltbild ist bei der Antifa-AG nicht zu entdecken. Ebensowenig hat die Antifa-AG einen statischen Kulturbegriff.
Der Stein des Anstoßes': die von der Antifa-AG verwendete Karikatur zeigt Mitglieder der israelischen Armee und Regierung (mithin Personen der herrschenden Klasse!) als Mäuse in einem Käse, welcher die palästinensischen Gebiete darstellen soll, und der Käse wird von den Mäusen ausgehöhlt.
Das ist an der Verwendung dieser Karikatur problematisch: Da es die antisemitische Stereotype gibt, Juden mit Ungeziefer gleichzusetzen, kann diese Karikatur auch so antisemitisch rezipiert werden, wenn dem Rezipienten die Reflexion auf den Klassenantagonismus nicht (mehr) möglich ist, mithin dieser unterschiedslos jeden personifizierten israelischen Funktionsträger aus der herrschenden Klasse mit »dem« jüdischen Volk oder mit »dem Juden« identifiziert. - Das hätte die Uni-Antifa-AG bedenken müssen: daß es um die marxistische Bildung innerhalb der Linken nicht mehr allzu gut bestellt ist. Andererseits kann man ja auch nicht ahnen, daß hinter jeder noch so unscheinbaren Ecke wieder ein (anti-)deutscher Blockwart lauert.
Flugschrift sopos 5/2003 www.sopos.org