Dokumentiert aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 30.04.2005:
Facetten des Antisemitismus
Ist der Judenhass in Frankreich besonders virulent?
Seit einiger Zeit macht das hässliche Phänomen von sich
reden, gerät Frankreich zunehmend in den Pauschalverdacht, ein
Land zu sein, in dem der Antisemitismus besonders virulent ist. Die
Statistik jedenfalls liefert dafür die einschlägigen Beweise.
Wurden zwischen 1995 und 1999 nur jeweils unter hundert antisemitische
Gewaltakte gegen Einrichtungen oder Personen von den Behörden als
eindeutige Verstöße gegen das Gesetz, das seit dem 1. Juli
1972 rassistisch motivierte Taten unter besondere Strafandrohung
stellt, registriert, nahm deren Zahl seither erheblich zu: Im Jahr 2000
wurden 743 antisemitische Gewalttaten protokolliert, eine Zahl, die
2001 zwar auf 216 sank, um in 2002 auf den bisherigen Rekord von 932
Delikten zu steigen, während für 2003 ein leichter
Rückgang auf 588 verzeichnet wurde.
Die Zahlen lügen zwar nicht, sind aber dennoch allzu pauschal, da
sie die unterschiedliche Schwere der Gewalttaten nicht gewichten,
insofern sie Hakenkreuzschmierereien an Gebäuden, die zur Anzeige
gebracht wurden, ebenso verzeichnen wie antisemitische
Äußerungen in den Medien oder antisemitisch motivierte
Angriffe auf Personen. Nimmt man aber nur die Zahl der antisemitischen
Tätlichkeiten gegenüber Personen, ergibt sich ein wahrhaft
erschreckendes Bild, denn diese wurden erstmals im Jahr 2000 insgesamt
elfmal registriert, stiegen in 2002 auf 18 und beliefen sich im
vergangenen Jahr auf 117. Laut einer im April 2003
veröffentlichten Umfrage bekennen sich 9 Prozent der Franzosen
offen dazu, „Juden zu hassen“, eine Zahl, die in der Altersgruppe von
18 bis 24 sogar 14 Prozent beträgt.
Rechtfertigen aber diese Zahlen den verschiedentlich
geäußerten Verdacht, in Frankreich entwickele sich ein
neuer, sehr rabiater Antisemitismus? Eine differenzierte und
überzeugende Antwort gibt darauf die Untersuchung, die der
angesehene Soziologe Michel Wieviorka, Forschungsdirektor an der „Ecole
des hautes études en sciences sociales“, nach über
zweijähriger Feldforschung vorgelegt hat („La Tentation
antisémite. Haine des Juifs dans la France d'aujourd'hui“,
Verlag Robert Laffont, Paris). Die Gretchenfrage nach der
tatsächlichen Bedeutung des Antisemitismus in der
französischen Gesellschaft beantwortet er wie folgt: „Der
Antisemitismus nimmt zweifellos zu, insofern er sich in
unterschiedlichen sozialen Milieus immer tiefer in die
französische Gesellschaft hineinfrisst. Andererseits weist er aber
keineswegs die Exzessivität auf, die ihn als ein massives oder
generelles Phänomen kennzeichnete oder als eines, dessen sich
einflussreiche soziale oder politische Gruppen bedienten.“
Sonderfall Elsass
Nach den Untersuchungen Wieviorkas sind in Frankreich unterschiedliche
Formen des Antisemitismus virulent. Zum einen gibt es hier den
„globalen Antisemitismus“, der sich weltweit als ein affektiver Reflex
auf den Nah-Ost-Konflikt deuten lässt und der sich vor allem von
der altehrwürdigen Legende einer angeblichen jüdischen
Weltherrschaft nährt. Daneben lassen sich besondere, orts- oder
milieuspezifische Antisemitismen dingfest machen, die ihre Ursache im
Rassismus wie in dem damit unmittelbar zusammenhängenden sozialen
Ausschluss haben, den vor allem die bereits in Frankreich geborenen
Kinder der Einwanderer aus den nordafrikanischen Staaten erleben.
Zum anderen gibt es einen Antisemitismus, der sich als eine allergische
Reaktion auf einen jüdischen „communautarisme“, also auf ein
besonders ausgeprägtes und auf Exklusivität bedachtes
jüdisches Gemeinschaftsleben erklären lässt. Das Exempel
dafür liefert der Ort Sarce1les im Einzugsbereich von Paris, in
dem eine starke jüdische Minderheit ansässig ist, die ihre
Gruppensolidarität und religiöse Exklusivität besonders
betont und damit ein populistisches Ressentiment seitens der anderen
hier lebenden sozialen Gruppen hervorruft. Schließlich lassen
sich auch noch die „traditionellen“ Spielarten eines katholischen,
religiös fundierten oder rassisch-ideologisch motivierten
Antisemitismus feststellen, der im Umfeld der extremen Rechten
anzutreffen ist.
Alle diese Antisemitismen, so Wieviorka, sind aber
Äußerungen eines jeweils autonomen Ressentiments. Das
heißt also: Die Protagonisten agieren nicht, wie dies
gelegentlich vermutet wird, auf der Basis einer ihnen gemeinsamen, wenn
auch losen politisch-ideologischen Übereinstimmung. Diese
Feststellung ist entscheidend, denn sie zeigt, dass der zweifellos in
Frankreich anzutreffende Antisemitismus nicht als ein lediglich
generelles gesellschaftlich-politisches Phänomen identifiziert
werden kann, sondern dass es gilt, seine je unterschiedlichen lokalen
und sozialen Ursachen zu erkennen, wenn man ihn bekämpfen will.
Dass die notwendige Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus folglich
viel differenzierter geführt werden muss, um erfolgreich zu sein,
dafür gibt die Untersuchung zahlreiche sehr aufschlussreiche
Hinweise.
Im nordostfranzösischen Roubaix, einem der sozialen Brennpunkte
Frankreichs, machte Wieviorka beispielsweise die Feststellung, dass,
wenn sich die lokalen Politiker auf einen Dialog vor allem mit den
Jugendlichen über ihre spezifischen Probleme wie Arbeitslosigkeit,
polizeilichen Rassismus oder das unzulängliche Angebot an
Freizeitgestaltung einließen, antisemitische
Äußerungen, die sonst sofort laut wurden, rasch völlig
verstummten. Hinsichtlich der Schulen in jenen sozialen Problemzonen,
die als eine Brutstätte des unter Teilen der französischen
Jugend besonders heftig grassierenden Antisemitismus gelten, kommt
Wieviorka zu der kaum überraschenden Einsicht, dass das
französische Erziehungswesen hoffnungslos der gesellschaftlichen
Entwicklung hinterherhinke. Dem sei es zuzuschreiben, dass die Lehrer
zwar den in der Schülerschaft verbreiteten Antisemitismus nicht
leugneten, ihn aber lediglich als ein Teilphänomen anderer, rapide
anwachsender Konflikte und Spannungen ansähen und ihn folglich mit
dem Bandenwesen, dem gewalttätigen Sexismus oder der allgemein
feststellbaren Verrohung auf eine Stufe stellten und ihm deshalb nicht
die gebotene Aufmerksamkeit schenkten.
Einen regionalen Sonderfall, in dem vor allem, der „traditionelle“
Antisemitismus virulent ist, stellt Wieviorka für das Elsass fest.
Hier sei ein Judenhass anzutreffen, dessen Ursachen sich mit dem
besonderen historischen Schicksal des Landstrichs erklären lassen,
der 1871 vom Deutschen Reich annektiert, 1918 wieder zu Frankreich
gekommen sei, um zwischen 1940 und 1944 erneut von Deutschland
vereinnahmt zu werden. Dieses Trauma habe im Elsass eine
„Vergangenheitsbewältigung“ weitgehend vereitelt. Mit der Folge,
dass zwei rechtsextremistische Parteien besonders stark seien: Le Pens
„Front national“ sowie die regionale Bewegung „Alsace d'abord“. Beide
Parteien instrumentieren den Antisemitismus, der hier wie nirgendwo
sonst in Frankreich gewaltbereit erscheint. Eine Illustration für
diesen Befund liefern die im Elsass besonders häufig vorkommenden
Schändungen jüdischer Friedhöfe, deren Urheber sich
ausnahmslos aus der rechtsradikalen Skinhead-Szene rekrutieren.
Die von Michel Wieviorka und seinem Team von zwölf Mitarbeitern
erstellte minutiöse Durchleuchtung des Antisemitismus in
Frankreich ist im besten Sinne ein Werk der Aufklärung, weil es
die dringend gebotene Versachlichung dieses heiklen Problems
entschieden befördert. Gestützt auf diese Analyse lassen sich
zum einen gezielte Strategien entwickeln, mit denen das Phänomen
eines überbordenden Judenhasses wenn nicht beseitigt, so doch
eingedämmt werden kann.
Zum anderen nimmt diese Studie all denen den Wind aus den Segeln, die
mit ihrem einschlägigen Pauschalverdacht gegenüber der
französischen Gesellschaft und Politik ihre eigenen Ziele
verfolgen. Wer dennoch versucht sein sollte, weiterhin in dieses Horn
zu stoßen, läuft nun das Risiko intellektueller
Unredlichkeit. JOHANNES WILLMS
(Weitere Artikel, Reportagen und Kommentare aus der "Süddeutschen Zeitung" finden sich unter: www.sueddeutsche.de)