Der folgende Beitrag ist der Zeitschrift Dritte Welt, 6/1988 entnommen:

Erich Fried:

Von Opfern zu Tätern

Schuld und Mitschuld am Verbrechen gegen das palästinensische Volk

Täglich die Nachrichten: "Zwei oder drei Palästinenser erschossen." Manchmal sind es mehr, sogar zehn oder zwölf. Doch irgendwie helfen einem die Medien, sich daran zu gewöhnen, so wie man sich früher an die Taten der USA in Vietnam oder an die Morde der Contras in Nicaragua gewöhnt hat. Aber man darf sich an die Verbrechen des Shamir-Rabin-Regimes in Israel an den Palästinensern genau so wenig gewöhnen wie an jene älteren Morde. Die israelische Unterdrückungsregierung ist ebenso wie ihre südafrikanischen Bundesgenossen zu einer Verbrecherregierung geworden.

In der Bundesrepublik aber herrscht noch systematische Desinformation. Über den Mordüberfall des israelischen Geheimdienstes in Tunis wird gelogen, es handele sich vielleicht nur um innere Konflikte zwischen verschiedenen palästinensischen Terrorgruppen. Das ist bewußte Lüge. Einer der führenden israelischen Geheimdienstler hat kurz vor dem Morden in Tunis der rechtsradikalen israelischen Zeitung "Daval" gesagt, der Geheimdienst werde die Führung der PLO im Lande und jenseits der Grenzen liquidieren. Das war klare Sprache.

Es ist außerdem ebenso ungerecht, die palästinensische Freiheitsbewegung als Terroristen zu bezeichnen, wie es ungerecht war, wenn die Nazis die französischen oder jugoslawischen Widerstandskämpfer Terroristen nannten. Auch hier wie damals ist entscheidend, wer wessen Land besetzt hat, wer wen vertrieben hat.

Ich wurde als Kind jüdischer Eltern durch Hitlers Einmarsch in Österreich vor einem halben Jahrhundert aus meinem Land vertrieben. Deshalb weiß ich, daß Solidarität den Vertriebenen gebührt, nicht den Vertreibern. Es ist auch nicht so, als gäbe es für den palästinensisch-israelischen Konflikt keine Lösung. Eine internationale Konferenz könnte zur Anerkennung eines Palästinenserstaates und gleizeitigen Anerkennung Israels führen. Beide müßten durch die Großmächte garantiert sein. Gegen diese Lösung ist der rechtsradikale Shamir, und gegen diese Lösung ist die Reagan-Regierung in den USA.

In Deutschland sollte man sich daran erinnern, daß der Hitlerfaschismus sich nicht nur am Schicksal der Juden schuldig gemacht hat, sondern auch an dem Schicksal der Palästinenser mitschuldig ist. Ohne Hitlers Judenvertreibung und Judenmorde wären nie genug Einwanderer nach Palästina gekommen, um die Palästinenser unterdrücken zu können. Darum haben gerade Menschen in Deutschland die Pflicht, nicht den Blick abzuwenden von den Verbrechen an den Palästinensern, sondern in Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, in allen linken Gruppen, am Arbeitsplatz, an Schule und Hochschule mit den Palästinensern solidarisch zu sein, ob es sich um aufklärende Information handelt, um Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Spenden oder auch nur um die Diskussionen. Das alles gilt der Freiheit und dem Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und auf einen palästinensischen Staat.

(Quelle: Palästina-Bulletin, Bonn, Nr. 17/29.4.1988)