Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Als Antwort auf eine offenkundig wahltaktisch bedingte “Öffnungsgeste”
des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi gegenüber
den Gewerkschaften des Landes zwei Tage zuvor gab der scheidende Generalsekretär
des größten Gewerkschaftsbundes CGIL, Sergio Cofferati, der großen
linksliberalen Tageszeitung “la Repubblica” für die Ausgabe vom
26. Mai 2002 das folgende Interview, in dem er jene “Öffnung”
zwar als “Falle” entlarvt, aber auch seinen Willen zur Fortsetzung der Sozialpartnerschaft
bekundet, wenn nur der Kündigungsschutzartikel 18 (des Arbeiterstatutes)
unverändert erhalten bleibt.
Das Interview:
Der Führer der CGIL: Der Ministerpräsident läßt
jede Entscheidung hinausschieben, um den Stichtag 30. September zu überschreiten.
"Berlusconi bereitet die Falle
gegen das Referendum über den Artikel 18 vor.”
Massimo Giannini
ROM - Sergio Cofferati, was antwortet der Führer der CGIL auf den
Vorschlag des Ministerpräsidenten <Silvio Berlusconi> ?
Ist er einverstanden, den Dialog nach diesen Kommunalwahlen neu zu eröffnen
oder nicht ?
“Meine Antwort ist: Nein. Beim gegenwärtigen Stand ist das, was von
Berlusconi gekommen ist, kein Vorschlag, sondern nur ein unverschämter
Zug im Wahlkampf. Perspektivisch ist der Vorstoß von Berlusconi eine
Falle.”
Warum eine Falle ?
“Ich sehe eine tückische Absicht in diesem Versuch jede Entscheidung
über den Artikel 18 zeitlich weiter hinauszuschieben. Berlusconi hat
Angst vor einem Abschaffungsreferendum gegen ein eventuell vom Parlament
gebilligtes Gesetz über diese Materie. Er hat Angst, daß es im
nächsten Jahr zu einer derartigen Konsultation des Volkes <einem
Volksentscheid> kommen kann. Das wäre für diese Parlamentsmehrheit
ein <zeitlich> zu naheliegender und gefährlicher politischer Test.
Gleichzeitig weiß der Ministerpräsident sehr gut, daß um
im Jahr 2003 abzustimmen der letztmögliche Zeitpunkt für die Vorlage
der Frage und für die Sammlung der Unterschriften der kommende 30.September
ist. Wenn dieser Termin verpaßt wird, verschiebt sich das Referendum
automatisch auf 2004 - ein kompliziertes Jahr, in dem man eine Anhäufung
von Wahlen riskiert, weil da auch die Europawahlen stattfinden. Das ist der
Grund, warum die Regierung in diesem Moment daran arbeitet, daß das
Gesetz nicht vor September von den Parlamentskammern verabschiedet wird.
So verhindert sie das Referendum.”
Das bedeutet, daß Sie in Rechnung gestellt haben, zu verlieren und
daß es am Ende notgedrungen zum Referendum kommt ?
“Im Gegenteil. Diese Angst der Regierung bestätigt mich in dem Bewußtsein,
daß - wenn die Gewerkschaft jetzt vereint agiert - sie die Partie gewinnt
und die Regierung besiegt. Das zwingt sie zur Kapitulation, zur Streichung
der <neu eingefügten> Normen beim Artikel 18 und macht jedes Referendum
überflüssig. Deshalb ist <jetzt> der Moment, um unsere Protest-
und Kampfaktionen zu verstärken.”
Berlusconi öffnet Euch einen Spalt breit und Sie machen sofort dicht.
“Es gibt keinen Spalt / keinen Lichtschein. Der Ministerpräsident setzt
seine Mittel der Verkündung in einer Fernsehübertragung ein - zufällig
immer in derselben als ob keine anderen Orte existierten, um mit den Italienern
zu kommunizieren. Das, was er macht, ist reine Taktik. Zum Kern der Sache
sagt er kein Wort.”
Aber er schlägt Euch ein “großes Abkommen” vor, das Fiskus,
<Alters- und Krankheits-> Vorsorge sowie Arbeit umfaßt und
im Austausch jede Entscheidung über den Artikel 18 aussetzt. Ist das
eine Spieleröffnung oder nicht ?
“Das ist dasselbe Vorhaben, das er vor drei Monaten formuliert hat und das
wir zurückgewiesen haben. Mit diesem Auftritt bestätigt die Regierung
einerseits (über die Vorbereitung der Falle bezüglich des Referendums
hinaus) ihre negativen Absichten in bezug auf das System der <Arbeits->
Rechte, weil sie ankündigt in jedem Falle in den Artikel 18 eingreifen
zu wollen. Andererseits zwingt sie die Gewerkschaft dazu unter einem Damoklesschwert
zu verhandeln: Wenn Ihr heute ein Abkommen mit uns macht, können wir
die <Zahl der> Fälle reduzieren, in denen wir die Schutzbestimmungen
des Arbeiterstatutes nicht mehr anwenden werden. Das ist keine Spieleröffnung.
Allenfalls ist es die übliche Erpressung. Und wenn die Gewerkschaft
da mitmacht, begeht sie Selbstmord.”
Wenn der Palazzo Chigi <als italienischer Regierungssitz>
Euch am Dienstag zu sich ruft, um über Steuern, Renten und den neuen
Wohlfahrtsstaat zu diskutieren, werden Sie also nicht hingehen ?
“ Sehen wir uns an, was dieses ‚große Abkommen‘ ist, von dem der Ministerpräsident
spricht. In bezug auf den Fiskus hat es diese Einberufung bereits gegeben
und wir sind hingegangen. Schade, daß sie erst kam nachdem die Abgeordnetenkammer
die <entsprechende> Vollmacht bereits gebilligt hatte. Und schade,
daß wir Einwände nur gegen bereits vollendete Tatsachen erheben
konnten, denn für uns ist jene Reform nicht in Ordnung, weil sie das
Steueraufkommen sinken läßt, die Einkommenspolitik sprengt und
vor allem einen unvermeidlichen und sehr harten Kampf um Lohnnachschläge
auslöst, weil die tarifvertraglichen Erhöhungen den fehlenden Effekt
der Verteilungspolitik werden kompensieren müssen. In Sachen Renten
ist bislang nie irgendeine Auseinandersetzung <am Verhandlungstisch>
gefordert worden. Wir bleiben gegen die Vollmacht, die das gesamte Vorsorgesystem
über eine frevelhafte Beitragsbefreiung zum Absturz bringt und die dennoch
für die Regierung und für <den wichtigsten italienischen Unternehmerverband>
die Confindustria ein unverzichtbarer Punkt bleibt. Auch bezüglich dessen
ist die Konfrontation unvermeidlich und sehr hart.”
Bleiben die sozialen Abfederungen.
“Ich werde mich nur dann hinsetzen, um über soziale Abfederungen zu
verhandeln, wenn die Regierung vorher die Normen in bezug auf den Artikel
18 gestrichen hat. Unsere Position zu dem Thema ist bekannt: Sie müssen
überdacht werden. Man muß von der Logik der reinen Integration
des Einkommens zu jener des permanenten Bildungskreislaufes übergehen.
Um dies zu tun, sind beträchtliche Finanzmittel notwendig. Hat die Regierung
neue Ideen vorzubringen ? Vorläufig sind wir gegenüber einer
Vollmacht standfest, die eine kostenneutrale Revision der sozialen Abfederungen
vorsieht. Wie Sie sehen, ist der Zustand der Verhältnisse in einzelnen
Punkten dieses imaginären ‚großen Abkommens‘, das mit der Regierung
abzuschließen ist, verheerend.”
Schuld daran ist auch die Gewerkschaft, die fortfährt jede Wiederannäherung
zu verweigern.
“Es gibt keine Wiederannäherung. Es gibt nur Taktik und Schizophrenie.
Streckenweise gibt es Arroganz: Wir machen mit den Reformen weiter und wir
machen sie so, wie wir sie wollen. Andererseits gibt es <auch> Furcht:
Bemühen wir uns, dialogbereit zu erscheinen, <denn> so reduzieren
wir die Wirkung der Reaktionen der Gewerkschaft. Das Ergebnis ist ein für
die Wirtschaftspolitik ruinöses Vorschlagspaket und eine Nebelbank aus
sehr vielen Worten. Kein Treffen und jeden Tag ein Minister, der etwas anderes
sagt. In dieser Situation befindet sich der Konflikt der Sache nach. Und
leider ist er dazu bestimmt, erbitterter zu werden. Es nähert sich das
doppelte Fälligkeitsdatum des Wirtschaftlichen und Finanziellen Plandokumentes
(DPEF) und des Haushaltsgesetzes. Hat die Regierung die Absicht, sich mit
den sozialen Parteien auseinander zu setzen oder nicht ? Niemand hat
eine Antwort darauf gefunden. Unterdessen verschlechtert sich der konjunkturelle
Rahmen immer mehr und ist sehr viel schwerwiegender als ihr zur Schau gestellter
Optimismus.”
Wirtschaftsminister Tremonti scheint überzeugt die Voraussagen einzuhalten.
“Die Zahlen geben ihm auf eklatante Weise Unrecht. Das Wachstum wird 2002
um 1,2% herum liegen. Ich sage leider, weil ich einen Konflikt mit der Regierung
über den umzuverteilenden Reichtum und nicht über weitere zu verhindernde
Opfer vorziehen würde. Bedeutende Teile des 100-Tage-Paketes und des
Haushaltsgesetzes vom vergangenen Jahr offenbaren derzeit ihr Scheitern.
Ein exemplarischer Fall dafür ist das Auftauchen <aus der Schattenwirtschaft>.
Leider taucht nichts auf.”
Sie wiederholen einige Male “leider”, was Vielen vorgeschoben erscheint.
Wenn es wahr ist, daß sie <nach dem Ausscheiden aus der CGIL-Führung
Ende Juni 2002 wegen Erreichens der Altersgrenze> Politik machen werden,
mißfällt es Ihnen in Wirklichkeit durchaus nicht, daß die
Dinge für die Regierung schlecht laufen.
“Ich werde die Gewerkschaft Ende Juni verlassen und zu Pirelli zurückkehren.
Folglich habe ich keine politischen Absichten und es mißfällt
mir sehr, wenn sich die Politik der Mitte-Rechten als unwirksam erweist,
da diejenigen, die sie vertreten, die Ersten sind, die die Zeche dafür
bezahlen. Aber auch wenn es mir nicht gefällt, kann ich über das
Scheitern der Regierung doch nicht schweigen.”
Einige Anzeichen von Ungeduld kamen auch von der Confindustria.
“Auch in dieser Hinsicht sehe ich keine Wende. Die Fehler der Regierung werden
durch ein enges und freundschaftliches Verhältnis zur Confindustria
ausgelöst. In dem Bericht von Confindustria-Präsident D’Amato <kürzlich
auf der Jahrestagung des Verbandes in Parma> entspringen die kritischen
Töne zur Regierung einer Ungeduld bezüglich gemachter und noch
nicht gehaltener Versprechen. Aber jenseits dessen gibt es die Bestätigung
einer wirtschaftspolitischen Linie, die absolut geteilt wird. In den Worten
des Führers der Industriellen gibt es keinerlei Kritik an einer Regierungsstrategie,
die sich in 14 Monaten als unwirksam erwiesen hat. Es gibt keinerlei Nachdenken
über den Zustand der Industrie, kein einziges Wort zur Krise von FIAT...”
Sagen Sie unterdessen etwas dazu ! Wie denken Sie darüber ?
“Die Krise von FIAT beunruhigt mich sehr. Ich betrachte sie als die Frucht
einer sehr schwerwiegenden Unterschätzung durch das Unternehmen und
- heute - durch die Regierung, die weitere Verschrottungen verhindern und
über die Anreize in die Innovation investieren müßte.”
Kehren wir zur Confindustria zurück.
“D’Amato stellt keine selbstkritische Reflektion über das Erfordernis
eines Rückgewinnes von Konkurrenzfähigkeit an, die um die Innovation
und die Qualität kreist. Das war die wahre Botschaft des EU-Gipfels
von Lissabon: die Ökonomie des Wissens und nicht das, was D’Amato, mit
einem niemals zuvor gesehenen ideologischen Fingerabdruck, der die Konkurrenzfähigkeit
nur in Begriffen von Flexibilität und Druck auf die <Arbeits>Rechte
dekliniert, in seine Rede geschrieben hat. Er ist soweit gegangen zu behaupten,
daß die selbständige Arbeit in Italien aufgrund der Rigiditätsexzesse
des Systems verbreitet ist. Eine abartige These.”
Aber zum ersten Mal hat er auch der Gewerkschaft Anerkennung gezollt.
“Zu sagen, daß die Gewerkschaft in Italien eine bedeutende Rolle gespielt
hat, ist so als ob man sagt, daß es in Rom das Kolosseum gibt. Das
ist eine der ganzen Welt bekannte Sache. Sie wird nur von einem Teil der
italienischen Industriellen ignoriert. Tatsache ist, daß die beeindruckende
Kurzsichtigkeit der Confindustria und der Regierung mittlerweile zu einem
ernsten Problem für das Land geworden ist.”
Und denken Sie, das mit einem weiteren Generalstreik zu lösen ?
“Ich denke, daß wir die Gründe unseres Kampfes in den nächsten
Tagen bestätigen und ihnen wieder Nachdruck verleihen müssen. Wir
müssen sofort einen neuen Kampfverlauf festlegen. In diesem Rahmen ist
ein zweiter Generalstreik nützlich, um die Regierung davon zu überzeugen
die Normen bezüglich des Artikels 18 zu streichen. Wenn dies geschieht,
wird die Gewerkschaft ihre Vorschläge für die Reform des Wohlfahrtsstaates
und des Arbeitsmarktes vorlegen. Aber bis zu jenem Augenblick müssen
wir unsere Protestaktion maximal ausdehnen. Auch deshalb, weil ich in Europa
eine besorgniserregende Entwicklung sehe.”
Worauf beziehen Sie sich ?
“Es gibt einen Plan, der die europäischen Rechten miteinbezieht, deren
Regierungen derzeit versuchen das Projekt einer Union zu blockieren, die
die Ökonomie des Wissens <als Konzept> übernimmt, um <stattdessen>
den Schwerpunkt auf eine Politik der Aggression gegen die Schutzbestimmungen
zu verschieben. Das geschieht derzeit in Italien und es geschieht auch in
Spanien, wo <der Ministerpräsident> Aznar, der immer Abkommen
mit der Gewerkschaft ausgehandelt und abgeschlossen hat, zum ersten Mal einseitig
beschlossen hat den Bereich der sozialen Abfederungen zu verändern und
den ersten Generalstreik für den 20. Juni kassiert hat. Gegenüber
diesen Provokationen und diesen Herausforderungen muß die europäische
Gewerkschaft mobilisieren und mobilisiert sie <auch bereits>. Es ist
nicht ausgeschlossen, daß auch ich am 20. Juni nach Sevilla fahre,
um zusammen mit den spanischen Kollegen zu demonstrieren.”
Gerademal 10 Tage vor Ihrem Abschied von der CGIL. Glauben Sie nicht,
daß Berlusconi die Auseinandersetzung auch deshalb in die Länge
zieht ? Mit der Gewerkschaft zu verhandeln, ohne Cofferati im Weg stehen
zu haben, wird leichter werden oder nicht ?
“Unsere Linie ist dieselbe - heute und im Herbst. Weil es die Linie der CGIL
ist und nicht die ihres Sekretärs. Wenn Berlusconi dem Irrtum aufsitzt,
daß sie sich ändert, begeht er den x’ten Fehler.”
Vorbemerkung, Übersetzung und Anmerkungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover