EXPO - Widerstand:

 “Immer, immer weitergehen, wenn es auch schwer fällt ...“
oder radikale Selbstkritik und politischer Neubeginn?

Da werden sich die herrschenden Eliten aber vor Angst fast in die Hosen gemacht haben. Was Anfang Juni unter dem Motto „Die Beherrschung verlieren“ an so genanntem „Widerstand“ gegen die EXPO zelebriert wurde, scheint tatsächlich geeignet, die Beherrschung zu verlieren - allerdings gegenüber den gesammelten Peinlichkeiten der autonomen Restlinken. Wir halten es, auch wenn der Einwand „Ihr hättet Euch ja einbringen und alles besser machen können“ vorhersehbar ist, für unbedingt notwendig, der allseits beliebten Mythenbildung und dem Ohnmachtsgefühl zu widersprechen. Angesichts der Anlage und des Verlaufs der bundesweiten Demonstration und der folgenden Aktionstage stellt sich für uns die Frage, ob sich hier nicht eher der weitere Niedergang der autonomen Rest-Szene gezeigt hat.

„Selbst gebastelte Pressebinden am Lauti“
Zur Demo selbst kamen, dank ausschließlicher Szene-Orientierung bei der Mobilisierung, gerade einmal gut 1000 Leute: Bauwägler, Antifa-Kids, Spät-Ökos und eine handvoll Altvorderer, überwiegend aber sehr junge Leute. Der von interessierten Kreisen des Sicherheitsapparates aufgeblasene bundesweite Charakter der Anti-EXPO-Szene erwies sich spätestens zu diesem Zeitpunkt als Popanz: Offenbar lockte das Ereignis aus den verbliebenen autonomen Hochburgen wie Berlin und Hamburg kaum jemand hinter dem Ofen (beziehungsweise aus dem Freibad) hervor.
Die Demo selbst erwies sich als Ansammlung von Peinlichkeiten, wie den „selbst gebastelten Pressebinden am Lauti“ und einer satten Stunde Verspätung bei der Auftaktkundgebung, weil niemand in der Lage war, die Lautsprecheranlage zu bedienen. Ohne Szene-Pappis und Mammis, die in bösen Briefen an das autonome Gemeindeblatt als unsolidarisch  angepöbelt wurden, weil sie  moderate „systemimmanente“ Kritik an den so gut wie gar nicht vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen geübt haben, wäre nicht einmal der Betrieb und Schutz des Lautsprecherwagens gesichert gewesen. Nach einer Stunde Verspätung ging es dann los, aber die große Innenstadtroute führte im Wesentlichen in die menschenleere Pampa, beispielsweise zum weiträumig abgesperrten Aegidientorplatz.
Auch die Aktionstage fanden keine größere Resonanz; höchstens einige hundert Menschen quartierten sich in Hannover ein. Die folgende illegale Durchsuchung und Einschüchterung des Anti-EXPO- Camps wurde passiv erduldet; die nachfolgende Presseerklärung von Polizeipräsident Klosa verdeutlichte ziemlich gut die Kräfteverhältnisse: Ohne jeden Widerspruch konnte Hannovers Oberbulle öffentlich erklären, er gehe davon aus, dass das Signal der Durchsuchung von der Anti-EXPO-Szene schon richtig verstanden würde. (Gottlob prahlten die Bullen zwar auch mit ihren ausgezeichneten Informationen über die Anti-EXPO-Szene, suchten die Computer-Infrastruktur aber völlig vergeblich im Camp). Das klandestine Kleingruppenkonzept zum Eröffnungstag der Weltausstellung ging wie erwartet in die Hose: In kleinen Grüppchen wurden Leute, die versuchten, die ohnehin völlig leere Hildesheimer Straße zu blockieren, ohne viel Federlesen eingesackt. Wie denn auch sonst? Aus Ermangelung von zentralen Anlaufpunkten, von Ort und Zeit, zu der die Aktionen beginnen sollen, kann sich ja nirgends eine nennenswerte Blockade herauskristallisieren.

Ein paar Gedanken zum Kleingruppenkonzept
1. Angesichts des mentalen und organisatorischen Zustandes der Szene und der allgemeinen politischen Situation ist damit heute nicht viel zu reißen. Es mangelt zwar nicht an großen Sprüchen, nur wenige sind aber willens und in der Lage davon zumindest etwas zu realisieren. Infolgedessen ist das Scheitern dieses Konzeptes in der Praxis vorprogrammiert.
2. Ist diese Strategie politisch überhaupt sinnvoll? Abgesehen davon, dass sie strategisch fragwürdig ist, weil sie unter den gegebenen Bedingungen nur ins Leere laufen kann, ist sie unseres Erachtens erst in dem Moment sinnvoll, in dem „die Massen“ unsere inhaltliche Kritik bereits teilen bzw. selbst aktiv sind.
3. Schon das Zustandekommen der Entscheidung für ein solches Kleingruppenkonzept erscheint uns höchst fragwürdig. Auf einem der letzten Vorbereitungstreffen wurde das Konzept diskutiert, keinesfalls jedoch abgenickt, in dem Protokoll des Treffens später dann aber als beschlossen betrachtet und niemanden schien das zu stören: Plötzlich war es beschlossene Sache. Dies sagt im Übrigen auch Einiges über die Szenestrukturen aus, einige entscheiden, andere lassen sich Entscheidungen aufdrücken und maulen hinterher rum. Oder auch nicht. (Siehe auch den Text „Gedanken zum 1.6.“ in der RAZZ vom Juli)
Als winzigen Teilerfolg kann sich die Szene wohl nur die Abseilaktion am Südschnellweg zu Gute halten - boah ey, fast wie die von Greenpeace. Lustig, aber angesichts der neugierigen Massen, die am ersten Tag auf das Gelände geströmt sind, fast schon ein bisschen selbstmörderisch. Außerdem der Protest von 30 aufrechten Linksrucklern zur feierlichen Banddurchschneidung am Eingang. Der Kanzler soll ja sehr erbost gewesen sein. Im Allgemeinen scheint mittlerweile von offizieller Seite auf jede Form von Protest geradezu hysterisch reagiert zu werden. Was von einem schwachen Nervenkostüm der Herrschenden (und ihrer inneren Unsicherheit) nicht aber unserer Stärke zeugt. Rührend auch die Kissenschlacht am Aegi. Niemand hatte Mut, das auf der Straße zu tun: Protest findet auf dem Bürgersteig statt. Gottseidank waren so viele Bullen da, dass sie selber den Verkehr blockierten. Katastrophal dagegen der Kessel am Abend in der Innenstadt. 329 Leute eingesackt, etwa 160 Anklagen wegen Landfriedensbruch, 270 Stadtverweise und null Reaktion. Geradezu atemberaubend war allerdings die Begründung für diese desorganisierte Verantwortungslosigkeit: Eine zentrale Mobilisierung zu einer Blockade sei zu gefährlich, hieß es - was im Wendland seit 20 Jahren von stinknormalen bürgerlichen Ökos gemacht wird, soll den Revolutionären in Hannover also zu gefährlich sein.
Der so genannte Reclaim The Streets (RTS) am Samstag - ein echter Höhepunkt der Event-Kultur - war bestenfalls wegen des hysterischen Polizeieinsatzes bemerkenswert. Jeder macht, was er will, wann er will, wo er will. Was auf Straßenfesten als Kinderbelustigung angeboten wird - bunt Schminken, tanzen, mit bunter Kreide auf die Straße malen - veranlasste die Bullen hier, Greiftrupps in voller Montur durch die proppenvolle Innenstadt hecheln zu lassen, um auf der Straße tanzende Kinder einzukassieren. Immerhin war den Bullen der Einsatz so peinlich, dass er in den Meldungen der Polizei - Pressestelle einfach totgeschwiegen wurde. Bedenklich allerdings die extreme Opfermentalität, die früher an den „Gewaltfreien“ noch heftig kritisiert wurde. Und? Das war's dann.
Der „Doppelschlag“ lässt grüßen
Was großspurig mit „Seattle, London, Hannover“ angekündigt wurde, endete geradewegs in der Sackgasse der Bedeutungslosigkeit. So weit so schlecht, wenn es denn irgendeinen Lerneffekt auslösen würde. Doch das ist nicht der Fall, denn eine echte (über Technix hinausgehende) Selbstkritik wird in der Regel tunlichst vermieden. Die zurückhaltenderen Teile der Szene warten stattdessen mit zeitgeistgemäßem Minimalismus und Pragmatismus auf und erklären: Mehr würde halt heutzutage nicht gehen und immerhin habe man bewirkt, dass die Eröffnungsfeierlichkeiten nicht ohne Widerspruch über die Bühne gingen.
Für die weniger Zurückhaltenderen haben sich „die Unkenrufe aus verschiedenen Richtungen, die wieder mal alles Zerreden wollten und selbst dann oft in der konkreten Praxis gefehlt haben, nicht bewahrheitet“. Zwar streuen auch sie sicherheitshalber ein paar Floskeln Marke „Euphorie ist fehl am Platze“ ein, doch im Grunde ist klar: „Es ist ein Schritt gemacht worden. Der war sogar groß und besonders wichtig - denn es war der erste, der herausführte aus der Resignation und der selbst verschuldeten Phantasielosigkeit politischer Bewegung der letzten zehn oder sogar mehr Jahre. (...) Zu einer handlungsfähigen, widerständigen Bewegung führen jetzt viele weitere Schritte.“ Und: „Der weltweite Höhepunkt direkter Aktion und antikapitalistischen Widerstandes wird Ende September in Prag stattfinden.“ (RAZZ Nr. 124, Juli 2000, S.16) Die absurde Linksruck-Parole „Jetzt zum Doppelschlag ausholen!“ lässt grüßen. Für alles was nicht klappt(e), haben unsere Jungdynamiker dann auch gleich die passenden Sündenböcke parat: „die verkrusteten Strukturen altlinker Zusammenhänge (Gruppen, Einrichtungen, Organisationen, Medien, Verlage)“, die alles „dominieren“ (wenn sie es vorher nicht bereits „zerredet“ haben).

Hält man sich stattdessen an die Realität, so hat der Fakt, dass AP die paar Protestaktionen in ihren Meldungen erwähnte, wohl mehr mit der Schadenfreude der Amis wegen der schlechten Schlagzeilen von Seattle zu tun, als mit der ohnehin nicht sichtbaren Pressearbeit des Anti-EXPO-Bündnisses. Die Schutzbehauptung, man könne in der gegebenen politischen Situation nicht mehr Menschen gegen eine Kapitalismus - Jubelshow wie die EXPO mobilisieren, kann nur aus der bornierten, kleinkarierten Sekteninnensicht der Restszene verstanden werden. Hauptsache subkulturell, irgendwie noch radikal in der Geste und sich selbst als Event abfeiern.

Zwei Arten von Kritik

Kern der Weltausstellungskritik seitens der Szene ist eine im Wesentlichen ökologisch ausgerichtete Ideologiekritik, die angereichert wird mit der Legende von der allmächtigen Gehirnwäsche- Maschine Themenpark. Tatsächlich erweist sich die Propagandawirkung der EXPO im Wesentlichen als Flop und die Allmacht und der Glanz des globalisierten Kapitalismus wird bei einem EXPO-Besuch ziemlich handgreiflich und schnell reduziert auf eine schlechte Tourismusausstellung mit überteuerten Imbissbuden. Die EXPO-Macher tun unterdessen alles, um sich selbst in der Öffentlichkeit als unfähige Laienschauspieler zu diskreditieren. Der Eindruck, hier werde eine eher drittklassige Veranstaltung durchgezogen, liegt gar nicht so weit neben der Realität, denn im Grunde genommen ist die EXPO ein Kind der 80er Jahre und daher von der historischen Entwicklung längst überholt. Die ideologische Auseinandersetzung um Nachhaltigkeit interessiert innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Eliten heutzutage kein Schwein mehr.
Wir denken, dass der gesamte EXPO-Widerstand grundlegender kritisiert werden muss. Damit wenden wir uns auch vehement gegen die Ängstlichkeiten vor Grabenkämpfen und der Gefahr einer Spaltung. Worum es der Szene im EXPO-Widerstand eigentlich geht, wird deutlich, wenn man sich ansieht, was an der EXPO tatsächlich kritisiert wird. So wurden während der Demo am 27.5. neben der allseits beliebten Kritik, die die EXPO als das derzeit wichtigste ideologiebildende Projekt des deutschen Kapitals sieht, nur Redebeiträge zu den klassischen Szenethemen gehalten. Thematisiert wurden neben Abschiebeknästen die Vertreibung Obdachloser aus der Innenstadt, der Ausbau staatlicher Repressions- und Überwachungsorgane sowie Gentechnik und Atomkraftwerke.
Unerwähnt blieben hingegen das zu erwartende Milliardendefizit, das trotz Sparzwangs hauptsächlich aus öffentlichen Kassen finanziert werden wird, die Zusammensetzung von Aufsichtsrat und Vorstand der EXPO-GmbH, die Zuschläge der DB zu den Bahnfahrkarten samt Streichung des Wochenendtickets, die Opferung von Nahverkehrsstrecken zu Gunsten des S-Bahn-Netzes zur EXPO-Anfahrt, die verlängerten Ladenöffnungszeiten und die miesen Verträge der Zeitarbeitsfirmen. Weder hat es die im Vorfeld der EXPO versprochenen dauerhaften Jobs noch die prekären und mittlerweile wieder annullierten oder zur Disposition stehenden Kurzzeitverträge gegeben. Diese keineswegs vollständige Liste verdeutlicht, dass durch das Ausblenden dieser Aspekte jeder Kontakt zu Otto 1 Erna Normalbürger/in vermieden wurde. Der Unterschied zwischen den Themenbereichen liegt darin, dass man durch konkretere Beispiele eine ganze Reihe mehr Leute erreicht hätte.

Zukünftige revolutionäre Auseinandersetzungen können nicht von sozialen Randgruppen entschieden werden, weil ihnen die Machtmittel fehlen, um diese Art von Auseinan­dersetzungen wirkungsvoll führen und für sich entscheiden zu können. Aufgrund ihrer Lebenssituation sind sie in der Regel primär damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern:

Im Zusammenhang mit der EXPO-Kritik hätte es die Möglichkeit gegeben, Zusammenhänge aufzuzeigen, zu verdeutlichen, wessen Interessen warum und wie durchgesetzt werden und die Argumentation für kommende Auseinandersetzungen vorzubereiten. Auch wenn dies sicher nicht unmittelbar zur massenhaften Beteiligung der Conti- und VW-Belegschaften an konkreten Aktionen geführt hätte, so hätte hier die Möglichkeit bestanden, im Kampf um die Köpfe etwas voranzukommen. Der Kapitalismus muss als solcher kritisiert werden, und zwar nicht nur von den Randgruppen, sondern von den „normalen“ Leuten aus, anhand von ganz konkreten Beispielen. Dies setzt natürlich voraus, dass man mehr will, als das Umfeld seiner Kuschelgruppe zu erhalten.
Leider muss man aber feststellen, dass es den Wenigen, die sich an den Protesten beteiligten, mehrheitlich jedoch gar nicht um eine Verbreiterung des EXPO-Widerstandes und auch nicht um eine politische oder auch nur irgendeine Wirkung über die bornierten Grenzen ihrer Kleingruppe hinaus ging. Die kleinbürgerliche und moralische Art der Auseinandersetzung mit den Themen, die letztlich in den Redebeiträgen am 27.5. zur Sprache kamen, eignet sich bestenfalls zur Selbstbeweihräucherung und zur Abgrenzung von der großen Masse der Bevölkerung. Themen wie z.B. Gentechnik hätten nicht moralisch verurteilt, sondern in Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaft ideologisch kritisiert werden müssen. Aber wir werden den Eindruck nicht los, dass die Szene doch lieber unter sich sein wollte. Ihr fehlt nicht nur die Klassenverankerung, sie will anscheinend auch keine haben. Die Welt ist eben schlecht und man sollte sich auch nicht an ihr die Hände schmutzig machen. Viel hygienischer, bequemer und moralisch einwandfreier ist es natürlich, das Schicksal der Ärmsten der Armen und der am meisten Unterdrückten und Ausgebeuteten zu bedauern, auch wenn dies weitestgehend folgenlos bleibt.

Subkultur statt revolutionärer Politik

Der Schlüssel zur Erklärung dessen ist unserer Meinung nach die Tatsache, dass es sich bei Aktionen der Szene nicht in erster Linie um Politik handelt, sondern um subkulturelle Events. Alles wird von einem stark mittelschichtgeprägten Blickwinkel aus betrachtet. Die Herren Schröder und Fischer sind im Übrigen der beste Beleg dafür, wo diese 1968 aufgebrochene und nun in der „Neuen Mitte“ angekommene Mittelschicht mittlerweile steht und dass man als Linke längst nicht mehr auf sie bauen kann.
By the way: wir haben durchaus nichts gegen die Verbindung von linker / sozialistischer Politik und Kultur. Jede Bewegung, die entsteht, entwickelt auch ihre eigene (Klassen-)Kultur. In der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik gab es z.B. neben den politischen Parteien und Organisationen SPD, USPD, KPD, SAP, KPO, FAUD etc. und den Gewerkschaften eine enorme Spannbreite proletarischer Gegenkultur von den Arbeitersportvereinen über die „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ (AIZ) und diverse Musik- und Theatergruppen bis hin zur (nicht unumstrittenen) SEXPOl-Bewegung von Wilhelm Reich. Diese proletarische Gegenkultur hat tatsächlich etwas bewirkt (Stärkung des politischen und sozialen Zusammenhaltes der Arbeiterbewegung, Entwicklung ihres Servicebewusstsein und des geistigen Horizonts, Förderung eines dem bürgerlichen Konkurrenzdenken entgegengesetzten egalitären und solidarischen Denkens und Verhaltens, Bruch mit bürgerlichen Vorurteilen und Spießertum ...). Dies hatte zur Folge, dass sich selbst bedeutende bürgerliche Intellektuelle wie Tucholsky, Einstein, Heinrich Mann und John Heartfield auf sie bezogen haben.
Bei der Szene-Subkultur (bzw. dem, was davon übrig ist) ist freilich genau das Gegenteil der Fall. Ihr fehlt nicht nur die Verbindung zu einer Klasse oder Schicht, die in der konkreten historischen Phase durch ihre objektive Interessenlage zur Rebellion (oder gar zur Revolution) getrieben wird, wie es bei der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik oder auch den neuen Mittelschichten von Ende der 60er bis Anfang der 80er Jahre der Fall war. Ihr schwinden mittlerweile auch ganz massiv die materiellen Grundlagen, da die Nischen für ihre Fortführung aus ökonomischen und politischen Gründen immer kleiner werden Gleichzeitig findet innerhalb der Szene kaum eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, sondern nur ein noch weiterer Rückzug aus derselben statt. Oder die individuelle Reintegration in die bürgerliche Gesellschaft als anständige(r) Mittelschichtler(in). Vieles, was die Szene betreibt, erscheint wie ein Anknüpfen an die Fun- und Freizeitgesellschaft auf linksradikale Art. Und ganz besonders tut das die „Reclaim The Streets“- Party oder genauer gesagt: ihre deutsche Ausprägung.

„Eins teilt sich in zwei!“ (Mao Tsetung)

Da „Reclaim The Streets“ mittlerweile als ein ähnlich mystischer Erweckungsbegriff durch die Szene geistert wie „Seattle“, andererseits aber in Großbritannien (und besonders in England) durchaus ein reales und bedeutendes, neues gesellschaftliches Phänomen darstellt, werden wir versuchen, dazu demnächst einen längeren Artikel zu schreiben. Deshalb für heute nur soviel: Auch auf die RTS trifft zu, was die „AG 1.6.“ zum Thema Seattle zu Recht angemerkt, leider aber nicht auf die RTS-Aktion angewandt hat: „Es mag agitatorischen Wert haben, den aktionistischen Teil der Auseinandersetzungen in Seattle als Vorbild für die Kämpfe zu nehmen, dies müsste aber auch die spezifischen Bedingungen der Mobilisierung und Organisierung zum WTO in Seattle mit einbeziehen“ (RAZZ Nr. 124, Juli 2000, S. 13) Anders gesagt: Bei aller Freude über den und aller Solidarität mit dem in GB wieder auflebenden linken Widerstand gegen New Labour und altes Spießertum bringt es gar nichts, die dortige Art der Mobilisierung und Organisierung schlicht zu kopieren und zu glauben, damit sei alles in Butter. Eine derart hohle Herangehensweise ist ungefähr so erfolgsträchtig wie die SED-Politik unter der Parole „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ Und tatsächlich war nicht nur die Beteiligung an der RTS in Hannover verschwindend gering, sondern die Fröhlichkeit auch reichlich gekünstelt.
Dass der RTS-Aufruf zum 3.6. bar jeden politischen Inhaltes und darüber hinaus ziemlich verantwortungslos war, ist bereits mehrfach zutreffend festgestellt worden (am besten sicherlich von den „Spaßbremsen“ in der RAZZ Nr. 122 vom April 2000, S. 12). Doch ist das unseres Erachtens keine individuelle Schwäche der „hannöverschen Mittelstandshippies“ (ebenda), die ihn geschrieben haben. Der Trend zu Party statt Politik und geistiger Beschränkung auf „krasse Aktionsformen für krasse Ideen“ hat einen Großteil der autonomen Restszene ergriffen. Davon kündet die Kissenschlacht am Aegi ebenso wie die „krasse“ Aussage von „Erika“ zur Verteidigung der RTS: „Wer Flugis verteilen will oder ein Bierchen trinken, bitte sehr. Alle Formen des Protestes sind gleichberechtigt.“ (ebenfalls RAZZ 122, S. 12)
„Bierchen trinken“ als „Protest“ - auf dem Niveau bewegen sich die RTS in Großbritannien allerdings nicht! Dort sind sie entstanden als öko-alternativer Protest gegen die spießbürgerliche Kulturreaktion Thatcherismus und - ganz konkret das Verbot öffentlicher Partys
Nach heftigen internen Auseinandersetzungen (und Spaltungen!) haben sie sich seit April 1997 immer enger mit dem sozialen und politischen Widerstand der working dass (bspw; der Liverpooler  Docker, der Krankenhaus-Putzfrauen von Huttington oder subproletarischer Ghetto-Kids) „gegen den Kapitalismus“ bzw. seine Auswirkungen verbunden. Sie sind dort ein Phänomen, an dem sich Tausende beteiligen.

Genau das zeigt den grundlegenden Unterschied: während die RTS in GB für die Neuformierung, Politisierung und soziale Anbindung / Verankerung einer linksradikalen Jugendszene und -kultur stehen, bilden sie in der BRD einen weiteren Meilenstein in der Entpolitisierung, Isolierung und dem Niedergang der autonomen Restszene. Wenn zwei das Gleiche tun, muss es deshalb eben noch lange nicht das Gleiche sein (alte dialektische Weisheit!). Wobei dieser Prozess in der BRD verbunden ist mit einem Generationenkonflikt innerhalb der Szene.

Die RTS-Aktion und -Demo „gegen den Kapitalismus“ und anschließender Straßenschlacht direkt vor der Roten Flora in Hamburg am 30.4.2000 war der bisher deutlichste Beweis dafür. Doch auch in Hannover sind die altersmäßigen Trennungslinien sichtbar. Deshalb und da sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen lässt, ist der, aus dem - viel Richtiges beinhaltenden - „Ho, ho, ho, ... “-Papier von MAD, RAK u.a. deutlich herauszulesende Aufruf doch die autonome Szene der End80er Jahre wieder herzustellen zum Scheitern verurteilt. (Und das ist auch gut so!) Vielmehr muss es darum gehen, an den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen und an der wiedererwachten Thematisierung des Kapitalismus als zentralem Gegner und zentralem Problem (zumindest bei den RTS in GB und Hamburg) anzuknüpfen (was beileibe nicht bedeutet, dass die anderen Widersprüche belanglos sind, sondern dass sie hier ihren gordischen Knoten finden!) und von da aus eigenständige (Klassen-)kämpfe, politisches Bewusstsein und eine linke, proletarische Gegenmacht und Gegenkultur von unten zu entwickeln, um „dereinst“ tatsächlich eine sozialistische Revolution machen zu können.
Deshalb nocheinmal ganz deutlich gesagt: Wir haben nichts gegen Voküs, wenn sie denn tatsächlich Volksküchen sind! Und wir sind nicht gegen „Reclaim The Streets“-Aktionen, wenn es denn wirklich eine „Rückforderung der Straße“ auf der Straße ist und nicht auf dem Bürgersteig stattfindet. Doch um dahin zu kommen, müsste man sich eben der Gesellschaft bzw. Lohnarbeitern, kleinen Angestellten, der Masse der Hausfrauen, Erwerbslosen, Hauptschülern u.a. hier zu Lande öffnen, sich mit ihnen „gemein machen“ und einen großen Schritt in Richtung proletarischer Gegenkultur wagen. Ansonsten bleiben „Vokü“ und RTS die Farce, die sie bisher waren und sind.

No Future?

Die Frage, ob mit einer anderen Mobilisierung noch mehr Menschen zu bewegen gewesen wären, ist letztendlich spekulativ. Spannender als der Blick zurück, ist der Blick in die Zukunft: Auch wenn Resignation und Apathie die vorherrschende Stimmung dieser Zeit prägen, müssen wir uns als revolutionäre Linke überlegen, wie und mit welchen Bündnispartnern wir wieder aktions- und politikfähig werden können. Ansatzpunkte für eine solche Politik sind durchaus vorhanden: Angefangen bei den großspurigen Versprechungen von Arbeitsplätzen und Wohnungen der EXPO, die real bestenfalls ein paar mies bezahlte Verkäuferjobs in den Souvenir-Shops ergeben haben, über das Milliardenloch, das zu neuen Sozialkürzungen führt, bis zu den verlängerten Öffnungszeiten in den Konsumpalästen der City. Die Weltausstellung bietet eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich mit den Verlierern der Schröderschen „modernen“ Sozial- und Wirtschaftspolitik zusammenzutun. Die würden zwar auch nicht gleich begeistert auf die Straße stürmen, wenn wir beispielsweise im Mühlenberg oder in Vahrenheide demonstrieren würden, aber sie würden uns sicher eher zuhören, als der konsumfreudige Citoyen auf dem Kröpcke. Eine Demonstration in Vahrenheide hätte vielleicht keinen unmittelbaren Erfolg gehabt, wäre aber bei weitem zukunftsträchtiger gewesen.
Offenbar gibt es bei Einzelnen in der Szene mittlerweile durchaus Ansätze in dieser Richtung, z.B. das Vorhaben, ein Flugblatt zur miserablen Entlohnung, der Entrechtung und den Entlassungen vieler Jobber auf der EXPO zu machen und damit die vorhandenen Ansätze zu Widerstand zu unterstützen. Zu einer Mitarbeit an derartigen Projekten sind wir jederzeit bereit. Das Mystifizieren von Seattle, London, Prag bringt uns nämlich nicht voran.

Antifa-AG der Uni Hannover 25.7.2000