Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Vom 3. bis 5. Juni 2004 fand in Livorno mit 734 Delegierten und einigen Hundert Gastdelegierten anderer Gewerkschaften der 23. nationale Kongress der FIOM statt. Die dem Gewerkschaftsbund CGIL angeschlossene FIOM ist mit ihren offiziell knapp 350.000 Mitgliedern nicht nur die bei weitem größte Metallarbeitergewerkschaft Italiens, sondern auch die größte Einzelgewerkschaft des Landes. Zugleich bildet sie im Spektrum der etablierten Gewerkschaften den linken Flügel, was in den letzten drei Jahren zu mindestens vier bedeutenden Separatabkommen der Unternehmerseite mit den kleineren und braveren (z.T. sogar gelben) Branchengewerkschaften FIM-CISL, UILM und FISMIC führte. Die außerordentlich schwierige und gefährliche Situation, die sich daraus ergab, führte zur Vorverlegung des FIOM-Kongresses um zwei Jahre und zur Vorlage zweier unterschiedlicher Leitanträge: Ein von der mitte-linken Führungsmehrheit um Generalsekretär Rinaldini, dem führenden FIOM-Linken Cremaschi u.a. verfasster (der rund 82% der Stimmen erhielt) und der vom rechten FIOM-Flügel (Nencini & Co.) präsentierte (der 18% erhielt). Der haushohe Sieg von Rinaldini, Cremaschi und Kollegen ist allerdings zu einem nicht unwesentlichen Teil auch dem dreiwöchigen, (zum Großteil) erfolgreichen wilden Streik der FIAT-Arbeiter im süditalienischen Werk Melfi geschuldet, der die FIOM unversehens aus der Sackgasse befreite, in der sie steckte und zahlreiche weitere Kämpfe angestoßen hat, von denen derjenige im Fincantieri-Konzern bereits mit einem vollen Erfolg endete (dazu demnächst Konkreteres).
Die Ereignisse rund um die FIOM sind unseres Erachtens deshalb äußerst interessant, weil hier eine Entwicklung weit fortgeschritten und zugespitzt ist, die man in abgeschwächter Form auch in diversen anderen EU-Staaten beobachten kann.
Die unterschiedlichen strategischen Ansätze innerhalb der FIOM werden in Kurzform in den beiden Interviews deutlich, die die Linksdemokraten (DS)-nahe Tageszeitung „l’Unità“ am 20.3.2004 mit Rinaldini und Nencini führte:
Interview mit Gianni Rinaldini:
Der Pakt von `93 ist am Ende. Mehr Wert und Würde der Arbeit.
ROM – Gianni Rinaldini, Führer der FIOM und Initiator des Dokumentes „Wert und Würde der Arbeit“. Warum einen vorgezogenen Kongress ?
„Wir erleben eine noch nie dagewesene Situation. Wir hatten zwei Separatabkommen <allein bei den nationalen Tarifverträgen der Metallindustrie> mit dem Versuch jede Form von demokratischem Ausdruck der Werktätigen (lavoratori) zu beseitigen. Dann hatten wir mit dem Gesetz Nr.30 / 2003 eine weitere <prekäre> Definition der Arbeitsverhältnisse und eine Reduzierung der Kaufkraft der Löhne. Dies bedeutet, dass der Sozialpakt vom Juli `93 beseitigt ist.“
Es stellt sich die Frage, ob man mit der <in jenem Pakt festgelegten> Einkommenspolitik fortfahren sollte oder nicht. Ihr Vorschlag ?
„Es geht nicht darum zu sagen, Einkommenspolitik ‚Ja’ oder ‚Nein’. Der Punkt ist die Substanz. In den letzten Jahrzehnten gab es das, was Aris Accornero als den ‚Aderlass’ bei der Verteilung des Reichtums des Landes bezeichnet: 10 Prozentpunkte, die von der Arbeit und den Renten in Richtung Steuern, Rendite und Profit geflossen sind. Das Problem besteht darin, sich zu fragen, welche Funktion der nationale Tarifvertrag haben soll. Nur den Ausgleich der Inflation ? Wir vertreten die Auffassung, dass man die gegenwärtige Reichtumsverteilung umkehren muss. Der nationale Tarifvertrag muss gestärkt werden und auch zum realen Wachstum der Löhne und Gehälter dienen. Wobei er die reale Inflation und den nationalen Reichtum, d.h. das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Bezugspunkt nehmen sollte. Selbstverständlich muss es Interventionen in Sachen Wohlfahrtsstaat und Industriepolitik geben.“
Welche öffentlichen Interventionen in der Industriepolitik ?
„Es gibt einen Zustand der Zerrüttung. Eine radikale Wende ist notwendig. Die auf die Forschung und Innovation ausgerichtete Industriepolitik ist in Ordnung, aber es gibt auch die Notwendigkeit die Rolle der öffentlichen Intervention neu zu diskutieren. Und in einigen Situationen denke ich an eine direkte Intervention. Übrigens haben wir die für den Automobilsektor viele Male angemahnt.“
Die gewerkschaftliche Demokratie und die Repräsentanz – neuralgische Punkte…
„Unsere Argumentation basiert auf drei Aspekten: Demokratie, Autonomie und Unabhängigkeit. Die Werktätigen müssen über die Forderungskataloge und die Abkommen abstimmen. Sie laufen auf ihren Namen. Autonomie und Unabhängigkeit sind nicht gleichbedeutend mit Selbstgenügsamkeit, sondern besagen, dass die Gewerkschaft einen eigenen Standpunkt haben muss (eine eigene Generalidee) und sich mit den politischen Kräften auseinandersetzt. In unserem Dokument <für den Gewerkschaftskongress> sagen wir, dass es, aufgrund der Entscheidungen, die sie treffen, gegnerische Regierungen geben kann – so wie diese Regierung. Gleichzeitig gibt es keine befreundeten Regierungen, an die die Gewerkschaft die eigenen Funktionen und die eigenen Ziele delegiert.“
FIOM und CGIL – welches Verhältnis haben sie im Lichte dieses Kongresses ?
„Nach den Separatabkommen und angesichts der demnächst auslaufenden Tarifverträge wollen wir Vorschläge erarbeiten, die zur Entwicklung der Vorschläge der CGIL beitragen. Es existiert keine FIOM außerhalb der Dimension des Gewerkschaftsbundes. Ebenso wie es stets ein dialektisches Verhältnis bei der Erarbeitung der Vorschläge gegeben hat. Es existiert keine Kontraposition. Wir beteiligen uns an den Entscheidungen der CGIL durch die Abhaltung eines Kongresses <und die vorangehenden lokalen Mitglieder- und Delegiertenversammlungen>, bei dem die Mitglieder der FIOM abstimmen. Und wenn man über die Tarifvertragsstruktur diskutiert, ist die Position der Metallarbeiter nicht irrelevant.“
Einkommenspolitik: Die FIOM-Minderheit behauptet, sie sei die Vertreterin der Position des Gewerkschaftsbundes.
„Mir ist nicht bekannt, dass die CGIL entschieden hat, wie sie an die Auseinandersetzung über die Einkommenspolitik herangeht. Im Dokument der Leitung gibt es einen Bezug auf den Kongress von Rimini <Anfang Februar 2002> und wie gesagt wurde, bedarf es darüber einer Auseinandersetzung auch mit CISL und UIL, um festzulegen, welche Tarifvertragsstruktur es geben soll.“
Würden Sie einen einheitlichen Abschluss des Kongresses ausschließen ?
„Nein. Das hängt auch von der Art der Diskussion ab, die es geben wird.“
Ebenfalls aus „l’Unità“ vom 20.3.2004:
Interview mit Riccardo Nencini:
Eine neue Einkommenspolitik für unsere Zukunft
ROM – Riccardo Nencini, erster Unterzeichner des Leitantrages „Die Gründe der Gewerkschaft“. Sie waren gegen den vorgezogenen Kongress und nun, wo er anberaumt wurde, haben Sie ein alternatives Dokument zu demjenigen des Sekretärs Gianni Rinaldini vorgelegt. Welches sind die Punkte, die sie unterscheiden ?
„Unser Dokument ist ein eminent gewerkschaftliches. Nachdem wir unter der von <dem Metallindustriellenverband> Federmeccanica gestarteten Offensive zu leiden hatten, bei der es um die Beseitigung des Rechtes auf Tarifverhandlungen ging, denken wir, dass es notwendig ist, das gewerkschaftliche Profil des Handelns zu schärfen, das in der Lage ist das Recht auf Tarifverhandlungen zu behaupten. Auch im Kern.“
Diesbezüglich gibt es in FIOM und CGIL eine lebendige Dialektik in Sachen Einkommenspolitik. Wie stellt sich der Bereich Nencini dazu ?
„Wir sind Unterstützer einer neuen Einkommenspolitik. Weil es einen deutlichen Wertverlust der Arbeit gibt (die Entlohnung betreffend und sozial), auf die mit Hilfe einer Gesamtheit von Instrumenten eine Antwort gegeben werden muss. Der nationale Tarifvertrag ist eine große Errungenschaft der Welt der Arbeit, aber er ist nicht in der Lage als solcher die Probleme der Aufwertung der Arbeit zu lösen. Neben dem nationalen und dem betrieblichen Tarifvertrag kann die Steuerpolitik als Verteilungshebel benutzt werden und darüber hinaus Dienstleistungen, Wohlfahrtsstaat und Gebühren. Diese Gesamtheit von Instrumenten ist wirkungsvoll, wenn sie in einer gemeinsamen Funktion angewandt wird.“
Man hat jedoch gesehen, dass es Regierungen oder Unternehmen gibt, die in keiner Weise beabsichtigen, innerhalb der Einkommenspolitik zu bleiben. Und die Last fällt auf die Werktätigen zurück. Was tut man in diesem Fall ?
„Man beginnt den Konflikt. Man muss sich allerdings fragen, ob – um ein Ergebnis zu erzielen – ein einziger Konfliktpunkt oder eine Gesamtheit von Verhandlungen glaubwürdiger ist, bei denen man in manchen Fällen etwas erreichen kann und in anderen nicht. Ich glaube, dass eine Gesamtheit von Verhandlungen besser funktioniert. Sodann muss berücksichtigt werden, dass der Indikator der veranschlagten Inflation von der Regierung beseitigt wurde und die Einkommenspolitik daher von da ausgehend überdacht werden muss.“
Die Alternative ist die reale Inflation ?
„Es ist die erwartete Inflation. Ein Indikator, der ziemlich nah an der Wirklichkeit ist.“
Die Einheit mit FIM und UILM: Sie richten den Blick sehr weit, geradewegs auf ein neues, einheitliches gewerkschaftliches Subjekt. Heute stehen zwischen den Metallergewerkschaften jedoch die Fragen der Demokratie und der Repräsentativität. Wie soll man die angehen ?
„Mit Hilfe eines Gesetzes zur Regelung der sozialen Vertretung, die dann glaubwürdiger wird, wenn es uns gelingt einen Pakt zwischen den Gewerkschaftsorganisationen (auch den Branchengewerkschaften) zu schließen. Die Demokratie: In dem Dokument sagen wir, dass Wichtigste sei, dass die Werktätigen abstimmen und die Urabstimmung die maximale Bescheinigung des Willens der Werktätigen ist. Wir sagen jedoch auch, dass es ein Problem der Wiederbelebung der dialogorientierten Demokratie in den Arbeitsstätten gibt und nicht nur der Abstimmungsdemokratie.“
Die Beziehungen zur CGIL: Kann Euer Kongress Rückwirkungen auf den Gewerkschaftsbund haben ?
„Bei diesem Kongress setzen sich zwei kristallklare und unterschiedliche Positionen auseinander, die jedoch ihren Ursprung ganz und gar in der FIOM haben, wobei ich glaube, die Position der Mehrheit des Gewerkschaftsbundes zu interpretieren. Ich denke auch, dass das Logischste, was dieser Kongress in der Tradition der FIOM hervorbringen kann, die Tatsache ist, dass sich im Verlaufe dessen zwei Positionen miteinander messen und einen Kompromiss in Form einer einheitlichen / gemeinsamen Leitung schaffen. Selbstverständlich ist dies <nur dann> möglich, wenn die beiden Positionen ein bestimmtes spezifisches Gewicht haben werden. Wenn wir eine Minderheit von 5% sein sollten, ist kein Kompromiss glaubwürdig. Wir werden die Diskussion der CGIL dann beeinflussen, wenn wir in der Lage sind, eine gemeinsame Fähigkeit zur Synthese zu finden.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover