Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Viel Bewegung auf den Regierungssesseln. So könnte man die Ereignisse der ersten Januarhälfte in Israel und Palästina zusammenfassen. Die Bildung der großen Koalition in Israel unter der bewährten Führung des Schlächters Sharon und die Wahl des US-amerikanischen und israelischen Wunschkandidaten Mahmud Abbas („Abu Mazen“) zum neuen Präsidenten der Autonomiebehörde war dem linken israelischen Professor für Soziologie am Saphir College der Jüdischen Universität Jerusalem und Friedensaktivisten Zvi Schuldiner eine kritische Bestandsaufnahme wert. Er befasst sich mit Sharons geplantem „Rückzug“ aus Gaza, zu dessen Absicherung dieser mit der Arbeitspartei (Avoda) von Shimon Peres und der ultraorthodoxen „Thora-Partei – Ewiges Judentum“ eine Koalition einging, zugleich aber um die Unterstützung des rechten Flügels seiner Likud-Partei (bis zu 12 der 66 Abgeordneten der neuen Koalition) fürchten muss. Und untersucht die Bedeutung des neuen Chefs der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas / „Abu Mazen“. Vor allem aber stellt (und beantwortet) er die Frage nach dem entscheidenden Faktor für das Erreichen eines gerechten Friedens und eines unabhängigen palästinensischen Staates. Zvi Schuldiners Kommentar erschien als Leitartikel in der linken italienischen Tageszeitung „il manifesto vom 11.1.2005.

 

Palästina morgen

 

ZVI SCHULDINER

 

Die internationale Euphorie der letzten Wochen hat mit dem Wahlerfolg von Abu Mazen, dem nun offiziellen Erben von Präsident Arafat ihren Höhepunkt erreicht. In den nächsten Stunden wird die Bildung einer neuen Regierung in Israel hinzukommen. Der Wahlprozess im Bereich der Nationalen Palästinensischen Autorität <also der Autonomiebehörde> hat in den von Israel besetzten Gebieten stattgefunden, auch wenn sich die israelischen Soldaten in den letzten Tagen aus dem größten Teil der palästinensischen Städte zurückgezogen haben. Für viele Palästinenser war der Wahlprozess an sich wichtig, weil er die Rückkehr zu demokratischen Praktiken bedeutete, die <bereits> vergessen schienen. Die Ergebnisse waren absehbar. Nach Jahren des Leidens und unter einem autokratischen palästinensischen System, das seinerseits durch die Herrschaft der israelischen Besatzung unterdrückt wurde, scheint der Prozess neue politische Horizonte zu eröffnen und weckt deshalb neue Hoffnungen auf die Wiederherstellung des demokratischen Gewebes der palästinensischen Gesellschaft.

 

Die Wahlen in den palästinensischen Gebieten unterscheiden sich sehr von den „freien Wahlen“ im Irak. Es ist der israelischen Besatzung nicht gelungen, ins Herz des politischen Systems der Palästinenser vorzustoßen und im Wesentlichen bewahren die Besetzten eine Autonomie und Praxis, die sie in eine sehr viel bessere Situation bringen als die arabische Welt im Allgemeinen.

 

Abu Mazens Wahl bedeutet nicht, dass Friedensverhandlungen bevorstehen. Diejenigen Kommentatoren, die glauben, dass sich der Prozess verändert hat, begehen einen fundamentalen Fehler: Der Tod Präsident Arafats öffnet tatsächlich ein neues Kapitel in der Geschichte der Region. Es ist jedoch richtig klarzustellen, dass die Friedensfrage nicht an die Politik oder die Fehler von Arafat gebunden war.

 

Im Wesentlichen war, ist und wird das Problem die Frage der militärischen Besetzung durch Israel sein.

 

In einem gewissen Sinne entfernen uns die palästinensischen Wahlen vom Kern des Problems und lassen uns vergessen, was seine wesentlichen Elemente sind. Der verbrecherische und zu verurteilende Terrorismus oder Arafats intelligente, falsche oder dumme Erklärungen waren nichts anderes als das notwendige und unvermeidliche Ergebnis der Besatzung.

 

In den letzten Jahren ist die Besatzung grausamer und gewalttätiger geworden. Nicht nur die Israelis haben den Preis für den Terrorismus bezahlt, auch Tausende toter Palästinenser haben den Preis für den israelischen Staatsterrorismus bezahlt.

 

Die Besatzung bedeutete nicht nur Tod, Invalidität und Tausende Verwundete. Die Besatzung bedeutet die systematische Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft, ihrer politischen Institutionen, ihrer Wirtschaft und die Eliminierung der schwachen „Ordnungskräfte“, die trotz ihrer effektiven Stärke von 60.000 Mann nichts anderes als ein Phantasiegebilde von rein ökonomischem Wert waren.

 

Die Besatzung bedeutet dem Erdboden gleichgemachte Flüchtlingslager, eine enorme Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend, zerstörte Häuser und eine große Mauer des Hasses, die im Namen des Krieges gegen den Terrorismus weiteren Hass und Rachegelüste im Herzen von 3 Millionen Palästinensern nährt, die in das große Gefängnis der Besatzung gezwängt wurden.

 

Kann Abu Mazen vielleicht das palästinensische Volk führen, ohne einige der grundlegenden, essentiellen, elementaren Forderungen eines unter der Besatzung lebenden Volkes aufzugreifen ? In der unmittelbaren Zukunft ist es vorstellbar, dass der neue palästinensische Führer sich auf einige Ziele einer Übergangsperiode konzentriert. Befreiung der Gefangenen und ein wahrscheinlicher Rückzug Israels auf die Grenzen zu Beginn dieser 2.Intifada werden die unmittelbaren Ziele sein. Das Problem bleibt allerdings: Ein wirklicher Frieden ist nur und mindestens durch den Rückzug auf die Grenzen von 1967 möglich.

 

Die israelische Regierung, die in den kommenden Stunden vereidigt wird, wird in den nächsten Monaten das Spiel des einseitigen Rückzuges aus dem Gaza-Streifen spielen. Die trügerische Rhetorik eines Peres, der sich weiterhin durch seine eigenen Worte und die Nähe zur Macht täuschen lässt, wird sich heute mit der Demagogie eines „Mannes des Friedens“, wie Sharon, verbinden.

 

Dies ist Teil eines ernsthaften Konfliktes in der israelischen Gesellschaft. Es wird dann einen positiven symbolischen Effekt haben, wenn es wirklich zum Abzug der israelischen Siedler führt, ist aber weit davon entfernt, ein Friedensprogramm zu sein. Schlimmer noch: Wenn sich die Auseinandersetzungen, die die israelische Rechte vorbereitet, ausweiten, kann das einem echten Friedensprozess für viele Jahre ein Ende setzen.

 

Es handelt sich um zwei neuen Regierungen und die internationale Präsenz ist im Mittleren Osten heute stärker als zuvor. Das alles läuft Gefahr ein fröhliches Festival zu werden, in dem die wesentlichen Parameter des Konfliktes und die Notwendigkeit, einen ausgehandelten Frieden zu erreichen, der notwendigerweise und vor allem das Ende der israelischen Okkupation der 1967 besetzten Gebiete bedeutet, in Vergessenheit geraten.

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover