Antifa-AG der Uni Hannover:
Der erdrutschartige
Wahlerfolg bei den palästinensischen Parlamentswahlen vom 25.Januar 2006
bescherte der Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas) – dem korrigierten Endergebnis
zufolge – 74 der 132 Mandate (+ 3 ihr nahe stehender Einzelkandidaten). Die
bisher dominierende Fatah bekam 45 Sitze, die marxistische PFLP 3, die
alternativ-zivilgesellschaftliche ILP von Mustafa Barghuti
2 und Al Badeel (= die gemeinsame
linkssozialdemokratische Liste von PPP, DFLP + FIDA) ebenfalls 2 Sitze. Weitere 2 Mandate gingen an die bürgerlich-liberale Liste "Dritter Weg" von Hanan Ashrawi und einem ehemaligen palästinensischen Weltbank-Funktionär. Das letzte Mandat ging an einen unabhängigen Einzelbewerber. Die politischen
Reaktionen der bürgerlichen Parteien und Medien des „freien Westens“ schwanken zwischen
Hysterie, Konsterniertheit und einzelnen Versuchen einer sachlichen und pragmatischen
Annäherung an die Realität. Ganz nüchtern fällt der Kommentar aus, den der
linke israelische Soziologieprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem
und Friedensaktivist Zvi Schuldiner für die linke
italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 27.1.2006
verfasste:
JENSEITS DER HYSTERIE DER
RECHTEN:
Vor 30
Jahren war die PLO „terroristisch“. Jetzt ist der Moment für
Verhandlungen.
ZVI SCHULDINER
Der Sieg der Hamas ruft
Bestürzung, Verwirrung und Befürchtungen hervor. Sowohl Israel als auch die
internationale Gemeinschaft scheinen aus dem tiefen Traum zu erwachen, in den
sie durch den einseitigen Rückzug <Israels aus dem Gaza-Streifen> versunken waren und entdecken nun, dass es für die
Politik der militärischen Besetzung einen Preis zu bezahlen gibt. Sie entdecken
außerdem, dass die Lähmung oder die Repression nicht ausreichen, um die
Realität zu ändern. Die Realität ist die der Besatzung. Der einseitige Rückzug
verbarg vor den Augen Vieler, dass der Rückzug aus Gaza keinen Friedensprozess
darstellte, sondern eine weitere Form der Repression, eine Art des Versuches,
den Palästinensern eine Lösung aufzuzwingen, die ihre wichtigsten Forderungen
ignorierte. Angesichts der Wiederaufnahme einer brutalen Repression in den Besetzten
Gebieten am Tag nach dem Abschluss des einseitigen Rückzugs wurde Sharons (in
den Augen der Verwirrten innerhalb und außerhalb Israels ein De Gaulle) „großer Plan“ fortgesetzt: Vorwärts mit
der Road Map,
allerdings auf der Grundlage einseitiger Auflagen, mit Hilfe von Bush und
seinen Komplizen der internationalen Arena. Während alle Verhandlungen
erwarteten, haben diese nicht begonnen. Und die diplomatische Lähmung
bestätigte den Palästinensern, dass der diplomatische Weg von Abu Mazen und Al Fatah nicht funktionierte.
Aber hier ist die Sache
nicht zu Ende. Seit der Ankunft Arafats und seiner Männer in den Gebieten vor
12 Jahren, mussten sich die Palästinenser mit einer Autonomiebehörde
herumschlagen, die die realen Notwendigkeiten ignorierte und sich nur darum
kümmerte, die Macht zu benutzen und zu missbrauchen. Die Korruption war an der
Tagesordnung. Der Beginn der 2.Intifada stellte eine Explosion dar, die nicht
nur aus der Wut über die Besatzung und Sharons Provokation am 28.September 2000
resultierte, sondern auch aus der Unzufriedenheit mit einem korrupten
palästinensischen Regime, dass die fundamentalen Notwendigkeiten der
Zivilgesellschaft nicht anpackte.
In den letzten Jahren ist es
den Hamas-Aktivisten gelungen, sich ein sehr viel klareres Image zu schaffen
als die Funktionäre der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Dienste
(Bildung und öffentliches Gesundheitswesen) funktionierten nicht. Es gab Hunger
und Arbeitslosigkeit. Alles war Teil einer Realität, in der sich der Assistenzialismus <d.h. das Fürsorgesystem> der Hamas bemerkbar machte. Die Blindheit Aller
führte die Hamas jedoch erst heute ins Zentrum der politischen Arena. Wenn wir
verschiedene Erklärungen der letzten Stunden betrachten, dann sind sich einige
ihrer Führer, die eine Regierung der nationalen Einheit wollen, der Probleme
bewusst, die sie in Angriff nehmen müssen, wenn sie in die Regierung gehen.
Abu Mazens
Nationaler Sicherheitsberater Jibril Rajub erklärt, dass man in keine Koalition eintreten,
sondern dass Hamas die Regierung bilden solle. Vielleicht sollte man Rajub oder Anderen keine Hintergedanken unterstellen, aber
Einige sehen hinter diesen Erklärungen bereits Signale aus dem Westen: Wenn
Hamas in die Regierung geht, kürzen / streichen wir die Finanzhilfe. Ohne
ausländische Finanzhilfe kann die Autonomiebehörde nicht existieren. Wer wird
die Löhne bezahlen? Wer wird dafür sorgen, dass die Krankenhäuser funktionieren
oder den Strom, die Telefone, die Nahrungsmittel und die Waren bezahlen? Der
internationale Druck kann ein interessantes Kapitel der Verhandlungen auf den
Weg bringen. Vor 30 Jahren als wir die PLO zu Verhandlungen aufforderten, lautete
die traditionelle Reaktion, dass man mit Terroristen nicht verhandeln darf. Die
alten Anweisungen kehren zurück.
Andererseits sind die
Chancen, Hamas in der palästinensischen Regierung zu sehen, interessant und das
wissen – jenseits der Hysterie, von der die politische Elite des Landes heute
ergriffen ist – einige Israelis sehr genau. Hamas kann als politischer
Gesprächspartner eine explosive Mischung verschiedener Elemente sein. Einerseits
fordern einige ihrer Führungsmitglieder die Israelis bereits auf, keine Angst
vor den Ergebnissen zu haben und sie als eine Möglichkeit zu sehen, ernsthafte
Verhandlungen zu beginnen. Andererseits könnte dies (so wie es im letzten Jahr
der Fall war) die Möglichkeit eines militärischen Waffenstillstands bedeuten, der
das Blutvergießen verhindert, dass die letzten 3 ½ Jahre der 2.Intifada
gekennzeichnet hat. Dies <wiederum> würde die Möglichkeit bedeuten, eine
Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren, „ohne
die historische Forderung aufzugeben, sondern sie den kommenden Generationen zu
überlassen“. Gleichzeitig darf man nicht vergessen: Die interne Diskussion
innerhalb der Hamas muss die Spannung zwischen dem religiösen Fundamentalismus
des harten Flügels und der pragmatischen Linie derjenigen schlichten, die
andere Interessen des palästinensischen Volkes repräsentieren. Die Wahlen der
letzten Tage sind ein Element mehr in der harten Besatzungsproblematik.
Es ist zu früh, um die
internen und externen Resultate des Sieges des islamischen Fundamentalismus
vorauszusagen. Aber es ist falsch, sich von der „Anti-Terror“-Hysterie
derjenigen ergreifen zu lassen, die nicht immer in der Lage waren, eine bessere
Zukunft zu schaffen, die es unnötig gemacht hätte, zur Wahl dieser Gruppe zu
greifen. Heute darf die Anweisung nicht die von der Besorgnis der Heuchler und
dem „Kampf“ der Staatsgebiete „gegen den Terrorismus“ lancierte sein. Die
Anstrengungen müssen vielmehr auf den Beginn wirklicher Friedensverhandlungen
gerichtet sein.
(Übersetzung <ins
Italienische>: Marcella Trambaioli)
Vorbemerkung,
Übersetzung ins Deutsche und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover