Antifa-AG der Uni Hannover:
In unserer Reihe „Die radikale Linke in
der Schweiz“ stellen wir als Teil 2 den im Jahr 2002 gegründeten
trotzkistischen Mouvement pour le Socialisme (MPS) bzw. Bewegung für
den Sozialismus (BFS) vor (Homepage: http://www.labreche.ch/index.htm
bzw.: http://www.bfs-zh.ch/), der der
offiziellen 4.Internationale angehört und sich in den letzten Jahren im
französischen und italienischen Teil der Schweiz zur stärksten Gruppe der
revolutionären Linken entwickelt hat. Wir greifen dabei auf einen Artikel der
linken Schweizer Wochenzeitung „WoZ“ vom 18.8.2005 zurück, der
sich aus Anlass des Referendums zur Personenfreizügigkeit, dass am 25.9.2005 in
der Schweiz stattfindet, mit dem MPS / BFS befasst. Dabei wird aber nicht nur
die Vorgeschichte der Organisation deutlich, sondern auch die rabiaten Methoden,
mit denen die Schweizer Gewerkschaftsbürokratie gegen interne Linke vorgeht. Der
etwas unfreundliche Unterton des „WoZ“-Artikels ist der eher linksliberalen
Tendenz geschuldet, die die Zeitung seit einiger Zeit aufweist. Unter dem
Strich ist er dennoch sehr informativ ist. Die „WoZ“ findet sich im Internet
unter www.woz.ch und die ausführliche
Begründung des MPS / BFS für ihr linkes Nein beim Referendum gibt es als
deutschsprachigen Flyer unter: http://www.bfs-zh.ch/Themen/Arbeiterinnenbewegung/Flyer%20Personenfreizuegigkei%2008_2005.htm
PERSONENFREIZÜGIGKEIT: Die TrotzkistInnen möchten sich mit
einem Nein am 25.September als revolutionäre Alternative zu den etablierten
Linksparteien präsentieren.
Ein ganz linkes Nein
Von Johannes Wartenweiler
Das Mouvement pour le
Socialisme (MPS) scheidet die Politgeister: Den einen ist es ein willkommenes
Korrektiv zu den pragmatischen Linksparteien wie SP und Grünen, den andern
erscheint es als sektiererischer Störfaktor. Obwohl ein rechtes Komitee das
Referendum gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen
EU-Staaten in Osteuropa zustande gebracht hat, hat das MPS unter dem Slogan
„Personenfreizügigkeit ja – Lohndumping nein“ ein eigenes Referendum lanciert
und knapp 10.000 Unterschriften gesammelt. In der Westschweiz – vor allem im
Kanton Waadt – und im Tessin hat es sich als politischer Faktor etabliert. In
der Deutschschweiz dagegen ist die Gruppe unter dem Namen Bewegung für den
Sozialismus (BFS) marginal.
Bei der Abstimmung am
25.September könnte das MPS das Zünglein an der Waage spielen. Wer steht hinter
dieser Bewegung?
Trotzkistische Tradition
Bern, im Februar 2003: Die
Demonstration gegen den US-Angriff auf den Irak ist in vollem Gang,
Menschenmassen drängen sich durch die Gassen. Unvermittelt stoppt eine Gruppe
hinter ihrem violetten Transparent und reißt so eine Lücke in den Umzug. Kaum
ist diese groß genug, setzt sich die Gruppe erneut in Bewegung, als ob sie an
der Spitze der ganzen Demonstration stünde. „Non à la guerre – non à la
guerre!“ – Parolen, wie sie an Schweizer Demos so laut nur von
ausländischen Politorganisationen skandiert werden. Ein eindrücklicher erster
Auftritt des MPS auf nationaler Ebene, bis zur Hühnerhaut.
Das MPS wurde 2002
gegründet. Der Genfer Paolo Gilardi, Mitglied des 15-köpfigen nationalen
MPS-Leitungsgremiums, fasst zusammen, warum sich seine Organisation damals von
der in der Westschweiz und in Basel etablierten Solidarités abspaltete. Als
Solidarités Anfang der 90er Jahre in der Westschweiz als Sammelbecken mehrerer
linker Gruppen gegründet wurde, seien politische und ideologische Differenzen
ausgeblendet worden. Er und viele andere in der Koalition eingebettete
ehemalige Mitglieder der trotzkistischen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP)
hätten damit nicht glücklich werden können. „Man kann nicht radikal links sein
und zur gleichen politischen Familie wie die Bundesräte <= Bundesminister> Moritz Leuenberger und Micheline Calmy-Rey gehören“,
sagt Gilardi. Solidarités aber habe systematisch das Bündnis mit der SP
gesucht.
„Außerdem“, so Gilardi,
„muss die revolutionäre Linke eine kritische Bilanz der Erfahrungen des
20.Jahrhunderts ziehen. Man darf zum Beispiel nicht vergessen, dass einige
Linke von 20 Jahren die Roten Khmer unterstützt haben. Darüber wollen aber
nicht alle reden.“
Die Mitglieder der SAP, die
früher Revolutionäre Marxistische Liga (RML) hieß, fühlten sich als
AnhängerInnen des russischen Revolutionärs Leo Trotzki in besonderem Maße solch
intellektueller Auseinandersetzung verpflichtet. Zahllose Debatten über feinste
Unterschiede in der Auslegung der theoretischen Schriften und in der Analyse
politischer Ereignisse trugen den TrotzkistInnen den Vorwurf ein, sie seien
mehr damit beschäftigt, ihre Partei fortwährenden Spaltungen auszusetzen, als
die revolutionäre Sache voranzutreiben. Zwar bewegt sich das MPS eindeutig in
der trotzkistischen Tradition. So heißt seine Zeitung wieder wie früher „La
Brèche“. Das Ringen um die richtige Interpretation der russischen
Revolution spielt jedoch keine Rolle mehr, man versteht sich vielmehr als Teil
eines internationalen globalisierungskritischen Bündnisses.
Wer ist Charles-André Udry?
Als Schlüsselfigur des MPS
gilt der Ökonom Charles-André Udry. Der 1944 in Sion geborene Udry hat die
trotzkistische Bewegung – nicht nur in der Schweiz – seit den 60er Jahren
mitgeprägt. Er schloss sich zuerst der SP an und kam in Frankreich mit dem
Trotzkismus in Kontakt. Dessen Ideen wollte er in den moskautreuen Parti
Ouvrier Populaire (POP – Partei der Arbeit <eher: Volkstümliche Arbeiterpartei>) des Kantons Waadt einbringen. Als die POP-Leute
Udrys Absichten erkannten, warfen sie ihn 1969 aus der Partei.
Udry gehörte zu den Gründern
der RML, die ab 1980 SAP hieß und bis Anfang der 90er Jahre neben der <1969 gegründeten und von Ende
der 70er Jahre bis 1993 nach und nach in die Grüne Partei aufgelösten
linkssozialistischen „Progressiven Organisation der Schweiz“> POCH die führende Partei links der SP blieb. Er war
viel im Ausland unterwegs, etwa in Portugal oder auf Santo Domingo. Jahrelang
wirkte er als Sekretär von Ernest Mandel, dem führenden Kopf der Vierten
Internationalen, der trotzkistischen Dachorganisation. Der ehemalige
SP-Präsident Peter Bodenmann bezeichnet Udry als brillanten Kopf, exzellenten
Strategen und als einen, der das politische Handwerk beherrsche. Bodenmann hatte
im Vorfeld der <Europäischen
Wirtschaftsraum> EWR-Abstimmung mit
Udry zu tun, als beide eine linke Ja-Position vertraten.
Andere Politgefährten
bestätigen zwar Udrys intellektuelle und organisatorische Fähigkeiten, meinen
aber, er sei ein „schwieriger Charakter“. Wieder andere warnen vor einer
Mystifizierung Udrys, habe er doch den größten Teil seines Lebens am
Schreibtisch oder an Sitzungen verbracht. Nationalrat <d.h. der Grünen-Abgeordnete im
Schweizer Parlament> Josef Lang: „Gute
Eigenschaften konnten sich bei ihm nicht richtig entwickeln.“
Einfluss in den Gewerkschaften
Der Einfluss Udrys auf das
MPS wird unterschiedlich eingeschätzt. Für Gilardi ist er einfach einer seiner
Kollegen im Zentralausschuss des MPS. Ein junger Waadtländer, der sich eine
Zeit lang im MPS-Umfeld bewegt hat, erhielt nicht den Eindruck, Udry sei der
einzige intellektuelle Kopf im MPS. Aber er eigne sich Ideen schnell an und
könne sie gut vertreten. Exgenossen sind hingegen überzeugt, das MPS sei Udrys
persönliches Projekt, in dem er von einer Schar treuer Anhänger umgeben sei.
Die WOZ hätte gern mit Udry geredet, doch zog dieser eine anfänglich gemachte
Zusage zu einem Gespräch zurück.
Zwar neigen einige
VertreterInnen des MPS immer wieder zu sektiererischer Rechthaberei, doch
sollte man sich hüten, das MPS einfach als wirkungslosen, sich selbst
genügenden Debattierklub abzutun. Seine Mitglieder pflegen neben der
politischen Reflexion durchaus die konkrete politische Basisarbeit. So haben
sie großen Einfluss bei Attac Schweiz und waren engagiert in der Bewegung gegen
den Irakkrieg. Innerhalb der Gewerkschaften sind sie mit Engagement und Eifer
bei der Sache – was in den letzten Jahren immer wieder zu Konflikten führte und
im Kanton Waadt gar zur Spaltung des VPOD <Verband des Personals öffentlicher Dienste>. In der Gewerkschaft Comedia kam es im Frühjahr
zu Auseinandersetzungen wegen der Entlassung einer MPS-nahen
Gewerkschaftssekretärin. Auch in der Unia – vor allem im Tessin – sorgt das MPS
mit seinen Leuten für Unruhe und macht der Gewerkschaftsspitze das Leben
schwer. Viele Unia-Kader waren einst ebenfalls RML- oder SAP-Mitglieder und
werden heute von der MPS als Verräter bezeichnet. Unia-Vertreter, wie ihr
Mediensprecher Nico Lutz, kritisieren nicht das Engagement von MPS-Leuten in
den Gewerkschaften, sondern dass sie deren Ressourcen zum Aufbau der eigenen
Partei benutzen.
Auch beim Schweizerischen
Gewerkschaftsbund (SGB) haben die Aktivitäten des MPS zu einer gewissen
Nervosität geführt. Als sich SGB-Sekretär Romolo Molo öffentlich gegen die
Personenfreizügigkeit wandte, bat man ihn zuerst, solche Auftritte bleiben zu
lassen. Als er daran festhielt, wurde er entlassen. Molo gilt als enger
Verbündeter von Udry, ist aber nach eigenen Angaben nicht MPS-Mitglied.
Flugblätter in alle Haushalte
Das linke Referendum gegen
die Personenfreizügigkeit war in der Westschweiz erfolgreicher als jenes der
Rechten – laut Gilardi vereinigte es in den Kantonen Genf und Waadt etwa 60 bis
70% der Unterschriften. Nun will das Mouvement noch einmal massiv einsteigen
und Ende Monat 400.000 Flugblätter an Haushalte nicht nur in der Romandie
verteilen. Die Botschaft im Telegrammstil: Die Gewerkschaften hätten in den
Verhandlungen nicht nur flankierende Maßnahmen durchsetzen, sondern auch den
Schutz von GewerkschaftsaktivistInnen in Betrieben verbessern müssen. Da sie
dies nicht getan haben, sei die Vorlage abzulehnen.
Angesichts der knappen
Situation könnten die MPS-Bemühungen entscheidend sein. Aber welchen Erfolg
kann die MPS dann feiern? Den Sieg ihrer Argumente? Die gute Ausgangslage für
eine zweite Verhandlungsrunde mit den Patrons? Die komplett neue
innenpolitische Situation? Oder einfach eine weitere Etappe im Aufbau einer
revolutionären Linkspartei im Gehirn der kapitalistischen Bestie, wie sie
Gilardi vorschwebt? Antworten eventuell nach dem 25.September.
Vorbemerkung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover