Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Die
niederländische Ablehnung der EU-Verfassung beim Referendum vom 1.Juni 2005
stand und steht etwas im Schatten des französischen NON wenige Tage zuvor. Das
hängt zum einen mit dem größeren Gewicht Frankreichs auf der europäischen und
der internationalen Bühne und zum anderen mit der dort durch das Nein-Votum
ausgelösten Regierungskrise zusammen. Dennoch sollten die niederländische
Ablehnung und die dahinter stehenden Kräfte nicht aus dem Blick verloren
werden. Neben der linksradikalen Socialistischen Partij (SP) (siehe das
Porträt auf der Homepage http://antifa.unihannover.tripod.com
in der Rubrik „Soziale Kämpfe“) war das auf der Linken insbesondere das Komitee
„Grondwet Nee“ (Verfassung Nein ! – Internetseite: www.grondwetnee.org). Mit dem Vorsitzenden
des Komitees, Willem Bos, führte die bewegungsorientierte linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“ für die Ausgabe vom 29.5.2005 (d.h.
kurz vor der Abstimmung) ein längeres Interview, dessen Übersetzung wir hier
präsentieren:
HOLLAND:
Den Tulpen gefällt die Charta immer
weniger
Willem Bos von „Verfassung Nein!“:
Für die Bürger ist Brüssel weit weg und der Vertrag nicht demokratisch.
LUCA TOMASSINI – AMSTERDAM
Vor etwas weniger als einem
Jahr, als er zusammen mit Aktivisten aus dem Bereich der Antiglobalisierer das
Komitee „Grondwet Nee“ bildete, konnte sich Willem Bos sicherlich nicht
vorstellen, dass er sich bald im Mittelpunkt der holländischen politischen
Szenerie wieder finden würde. Und doch reist er seit einiger Zeit kreuz und
quer durchs Land, eingeladen zu Dutzenden von Debatten, die täglich stattfinden
und die das Rückgrat der Kampagne für das Nein zur Europäischen Verfassung
bilden (die hier am 1.Juni dem Referendum unterzogen wird). „Die Erfahrung des
letzten Monats war eine außerordentliche“, erzählt er, während uns ein Zug von
Aja nach Amsterdam zurückbringt. „Plötzlich haben alle angefangen, Dich zu
suchen.“
Die Kampagne für das Nein
kann anscheinend <nur> auf ein bescheidenes Lager zählen. Auf der Linken
gibt es Euch und natürlich die Sozialistische Partei (SP) von Jan Marijnissen.
Sogar das Nein des Sozialen Zentrums Eurodusnie in Leida sorgt für Meldungen in
den Zeitungen. Was sind also die Gründe für Euren Erfolg ?
„Fast 90% des Parlaments
sind im Moment für die Verfassung. Genauso wie praktisch alle Organisationen
der Zivilgesellschaft. Die Gewerkschaften sind dafür. Die Unternehmer sind
dafür. Die Kirchen sind mehr oder weniger explizit dafür. Fast die gesamte
Elite des Landes also, aber die Meinungsumfragen sagen uns, dass dieses
beeindruckende Lager <nur> in der Lage ist, einen kleinen Teil der Bevölkerung
direkt zu mobilisieren. Zwischen den Regierenden und den Empfindungen des
holländischen Volkes ist ein tiefer Graben entstanden. Das ist es, was unsere
Initiative so wirkungsvoll macht.“
Und doch waren die
Niederlande als eine der überzeugtesten Unterstützerinnen der europäischen
Integration bekannt…
„Vor 20 Jahren war Europa in
Holland wirklich sehr populär, aber im letzten Jahrzehnt haben immer mehr
Bürger in Brüssel eine Macht gesehen, die in der Lage ist, ihr tägliches Leben
zu beeinflussen, zugleich aber weit entfernt und irgendwelchem Druck von unten
entzogen ist. Und diese Einstellung wird durch die Beteiligung an den
Europawahlen beispielhaft belegt. Im Durchschnitt liegt sie bei 30% gegenüber
70% bei den nationalen Wahlen. Ich habe während des Wahlkampfes an sehr vielen
Debatten teilgenommen und in den Gesprächen mit den Leuten konnte ich mir ein
Bild davon machen, wie sehr die Verfassung als ein Symbol dieser Distanz
wahrgenommen wird, die dabei ist unsere Demokratie zu zersetzen. Es sind Viele,
die ihre Unzufriedenheit über die Unverständlichkeit äußern. Mit 600 Seiten
(Anhänge inbegriffen) scheint sie – wie sie sagen – eigens dazu gemacht zu
sein, dass man sie nicht versteht !“
Man hört, wie überall vom
„europäischen Superstaat“ gesprochen wird. Der Rechtsextremist Geert Wilders
hat seine Kampagne gegen den Beitritt der Türkei gerichtet und auf der Angst
vor der Immigration aufgebaut. Welchen Einfluss besitzen diese Faktoren ?
„Es ist mir oft passiert,
dass ich mit Leuten diskutiert habe, die mit unseren Positionen komplett
einverstanden waren. Sie waren gegen den Neoliberalismus, gegen die
militaristischen Aspekte der Charta, über das geringe Gewicht des
Europaparlamentes besorgt usw. Dieselben Personen äußern sich dann besorgt über
die angebliche Invasion von Immigranten, die Europa mit sich bringen könnte.
Ich bleibe allerdings davon überzeugt, dass die Wurzel von allem – sogar von
dem, was hier jemand als ‚islamische Frage’ bezeichnet – dieses beeindruckende
Misstrauen gegenüber den politischen Parteien, der Regierung und der Elite in
ihrer Gesamtheit ist. Ich erinnere daran, dass die Popularität der
gegenwärtigen Exekutive so niedrig ist, wie das seit dem Ende des 2.Weltkrieges
noch nie registriert wurde ! Und die Mitgliederzahlen der Parteien befinden
sich in kontinuierlichem Fall. Deshalb ist unser Kampf einer für eine wirklich
demokratische Verfassung. Die Holländer sind, was die Details der Charta
anbelangt, nicht voll auf dem Laufenden, aber sie begreifen sehr genau, dass in
Brüssel Dinge gemacht werden, die sie niemals gefordert haben.“
Ein Beispiel ?
„Ich werde die Einführung
des Euros nennen. Wie ist die Emotion anders zu erklären, die durch die
Nachricht ausgelöst wurde, dass der holländische Gulden im Moment des Übergangs
zur gemeinsamen Währung unterbewertet war ? Die Holländer sind – im Unterschied
zu den Banken – mit mehr als 5 Jahren Verspätung über die von unseren
Regierenden geführten Verhandlungen informiert worden und das hat die Reaktion
hervorgerufen, die wir kennen.“
In diesen Tagen hat der
Streik der Hausärzte stattgefunden. Nächste Woche sind die Polizisten an der
Reihe. Wird die Krise des Sozialstaates das Votum beeinflussen ?
„Die Angst, die im Laufe der
letzten 50 Jahre errungenen Rechte zu verlieren, hat ein großes Gewicht.
Wahrscheinlich führt das Nein zur Verfassungscharta gerade wegen ihres Insistierens
auf der Notwendigkeit weiterer Liberalisierungen, wegen des
wirtschaftsliberalen Charakters der Botschaft nicht zu einem Stimmenzuwachs für
Wilders’ extreme Rechte.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover
und Gewerkschaftsforum Hannover
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