Antifa-AG
der Uni Hannover:
Mit der Revolte in den französischen Banlieues beschäftigt sich auch der nachfolgende
Leitartikel von Rossana Rossanda
aus „il manifesto“ vom 16.11.2005,
dessen Tenor pessimistischer und lakonischer ausfällt als manch andere
Stellungnahme aus der Linken hier wie dort.
Für alle, die „die große alte Dame der
italienischen radikalen Linken“ nicht kennen: Die mittlerweile 81 Jahre alte,
publizistisch und politisch aber nach wie vor sehr aktive Rossana Rossanda, lebt in Rom
und war in den 60er Jahren (als Vertreterin des linken Flügels) Mitglied des
Zentralkomitees der italienischen KP (PCI). Nachdem sie Ende der 60er
Jahre mit anderen zusammen ausgeschlossen wurde, widmete sie sich dem Aufbau
der Zeitung und der kommunistischen Gruppe “il manifesto”,
die zunächst moderat maoistisch, vor allem aber bewegungsorientiert war und
später mit anderen Linken die Partei der Proletarischen Einheit (PdUP) schuf. Seit diese Partei Ende der 70er Jahre
wieder auseinander fiel, ist sie parteipolitisch nicht organisiert und
konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit als linke Journalistin und Publizistin.
Lange Jahre war sie Chefredakteurin der Tageszeitung “il manifesto”
und veröffentlicht auf deren Seiten bis heute regelmäßig Kommentare und
Kolumnen. In deutscher Sprache sind von ihr zahlreiche Bücher und Broschüren
erschienen, darunter: “Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch – Zur
Kritik revolutionärer Erfahrungen in Italien, Frankreich, der Sowjetunion ...”
(Frankfurt/M. 1975), “Auch für mich – Aufsätze zu Politik und Kultur” (Hamburg
1994) und zusammen mit Pietro Ingrao: “Verabredungen
zum Jahrhundertende – Eine Debatte über die Entwicklung
des Kapitalismus und die Aufgaben der Linken” (Hamburg 1996).
Editorial:
Wie immer
ROSSANA ROSSANDA
In Sachen Frankreich hat die
Presse (speziell die italienische und die angelsächsische) gesponnen.
Vergangenen Samstag hätte Paris brennen, hätten die Vorstädte in sie einfallen
und sie zerstören sollen. Nichts davon ist geschehen und die Titelseiten
erschienen am Montag ohne ein wahrheitsgetreues „Vielleicht haben wir es nicht
begriffen“, sondern handelten von anderen Dingen. Wenn Chirac den Franzosen
nicht eine neuerliche Rede zugemutet hätte, wäre Paris heute vergessen. Paris
ist nicht abgebrannt, aber etwas Erstaunliches ist geschehen. Die gesamte Linke
hat nicht einmal so getan als ob sie gegen den Ausnahmezustand opponieren
würde, der auf ein 1955 während des Algerien-Krieges erlassenes Gesetz
zurückgeht und den Makel eines Tages im Jahre 1961 trägt, an dem der damalige
Präfekt Papon dazu anstachelte, 200 Algerier in der Seine zu ertränken. Seit
damals wurde von Notstand nicht einmal mehr gesprochen. Vielleicht aus Scham.
Bis er in diesen Tagen wieder hervorgeholt wurde, um die Autos vor den casseurs (Randalierern) zu schützen. Nur einige
Verbände (die Liga zur Verteidigung der Menschenrechte und SOS Racisme) haben einen Protest organisiert, aber es ist ihnen
– obgleich er genehmigt war – nicht gelungen, eine ansehnliche Zahl von Leuten
hinter sich zu sammeln. Die Opposition hat sich ihm nicht angeschlossen und <nur> von den Bänken der Nationalversammlung aus lautstark
gegen die beleidigende Maßnahme protestiert. Die Sozialistische Partei (PS),
die sich über alles zerfleischt, hat sich, was die Parole „Zuerst stellen wir
die Ordnung wieder her!“ angeht, <ausnahmsweise>
geschlossen gezeigt. Gestern wurde der Ausnahmezustand um drei Monate verlängert.
Wir werden sehen, welchen heroischen Kampf sie in der Versammlung führen wird.
Das Saturdaynight-Fever
war in Paris genauso wie immer. Das einstmals stärker <auf solche Maßnahmen> reagierende Quartier Latin war voll mit
Jugendlichen, die über die Banlieues überhaupt
nicht diskutierten. Die Polizei war vollkommen abwesend. Und die Vorstädte
haben sich im Zentrum auch nicht blicken lassen. Erstens weil sie keine
Selbstmörder sind und zweitens weil, wenn Paris auf sie scheißt (entschuldigt
den Ausdruck!), sie auf das Zentrum von Paris scheißen. Im Übrigen haben sie
nicht im Sinn, die Revolution zu machen. Sie haben die Nase voll davon, wie sie
behandelt werden: ohne Perspektiven, bei der Arbeit diskriminiert und in
desolaten Quartieren untergebracht. Aber sie werden weiter einige Feuer
entfachen, da es keine Möglichkeit gibt, sich Gehör zu verschaffen, wenn keine
Filmkamera da ist, um Feuerwehrleute und Polizisten zu filmen. Übrigens sind im
Jahre 2004 mehr als 23.000 Autos in Flammen aufgegangen. Auch in anderen
Städten wurden einige Feuerchen entzündet, weshalb sich die Schlagzeilen von
„Paris brennt“ in „Frankreich brennt“ verwandelten. Marseille, die Stadt mit
der stärksten Immigration, die gegen die Privatisierung einer Fähre nach
Korsika die Arbeit niedergelegt hatte, hat nicht mit der Wimper gezuckt. Die
große Mehrheit der Bürgermeister hat, auch in den „sensiblen Peripherien“ (ein
hübscher Euphemismus!), die Ausgangssperre nicht gefordert. Nur die
Richterschaft wütet gegen ca. Hundert verhaftete Jugendliche, macht ihnen im
Schnellverfahren den Prozess und verurteilt die Zwanzigjährigen zu ein, zwei
oder sechs Monaten Haft, nach deren Verbüßung sie den Institutionen gegenüber
sicherlich nicht demütiger sein werden. Es gibt jene (und das nicht nur auf der
Rechten), die geschrieben haben: Die Republik hat nicht auf ihre Kinder
geschossen. So als ob sie das als unangenehm, aber durchaus möglich betrachtet
hätten. Ich vergaß: Etwas ist geschehen, nämlich dass Innenminister Sarkozy als er über den Champs Èlisée ging, um die mit der Verteidigung der Hauptstadt
beauftragte Polizei zu inspizieren, ausgepfiffen wurde und zwar nicht von den casseurs,
sondern von den Passanten und er sich eilig zurückziehen musste.
Weil das Wichtige ist, dass
niemals alles so weitergeht wie zuvor. Die wenigen Maßnahmen, die die Regierung
Jospin zugunsten jener Stadtteile ergriffen und die die gegenwärtige Regierung
im Rahmen der Haushaltssanierung (einer europäischen Leier) abgeschafft hatte,
schnell wieder in Kraft setzte. Philosophen und Soziologen traten in Massen
auf, zeigten aber wenig Bereitschaft, die offensichtliche und konkrete soziale
Unzufriedenheit zu konstatieren. Edgar Morin blieb
neutral und unser Freund Jean Luc Nancy schweifte zur Destrukturierung
der Republik ab. André Glucksmann behauptete, dass jene Jugendlichen nicht
protestieren, weil sie wenig integriert sind, sondern weil sie es zu sehr sind.
Und Frankreich sei von Natur aus rauflustig. Und so weiter und so fort mit dem
heftigen Streit über das französische oder das angelsächsische
Integrationsmodell bezüglich dessen die Worte des gesündesten Menschenverstandes
von Tommaso Padoa-Schioppa <bis Ende Mai 2005 Direktoriumsmitglied
der Europäischen Zentralbank> kamen.
So als ob – es tut mir leid das sagen zu müssen – die
Zentralbank mit den Beinen fester auf dem Boden steht als Andere.
Nichts ist gelöst und nichts
ist beendet. Die Glut glimmt weiter. Die extreme Linke wird lang und breit
darüber diskutieren, ob jene Jugendlichen besser daran täten, ein Projekt zu
haben oder ob es revolutionärer ist, dass sie keines haben. Das Leben geht
weiter…
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der
Uni Hannover