Das folgende Interview entnahmen
wir der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 12.10.2004:
»Wir zerstören uns selbst...«
Michael Warschawski über die Lage in Israel, den
Nahost-Konflikt und Martin Buber
Michael
Warschawski,
1949 in Straßburg geboren, ging 1965 nach Jerusalem, besuchte die Talmudschule,
studierte Philosophie an der Hebräischen Universität, ist Mitglied des
Friedensblocks Gush Shalom, Vorsitzender des Alternative Information Center und
AIC-Vertreter im Welt Sozial Forum. Ende der 80er war er zu 30 Monaten Haft
verurteilt – wegen »Unterstützung illegaler palästinensischer Organisationen«.
Mit dem Friedensaktivisten sprach Karlen Vesper.
ND: »Mit Höllentempo« heißt Ihr neues
Buch. Steuert Israel mit offenen Augen auf den Abgrund zu?
“Mit geschlossenen. Im rasenden Tempo. Nicht nur die Regierung und das
Parlament, die Mehrheit der Bevölkerung will das nicht wahrhaben. Wir haben die
Selbstkontrolle verloren. Wir provozieren immer wieder Gewalt und ernten immer
mehr Gewalt. Plötzlich sind wir die Hauptopfer. Die Palästinenser leiden viel,
aber sie wissen 200 Millionen Araber und eine Milliarde Muslime hinter sich.
Wir sind eine ganz kleine Minderheit. Zu glauben, dass Israel den Krieg
gewinnt, weil wir die Mauer und Nuklearwaffen haben, ist tödlich.“
Warum darf Israel
Massenvernichtungswaffen besitzen? Bei anderen ist der Verdacht ausreichender
Grund für eine Intervention.
“Wir haben das Recht, weil es uns niemand streitig macht. Doch das Recht wird
nicht rechtens, wenn es niemand Unrecht nennt.“
Wer sollte das tun?
“Die internationale Gemeinschaft. Sie hat den »Schutzwall« verurteilt. Aber
sonst? Israel verletzt Hunderte von UN-Resolutionen, begeht laufend
Kriegsverbrechen...“
Zum Beispiel?
“In den besetzen Gebieten. Es ist ein Kriegsverbrechen, eine 1000-Kilo-Bombe
über einer dicht bevölkerten Gegend abzuwerfen – um einen Menschen zu töten,
von dem man annimmt, er sei ein Terrorist. Klarer Bruch der Haager Konvention.
Oder: Es werden Menschen ohne Gerichtsurteil hingerichtet. Ein Verbrechen
schlechthin. Ebenso die Tatsache, eine ganze Bevölkerung ein- bzw.
auszusperren. Ungezählt sind die Fälle der Zivilgewalt.“
Warum das selbstherrliche Agieren?
Leistet die heutige US-Politik Israel einen schlechten Dienst?
“Große Teile der israelischen Bevölkerung sind zufrieden mit Bush. Weil man
kurzsichtig ist. Erstmals in seiner Geschichte bekommt Israel grünes Licht aus
Washington für alles. Vordem gab es immer gewisse Beschränkungen. Weil die
vormaligen USA-Regierungen nicht wollten, dass Israel die ganze Region
destabilisiert. Wir waren für die USA so etwas wie ein kleiner Bruder, der manchmal
ungezogen ist, es zu weit treibt und ermahnt werden muss. Heute ist das total
anders. Wir haben völlig freie Hand. Und wir füttern Bushs Politik des globalen
Präventivkrieges. Wir führen seit 1948 Krieg.“
Was tun? Oslo ist gescheitert. Wird es
die Road Map richten?
“Oslo is finished. Kann nicht wieder belebt werden. Die Road Map ist nur
ein Stück Papier. Was wir jetzt brauchen, steht noch nicht auf der Agenda: eine
starke kritische internationale Öffentlichkeit und Einmischung, um alle
Aggressionen zu stoppen, das Morden, die Besetzung, die Siedlungspolitik.“
Problem: Wer Israel kritisiert, wird
schnell Antisemit genannt.
“Antisemitismus und Kritik an Israel sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.
Wer die Politik der israelischen Regierung nicht kritisiert, der schadet
Israel.
Ein Beispiel: Die israelischen Soldaten, die nach drei/vier Jahren von ihrem
Dienst an der Grenze oder in den besetzten Gebieten zurückkehren, bringen die
Gewalt, die ihnen dort befohlen worden war, mit in die Heimat, in die Familien,
in den Alltag. 18 bis 22 Jahre junge Männer und Frauen sind unfähig, sich im
normalem Leben zurechtzufinden, sich zu re-zivilisieren. Die Kriminalitätsrate
in Israel steigt. Man kann Gewalt nicht an den Grenzen stoppen. Um die
zunehmende Gewalt innerhalb der israelischen Gesellschaft zu stoppen, muss man
die Gewalt in den besetzten Gebieten beenden.“
In jüngster Zeit haben sich Proteste in
der Armee gemehrt...
“Das ist nicht neu. Es gibt seit 1982, seit der Invasion in Libanon, eine mächtige
Friedensbewegung in Israel. Ich war damals einer der Gründer des Soldiers
Movement. Israelische Frauen gehen an die Checkpoints, junge Israelis sind
nach Ramallah gegangen, als Scharon dort Arafat festsetzen ließ, immer mehr
junge Leute verweigern den Wehrdienst. Unglücklicherweise sind wir weit davon
entfernt, eine Hunderttausende umfassende Bewegung zu sein. Sie ist nicht neu,
sie ist Teil der alten und wieder nicht, zugleich etwas Neues.“
Der Abbruch des Osloer Prozesses hat
der Friedensbewegung einen Hieb versetzt, nicht wahr?
“In der Tat hat die Mehrheit der israelischen Gesellschaft diesen unterstützt.
Aber sie hat dann den Lügen der Regierenden geglaubt: »Arafat hat die
gnadenvollen Offerten schnöde abgelehnt, er will uns ins Meer treiben.« Nix da.
Baraks Vorschläge waren nicht von Gnade diktiert. Aber der Trick funktionierte.
Die Israelis, die für einen Kompromiss waren, wurden paralysiert: »Vielleicht
lagen wir falsch, waren naiv? Vielleicht ist Arafat noch schlimmer als die
Hamas?« Die Hypnose gelang, bevor der erste Schuss fiel, vor der Intifada.“
Arafat kann man voll glauben?
“Es ist sehr postmodern, zu behaupten: »Ja, was der sagt, sind nur leere
Worte.« Man kann doch sagen: »O.k., lasst uns sehen, ob er es ernst meint.«
Netanjahu, Barak, Scharon haben immer alles richtig gemacht, nur Arafat soll
der Schuldige sein. Das ist doch Unsinn !“
Scharon gilt in eigenen Kreisen schon
als Verräter. Ist er einer? Oder ist er ein Pragmatiker?
“Scharon hat einen Plan: Die Kolonisation von ganz Palästina. Und er ist einer
der sehr wenigen Politiker, die sagen, was sie denken: »Der Krieg von 1948 ist
noch nicht beendet. Wir können die Grenzen jetzt noch nicht festlegen.« Dass er
bereit ist, Gaza aus seiner Kontrolle zu lassen, ist Teil des Plans. Insofern
ist er ein Pragmatiker. Um Raum zu erobern, muss man manchmal eine Stellung
räumen. Für jene, die alles wollen, ist er ein Verräter. Ich zweifle, dass er
sich ganz aus Gaza zurückzieht, er wird den totalen Bruch nicht riskieren.“
Wie unterscheiden Sie Antisemitismus
und Antizionismus? Hier zu Lande oft in einen Topf geworfen.
“Was ist der Unterschied zwischen einem Antikommunisten und einem Vegetarier?
Das ist doch nicht vergleichbar. Antisemitismus ist ein Ausdruck von Rassismus,
negiert das Recht des Anderen auf Leben, ob Jude, Roma oder Schwarzer.
Antizionismus ist eine Philosophie, die man unterstützen oder ablehnen kann.
Die meisten europäischen Juden waren vor Hitler Antizionisten. Ein Antizionist
muss kein Antisemit sein. Da kann man auch sagen: Ich esse kein Fleisch, weil
ich gegen Schwarze bin.“
Wer steht Ihnen näher: Theodor Herzl
oder Martin Buber?
“Auch da liegen Welten dazwischen. Da könnte man auch Joschka Fischer und Karl
Marx vergleichen. Herzl war ein wenig erfolgreicher Schriftsteller und ein
schlechter Journalist. Martin Buber war ein großer und interessanter Philosoph
und ein Humanist. Er sah den Menschen, nicht den Juden, den Deutschen, den
Araber. Er sagte: »Lasst uns mit den Arabern leben. Nicht sie sind an unserem Unglück
schuld, sondern die Europäer, die uns fortgejagt haben.« Herzl und die anderen
Zionisten sagten: »Ich habe meine Probleme zu lösen und kann mich nicht um die
anderer kümmern. Sorry.« Manche sagen noch nicht einmal »sorry«.
Nein, ich kann und darf meine Probleme niemals auf Kosten anderer lösen. Wenn
wir sagen: »Ihr seid uns im Weg, fort mit euch«, dann begeben wir uns auf den
mörderischen Pfad der ethnischen Säuberung. Das kann ich angesichts der
Geschichte meines Volkes und meiner Familie nicht mitmachen.“
Ihrer Familie?
“Die Familie meines Vaters wurde von den Nazis in Polen ermordet.“
Mir ist aufgefallen, dass Sie nie das
Wort Holocaust benutzen.
“Holocaust meint ein heiliges Ritual, ein Brandopfer. Die Juden waren keine
Kühe und sind nicht für Gott geopfert worden. Warum Begriffe aus der religiösen
Welt nehmen, um den Genozid zu beschreiben?“
Ein US-Fernsehfilm hat den Euphemismus
zur Mode erhoben.
“Als ich Kind war, sprachen wir von Vertreibung, Deportation, Mord. Shoah oder
Holocaust stehen für eine neue, postmoderne Ansicht. Man könne nicht verstehen
und begreifen, es sei nicht erklärbar, phänomenal, irrational. Natürlich hat
jeder Rassismus etwas Irrationales an sich. Aber der Genozid an den
europäischen Juden erfolgte nicht außerhalb der europäischen Geschichte,
wurzelt in einer über zweitausendjährigen Verfolgung der Juden als
Antichristen.“
Und arabischer Antisemitismus? Sie
können ihn nicht negieren.
“Doch, das kann und tue ich. In der arabischen Hemisphäre sind die Juden
niemals so verfolgt und massakriert worden wie in der europäischen. Sie wurden
mehr oder weniger unterdrückt, waren mitunter akzeptiert und respektiert, aber
auch nicht gleichberechtigt. Gleichberechtigung für Minoritäten kennen selbst
die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Menschenrechtsdeklaration
der Französischen Revolution nicht. Ich wünschte, die sechs Millionen Juden im
Europa vor Hitler hätten in arabischen Ländern gelebt. Die Araber sind nicht
antisemitisch. Antisemitismus predigen die Theologen; sie schüren Ressentiments
und Hass mit ihren antijüdischen Statements. Und dies, obwohl es in den
arabischen Ländern kaum mehr Juden gibt. Sie mussten diese nach den jeweiligen
Kriegen, die Israel gegen seine arabischen Nachbarn geführt hatte, verlassen.“
Anderes Thema: Warum hat Israel keine
Verfassung?
“Weil sich das nicht vereint mit dem Anspruch »Jüdischer Staat«.“
Wie das?
“Privilegien für eine Gemeinschaft bedeuten Apartheid-Verfassung. Unser
Parlament arbeitet seit 40 Jahren daran, eine Verfassung zu verhindern, denn
eine demokratische müsste allen Bürgern die gleichen Rechte zugestehen, also
auch den Arabern. Und wir müssten ein säkularer Staat sein. Man kann kein
demokratischer und zugleich jüdischer Staat sein. In einem demokratischen Staat
sind alle Menschen gleich, in Israel sind sie es nicht.“
Was ist, wenn eines Tages die Araber
die Majorität in Israel sind?
“Bei uns sagt man: »Das ist ein Problem.« Für mich ist das keins. Mir genügt
es, wenn meine Rechte als Individuum gewahrt sind, und die meiner Frau und
Kinder und meiner Community. Und wenn meine Enkelkinder die hebräische Sprache
erlernen und die Geschichte ihres Volkes erfahren können.“
Können Sie Arabisch?
“Ich nicht. Meine Tochter spricht Arabisch perfekt, weil sie es so wollte. Mein
Sohn lernt jetzt. Meine Frau spricht ebenfalls perfekt. Sie ist Anwältin,
verteidigt Palästinenser. Doch zurück zu Ihrer Frage: Ich habe keine Angst vor
einer arabischen Majorität. Aber die israelische Gesellschaft, das Parlament,
die Medien sind besessen von dieser Furcht. Töchter werden bedrängt: »Wann
bekommst du ein Baby? Schnell, schnell, wir brauchen Kinder.« Das ist verrückt,
krank. Meine Gesellschaft ist krank.“
Welche Prognose wagen Sie für Israels
Zukunft?
“Ich wage keine. Nur so viel: Wenn Israel nicht mehr als Staat existiert, was
soll’s. Ein Staat ist nur ein Werkzeug oder eine Hülle, wie Sie wollen. Sorgen
mache ich mir um die jüdische Gemeinschaft, um uns Juden. Welche Fahne wir vor
uns her tragen oder in welchem politischen Rahmen wir leben – das ist sekundär.
Aber unsere Existenz als Gruppe haben wir zu sichern. Doch was wir tun – sich
abzuschotten und Hass auf uns zu ziehen – ist dem nicht dienlich. Wir zerstören
uns selbst. Das ist die Tragödie, die ich verhindern will. Um jeden Preis.“
(„Neues Deutschland“ 12.10.2004)