Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Nach dem Gipfeltreffen von Mahmud Abbas („Abu Mazen“) und Ariel Sharon im ägyptischen Badeort Sharm el-Sheik, der offiziellen Feuerpause, dem Rückzug der Besatzungstruppen aus einigen palästinensischen Städten und der Freilassung einiger Hundert der rund 8.000 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Knästen verbreiten die bürgerlichen Medien überschäumenden Optimismus. Dabei wird nicht nur tunlichst unterschlagen, dass israelische Besatzungstruppen seit Beginn dieser Waffenruhe fünf Palästinenser erschossen (darunter ein 13jahriges Mädchen, einen 14 jährigen und einen 16jährigen Jungen), zahlreiche weitere verletzten und diverse gefangen nahmen, sondern auch dass Sharon, Peres & Co. überhaupt nicht an eine Räumung der Siedlungen im Westjordanland denken, sondern die Bautätigkeit dort vielmehr intensiviert wird, dass Israel immer deutlichere Ansprüche auch auf Ost-Jerusalem erhebt etc.

Der linke israelische Soziologieprofessor an der Jüdischen Universität von Jerusalem und Friedensaktivist Zvi Schuldiner warf in einem Leitartikel für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 9.2.2005 einen wesentlich nüchterneren Blick auf die Vorgänge in Palästina. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung seines Kommentars, weil wir eine nüchterne Betrachtung sehr notwendig finden, auch wenn wir seine Gleichsetzung jeglichen bewaffneten Widerstandes gegen die israelische Besatzung mit Terrorismus absolut nicht teilen.

 

Sharm el-Sheik:

 

Ein Schritt voran, aber der Optimismus ist fehl am Platz

 

ZVI SCHULDINER

 

In Sharm el-Sheik scheint die Welle moderaten Optimismus, die durch die Region schwappt, mit dem, unter ägyptischer Schirmherrschaft und mit jordanischer Beteiligung abgehaltenen, israelisch-palästinensischen Gipfeltreffen einen neuen Höchststand erreicht zu haben. Dem Anschein nach markiert dieses Gipfeltreffen den Beginn einer wirklichen und zwischen beiden Seiten vereinbarten Feuereinstellung und vielleicht öffnet es die Türen für bilaterale Verhandlungen. Der israelische Ministerpräsident Sharon kam zu dem Treffen mit der Forderung, dass die Sicherheitsprobleme im Mittelpunkt stehen sollten. Die Botschaft, die er den Israelis bei den Schlussworten der Konferenz übermittelte, war eher überraschend und könnte die Grundlage für einen größeren Optimismus bezüglich der Wiederaufnahme des politischen Prozesses sein.

 

Die Feuereinstellung ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie die Tür für Verhandlungen zwischen beiden Seiten öffnet. Die Entspannung in der Region ist auch deshalb wichtig, weil sie ein neues Klima schafft und einen konstruktiven Druck auf die islamistischen Gruppen ausübt. Das alles darf jedoch in dem Moment, in dem man eine Bilanz des gestrigen Gipfeltreffens und seiner Ergebnisse zieht, ein grundlegendes Problem nicht in Vergessenheit geraten lassen: Der Versuch, die Verhandlungen so einzuleiten (und die amerikanische Regierung ist Teil dieses Spiels) als ob der Terrorismus der zentrale Punkt wäre, führt zu einem wesentlichen Fehler. Der, in allen seinen Formen zu verurteilende, Terrorismus ist nichts anderes als der unvermeidliche Effekt des Hauptproblems: der israelischen Besatzung.

 

Sharon hat von einem unabhängigen palästinensischen Staat gesprochen, der mit Israel in Frieden lebt und das ist ein wichtiger Punkt, der hier in Israel bereits Polemiken ausgelöst hat. Das wirkliche Problem sind jedoch die realen Inhalte dieser Prinzipienerklärung. Es ist essentiell, zu klären, ob es sich um wage Formulierungen bezüglich eines möglichen fiktiven Staates handelt, eine Konföderation isolierter Bantustans unter israelischer Kontrolle oder um einen echten Staat, was den israelischen Rückzug auf die Grenzen von `67 und die Räumung der Siedlungen in allen besetzten Gebieten erfordert.

 

In Sharm proklamierten beide Seiten die Feuereinstellung. Diese Proklamation ist allerdings eine Unbekannte, die von dem Moment an künftige Spannungen hervorrufen wird, wo einige palästinensische Gruppen erklären, dass sie nicht konsultiert wurden und sie sich somit nicht daran gebunden fühlen, diese Verpflichtung einzuhalten.

 

Wird die Feuereinstellung vielleicht einen tatsächlichen Rückzug der israelischen Streitkräfte und die Rückkehr zur vor dem 28.September 2000 bestehenden territorialen Situation bedeuten (d.h. vor dem Tag des berühmten “Spaziergangs“ von Sharon auf dem Tempelberg) ? Während auf beiden Seiten über den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den wichtigsten palästinensischen Städten Einvernehmen zu herrschen scheint, bleibt der Sinn des Rückzuges das wahre Problem. Das Problem, das die palästinensische Bevölkerung beunruhigt, ist äußerst konkret: Die israelischen Besatzungskräfte sprechen von einem Rückzug, der es ihnen erlaubt, die Städte, aus denen sie sich zurückziehen werden, weiterhin unter Belagerung zu halten. Das würde nur kosmetische Veränderungen bedeuten. Das Problem ist die Mauer des Hasses (die ‚Sicherheitsbarriere’ in der israelischen Terminologie), die aus dem täglichen Leben der Palästinenser ein Inferno macht.

 

Für die palästinensischen Führer, Minister und Beamten ist der Transit bereits ziemlich frei und sie genießen Privilegien, die den tieferen Sinn der israelischen Präsenz in Vergessenheit geraten lassen: Die Kontrollposten der Armee, die Belagerung der Städte und die „aus Sicherheitsgründen“ nur für die Siedler offenen „Apartheidstraßen“.

 

Die einfachsten Kontakte zwischen Familienmitgliedern, die Fahrt in ein Krankenhaus, die Arbeit in den Lagern, die Ankunft am Arbeitsplatz – das alles ist Teil eines alltäglichen Alptraums, in dem die israelischen Kriegsherren palästinensischen Männern, Frauen und Kindern diktieren, bis wohin sie sich bewegen können.

 

Und dann: Was wird aus den Tausenden palästinensischer Gefangener ? Die israelische Regierung fährt mit ihrer absurden Rhetorik fort und erinnert ständig an das Problem mit denen, die „Blut an den Händen haben“. Es ist nicht nötig, was dieses Problem anbelangt, allzu tief schürfende Analysen zu bemühen. Es genügt ein kleines Beispiel, um die extreme Heuchelei der israelischen Position aufzuzeigen, wenn sie auf Schritt und Tritt wiederholt, dass es unmöglich sei, diejenigen freizulassen, die Verbrechen begangen hätten, bei denen Israelis getötet wurden. Im Likud-Block hat man Wahlen zum Parteivorstand abgehalten und einer der Kandidaten (der nicht gewählt wurde, weil er als Mitglied einer rechtsextremen Gruppe betrachtet wurde) war einer der israelischen Terroristen, die wegen der Ermordung mehrerer Palästinenser in Hebron vor 20 Jahren verurteilt wurden. Jener Kandidat wurde nach nur 6 Jahren Gefängnis amnestiert und freigelassen. Trotzdem redet man hier ständig von Palästinensern, die Blut an den Händen hätten, auch wenn einige von ihnen mittlerweile älter als 70 Jahre sind.

 

Sharon spricht von Übergang vom einseitigen Rückzug aus Gaza zu Verhandlungen mit der neuen palästinensischen Führung. Was wichtig ist. Das wesentliche Problem bleibt aber die Frage: Werden Bedingungen für Verhandlungen geschaffen, bei denen den Palästinensern endlich nicht mehr die Bedingungen diktiert werden ?

 

Das wirkliche Problem ist in diesen Stunden, wie man über die Rhetorik hinauskommt, um zum Ende der israelischen Besatzung zu gelangen. Ohne Bantustans, mit einer echten Unabhängigkeit, mit wirklichen Rechten, im Bereich eines wirklich neuen Mittleren Ostens. Dies würde u.a. auch die Neutralisierung der in der Region dominanten imperialistischen Interessen erfordern. Die aktive Beteiligung von Ägyptern, Jordaniern und Europäern könnte sich als ein notwendiger und ausgleichender Faktor erweisen, um einen wirklichen Wechsel zu ermöglichen, ohne zu Gefangenen eines Optimismus zu werden, der nicht wirklich über Wurzeln verfügt.

 

Vorbemerkung und Übersetzung:

Antifa-AG der Uni Hannover