Antifa-AG der Uni Hannover:
In einem Beitrag für die Internetseite
der Zeitschrift „ERRE“ (früher „Bandiera Rossa“), dem Organ der
gleichnamigen, gemäßigt linken Oppositionsströmung innerhalb von Rifondazione
Comunista (PRC) und italienischen Sektion der offiziellen 4.Internationale,
untersucht der führende Vertreter dieser Strömung (die 6,5% der PRC-Mitglieder
hinter sich hat) und stellvertretende Chefredakteur der von Rifondazione
herausgegebenen Tageszeitung „Liberazione“, Salvatore Cannavò, die Hintergründe
der gegenwärtigen EU-Krise. Sein Artikel wurde am 20.6.2005 auf der
„ERRE“-Homepage (www.erre.info) veröffentlicht.
Während er eine gute Analyse der Situation liefert, sind die politischen
Orientierungen Cannavòs dezidiert reformistischer Art. Es ist kein Geheimnis,
dass wir da andere Positionen vertreten.
Die 4 Faktoren der europäischen
Krise
Von Salvatore Cannavò
Durch das Wiederauftauchen
der nationalen Interessen, die Wirtschaftskrise und eine im französischen und
holländischen Referendum deutlich gewordene Konsenskrise unter Druck geraten,
hat die Europäische Union einen regelrechten Kollaps erlebt. Der Brüsseler
Gipfel ist mit einer Vertagung des Ratifizierungsprozesses auf unbestimmte Zeit
und dem Scheitern der Verhandlungen über den Haushalt der Gemeinschaft zu Ende
gegangen. Ein Staat, dem Haushalt und Verfassung fehlten, würde nicht mehr
existieren. Das ist bei Europa, das noch kein Staat ist, nicht der Fall. Die
Krise, die sich im Europäischen Rat gezeigt hat, gehört allerdings zu denen,
die Spuren hinterlassen und unterschiedlichen Rezepten und Perspektiven für die
Union in ihrer Gesamtheit neue Legitimität verschaffen.
Die Gründe für die Krise
waren bereits am Vorabend des Gipfels deutlich und die Theatralik der
Auseinandersetzung zwischen Blair und Chirac stellte nur das Epiphänomen einer
schleichenden Krise dar. In Wirklichkeit war die Offensive des britischen
Premiers in eine Situation der Paralyse und der Schwäche der historischen Achse
eingebettet, die die Europäische Union bisher am Leben gehalten hat, d.h. die
deutsch-französische Achse (die Erstere durch das wahrscheinliche Ausscheiden
der Sozialdemokratie aus der deutschen Regierung und die Zweite vom Referendum
in Mitleidenschaft gezogen), um zu einer Neuaushandlung der Regeln zu gelangen,
auf denen die EU beruht und die dann sowohl für Großbritannien als auch für
seine strategische Perspektive, die mehr in Richtung Atlantik als in Richtung
Ural geht, vorteilhafter sind.
So hat Blair den Pfeiler des
Gemeinschaftshaushaltes – die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) – unter Beschuss
genommen, die er als überholt und als im wesentlichen von den
Wahlkampfinteressen der französischen Politik abhängig betrachtet (die
französischen Landwirte, die Hauptnutznießer der GAP, haben massenhaft gegen
die Verfassung gestimmt) und damit als Bremse für eine andere Verwendung der
Gemeinschaftsfonds. Die, der englischen Strategie zufolge, dazu dienen sollten,
„eher die Aktivitäten der Zukunft als die der Vergangenheit“ zu stärken, wie
Blair sagte. Großbritannien zielt im wesentlichen mehr darauf ab, die
Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen durch die Reform des Arbeitsmarktes, die
Liberalisierung des Energiemarktes, die Reduzierung der öffentlichen Beihilfen
und die Verwirklichung eines Finanzmarktes zu stärken, der die beiden Ufer des
Atlantiks soweit wie möglich vereint.
Diese Attacke, die ganz
nüchtern auf eine Strategie zur Überwindung der gegenwärtigen Krise abzielt
(Großbritannien ist turnusmäßig der nächste Präsident der EU und sowohl Blair
als auch sein Außenminister Straw haben versichert, dass die englische
Präsidentschaft aus der Klemme herausführen wird), wurde jedoch durch das Auftreten von mindestes 4
Krisenfaktoren ermöglicht.
Der erste und
offensichtlichste ist der des
sozialen Konsenses. Zuerst das französische und dann das holländische
Referendum sowie die in allen europäischen Staaten durchgeführten Umfragen
zeigen eine zunehmende Kluft zwischen den verschiedenen nationalen
gesellschaftlichen Situationen und dem europäischen Projekt, das sich bisher im
wesentlichen durch seinen aus monetären und haushaltspolitischen Bindungen,
einer starken Währung und einer restriktiven Finanzpolitik bestehenden
wirtschaftsliberalen Inhalt auszeichnete.
Dieses Auseinanderklaffen
war für diejenigen, die es sehen wollten, bereits bei den letzten Europawahlen
deutlich geworden, die die Niederlage aller amtierenden Regierungen markierten. Das französische
Referendum hat dies unmissverständlich gemacht und dafür gesorgt, dass es
Rückwirkungen bis in die Verhandlungen der auf dem Brüsseler Gipfel vereinten
25 hatte.
Den zweiten Krisenfaktor stellt die alles andere als glänzende
wirtschaftliche Lage dar, aufgrund derer die europäischen Staaten dazu
gezwungen sind, die Lockerung der zuerst in Maastricht festgelegten und dann
vom Stabilitätspakt bestätigten monetären Bindungen zu fordern. Diese Situation
hat sich auf einen Gemeinschaftshaushalt übertragen, der zu 77% aus der GAP
sowie aus Strukturfonds für die ärmeren Gebiete besteht. In Brüssel ist so ein
surrealer „Krieg unter den Armen“ ausgebrochen, der das Scheitern von mehr als
einem Jahrzehnt europäischer Politik beleuchtet, die durch haushaltspolitische
Strenge geprägt war.
Drittens die Situation des Euro, dem einzigen Kohäsionselement
der EU, dem jedoch eine politische Führung fehlt, die in der Lage ist hier für
eine verantwortungsbewusste Entwicklung zu sorgen (di responsabilizzarne
l’andamento). Die Leitung der Europäischen Zentralbank hat in Ehrerbietung
gegenüber dem Stabilitätspakt den Kurs der Gemeinschaftswährung hochgehalten,
damit dem Export geschadet und den Binnenmarkt in starkem Maße durch die
internationale Konkurrenz (in erster Linie China) verwundbar gemacht. Das, für
die Taschen der Werktätigen (lavoratori) desaströse Ergebnis der
Einheitswährung hat die Lage nur noch verschlimmert.
Und schließlich hat sich <viertens> die
Osterweiterung als Beginn des neuen Jahrhunderts und der großen Phase der
europäischen Befriedung auf der finanziellen Ebene als kostspielig und auf der
institutionellen Ebene als kompliziert erwiesen. Nutznießer sind nur einige der
Gründerstaaten <der
EU>, wie Deutschland. Ohne dass dies
für die Anderen (angefangen bei Großbritannien und Frankreich) besondere
Vorteile hätte. Deshalb ist auch der Erweiterungsprozess, der ohne Frage
überprüft und überarbeitet wird, aus Brüssel lädiert hervorgegangen.
Eine strukturelle Krise
also, die den Vereinigungsprozess, der über einen noch wichtigeren Antrieb
verfügt, wahrscheinlich nicht bremsen wird. Die europäischen Unternehmen suchen
immer mehr die Integration auf EU-Ebene (man denke an die, mit den
Akquisitionen in Italien, aber auch mit der von Unicredit in Deutschland
durchgeführten Operation, im Bankenwesen stattfindenden Erschütterungen) und
die europäische Dimension ist essentiell, um der internationalen Konkurrenz (in
erster Linie aus den USA) standzuhalten.
Die wirtschaftliche
Krisensituation begünstigt allerdings das erneute Auftauchen umfangreicher
nationaler Interessen. Auch deshalb, weil die Staaten weit davon entfernt sind,
zu verschwinden und ihre ganze Anziehungskraft ausüben. (Nicht zufällig existiert
in Italien eine starke nationalistische und euroskeptische Komponente, die
versucht, das italienische System abzusichern, um sein Überleben auf der
internationalen Bühne sicherzustellen. Der Zentralbankgouverneur Fazio ist
einer der Regisseure dieses Lagers.)
Es ist daher wahrscheinlich,
dass neue Kompromisse und neue Gleichgewichte gefunden werden. Zu erwarten ist
jedoch eine umfassende Überprüfung der grundlegenden Regeln und Perspektiven.
In einem vor kurzem erschienenen Artikel behauptet Jeremy Rifkin, dass durch
das französische Referendum das System des europäischen Kapitalismus zur
Diskussion gestellt wird. Das stimmt. Großbritannien positioniert sich als
Hauptvertreter der ultraliberalen Lösung und nutzt dabei seine Stärke und die
Stärke seiner gegenwärtigen Regierung aus. Bis heute ist sie die einzige, die
klare Vorstellungen hat und das wird man an zwei heiklen Kapiteln spüren: Über
den Gemeinschaftshaushalt hinaus auch an der Bolkestein- und der
Arbeitszeitrichtlinie.
In strategischen
Schwierigkeiten steckt hingegen der Block, der die Einigung bislang getragen
hat, der vom deutsch-französischen Motor repräsentierte Kapitalismus „mit
menschlichem Antlitz“. Das deutet Chiracs Krise und diejenige Deutschlands an,
wo sich ein Regierungswechsel anbahnt. Es handelt sich allerdings um eine
Krise, die auch die italienische Mitte-Linke erfasst – angefangen bei Romano
Prodi, der darauf alle Karten seiner programmatischen Identität gesetzt hatte.
Während Berlusconi abwechselnd sowohl den Bezug auf die Blair-Linie als auch
den Euroskeptizismus nutzen wird, um die Situation auszuschlachten. Die Verankerung
im geschlagenen Europäismus läuft Gefahr für diejenigen, die sich als
Alternative präsentieren wollen, zu einem Klotz am Bein zu werden.
Daher ist eine konsequent
anti-wirtschaftsliberale Option gefragt, die durch das französische Referendum
potentiell gestärkt ist, sich aber noch in einer definierten Politik
niederschlagen muss, in einem kohärenten Vorschlag und in einer glaubwürdigen
Subjektivität. Daran arbeiten die Kräfte der Bewegung (am kommenden Wochenende
wird in Paris eine europäische Versammlung stattfinden) und die Kräfte der
anti-wirtschaftsliberalen Linken von der Partei der Europäischen Linken bis hin
zur <Europäischen> Antikapitalistischen Linken.
Es öffnet sich nicht nur ein
Spielraum, sondern auch eine Verantwortung, weil der Rückschlag von Brüssel die
reaktionären und nationalistischen Bestrebungen stärken kann (man schaue sich
den Jubel der <rechtspopulistischen> Lega Nord an). Die Fähigkeit, einen sowohl zum
angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus wie zum deutsch-französischen Europa
alternativen Vorschlag zu machen, wird damit unverzichtbar.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover