Antifa-AG der Uni Hannover:
Nach wir vor wird über die
palästinensische Islamische Widerstandsbewegung (kurz: Hamas) viel geredet, meist
ohne dass aktuelle Originaltöne von ihr bekannt sind. Das ehemalige
Zentralorgan der 1990 aufgelösten italienischen KP (PCI), die heute den
Linksdemokraten (DS) gehörende sozialdemokratische Tageszeitung „l’Unità“
bildete da jüngst eine wohltuende Ausnahme, indem sie neben diversen Vertretern
des zionistischen Lagers (inklusive dem ehemaligen Mossad-Chef Dany Yatom und
dem ehemaligen Innen- und Außenminister Shlomo Ben Ami) auch den Hamas-Sprecher
im Gaza-Streifen, Mahmud Al-Zahar, zu Wort kommen ließ. Zahar ist neben dem in
Damaskus lebenden Chef der Hamas-Auslandsleitung, Khaled Mahaal, und dem
Sprecher der Hamas im Westjordanland, Scheich Hasan Yusef, einer der drei
führenden Köpfe, über die die Organisation derzeit verfügt und als solcher
ständig von den sog. „extralegalen
Tötungen“ der staatlichen israelischen Todesschwadronen bedroht. Das „l’Unità“-Interview
erschien am 9.8.2005.
„Wir werden nicht auf die
abziehenden Siedler schießen“
Die Durchsuchung, der wir
unterzogen werden, ist minutiös. Das Handy wird beschlagnahmt, der Rekorder
auseinander genommen und wieder zusammengesetzt. Wir werden gebeten, den Ort,
an dem das Interview stattfindet, nicht zu beschreiben. „Der Rückzug aus „Gaza“
– hebt al-Zahar sofort hervor – „ist nicht nur ein Sieg der Hamas, sondern
aller Gruppen, die den Widerstandskampf gegen die zionistische Besatzung
getragen haben. Ohne den bewaffneten Widerstand hätte Israel nicht einmal im
Traum daran gedacht, sich zurückzuziehen. Für das, was in Gaza geschieht, gibt
es nur einen Präzedenzfall: Den israelischen Rückzug aus dem Südlibanon, der
ebenfalls durch den Widerstandskampf des libanesischen Volkes und seiner
Avantgarde (der Hisbollah; Anm.d.Red.) bestimmt war.“
Die Spannung ist spürbar.
Die beiden Leibwächter al-Zahars streicheln nervös den Abzug ihrer
Kalaschnikows und zucken beim geringsten Geräusch zusammen. Einer hält am
Fenster Wache. Der Tod kann vom Himmel kommen, herbeigeführt durch die
Luft-Boden-Raketen der Apache – der israelischen Kampfhubschrauber.
Ministerpräsident Ariel Sharon hat die Palästinenser, die Autonomiebehörde (PA)
und die Gruppen der Intifada gewarnt: Israel sei bereit, eine verheerende
Reaktion zu entfesseln, wenn der Rückzug der Soldaten und der Siedler von
terroristischen Aktionen der Palästinenser begleitet wird. „Sharons Drohungen
machen uns keine Angst“, schlägt al-Zahar zurück. „Unsere Linie ist klar: Wir
werden nicht die Ersten sein, die wieder zur Gewalt greifen. Wir werden nicht
auf die geschlagenen Feinde schießen. Für uns ist der Rückzug der israelischen
Siedler und Soldaten bereits an sich ein politischer und militärischer Sieg.
Wir werden nicht die Ersten sein, die angreifen, aber wir sind darauf
vorbereitet, auf jede Provokation angemessen zu reagieren.“
In den letzten Tagen haben
sich die Kontakte zwischen Autonomiebehörde (PA) und Hamas intensiviert, um
eine gemeinsame Gestaltung der Zeit nach dem Rückzug zu vereinbaren. „Wir sind
bereit, unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen“, erklärt al-Zahar. „Wir
sagen aber ganz klar, dass wir keine Anweisung zur Entwaffnung akzeptieren
werden. Wir richten unsere Waffen nicht gegen andere Palästinenser. Aber
niemand wird uns je zur Kapitulation gegenüber dem Feind des palästinensischen
Volkes zwingen. Der Widerstand wird bis zur Befreiung des gesamten Palästinas
weitergehen.“
Ist der Rückzug Israels
aus Gaza eine Kapitulation Sharons vor der Hamas, wie diejenigen in Israel
beklagen, die gegen den Sharon-Plan sind ?
„Ja, es ist ein Sieg, aber
nicht nur einer der Hamas, sondern der gesamten Widerstandsfront gegen die
zionistische Besatzung. Ohne diesen Widerstand, ohne unsere shahid
(Märtyrer; Anm.d.Red.) hätte Israel nicht im Traum daran gedacht, sich
zurückzuziehen.“
Wird Hamas die
israelischen Soldaten in den Tagen des Rückzugs angreifen ?
„Das zählt nicht zu unseren
Absichten. Nein, wir werden sie nicht angreifen. Aber wir sind bereit, jede
Provokation zu beantworten. Die Generalmobilmachung hat begonnen.“
Sie sprechen von
Verteidigung. Aber was ist an den Dutzenden von Qassam-Rakten defensiv, die
Hamas auf <die israelische Grenzstadt> Sderot und die israelischen Kolonien abgefeuert
hat ?
„Hören Sie mir gut zu: Es
kann Euch Europäern gefallen oder nicht, aber die Geschichte zeigt, dass diese
Raketen die Interessen der Palästinenser vertreten. Es waren die Raketen, die
Israel dazu genötigt haben, sich aus dem Gaza-Streifen zurückzuziehen und sie
sind es auch, die in Zukunft der Besatzung ein Ende setzen werden. Nicht die
Verhandlungen – der bewaffnete Kampf hat zum Rückzug aus Gaza geführt.“
Israel befürchtet, dass
sich der Gaza-Streifen nach dem Rückzug aus Tzahal in Hamasland verwandelt.
„Hamas ist heute die im
Gaza-Streifen am stärksten verankerte Bewegung und in jedem Bereich des
politischen und sozialen Lebens präsent. Wir brauchen keine ausländische
Legitimation. Unsere Kraft kommt aus dem Volk.“
Seid Ihr zu Verhandlungen
mit Israel bereit ?
„Mit denjenigen, die sich
unser Land widerrechtlich angeeignet haben, die unsere Leute erniedrigt und
umgebracht haben ? Nein, unter diesen Bedingungen von Verhandlungen zu
sprechen, hat keinen Sinn. Unsere nationale Sache betrifft nicht nur Gaza,
Cisjordanien oder Jerusalem. Unsere Sache ist Palästina in seiner Gesamtheit.“
Der Rückzug aus Gaza
stellt die Frage nach dem Umgang mit den geräumten Gebieten. Wie sieht
diesbezüglich die Position der Hamas aus ?
„Um Israel zum Rückzug zu
zwingen, haben wir unseren Teil des <dabei geflossenen palästinensischen> Blutes gegeben. Nun wollen wir auch an den
Entscheidungen beteiligt werden.“
Ist das eine
Herausforderung an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von Abu Mazen ?
„Nein. Das ist die legitime
Forderung nach einer Rolle, die auch Mahmud Abbas (Abu Mazen; Anm.d.Red.)
nicht ablehnen kann.“
Von den Spitzenvertretern
der PA kommen in diesen erregten Tagen Aufrufe zur Einheit. Was ist die Antwort
der Hamas ?
„Die Einheit, die wir
anstreben, für die wir kämpfen, muss sich auf das Recht des palästinensischen
Volkes gründen, Widerstand gegen die Besatzung zu leisten.“
5.000 Polizisten der PA
stehen bereit, um nach dem israelischen Rückzug Sicherheit und Ordnung zu
gewährleisten. Ist das eine Warnung an die Adresse der Hamas ?
„Das glaube ich wirklich
nicht. Diese Polizisten werden – genau wie unsere Milizionäre – auf israelische
Provokationen achten <und
diese unterbinden>.“
Heute (gestern; Anm.d.Red.)
hat Abu Mazen, im Verlaufe einer in Gaza stattfindenden Tagung des
palästinensischen Parlaments, angekündigt, dass die Parlamentswahlen im Januar
2006 abgehalten werden. Wird Hamas daran teilnehmen ?
„Wir sind Teil der
palästinensischen Nation. Das wollen wir auch in den repräsentativen
Institutionen sein. Ja, wir werden uns an den Parlamentswahlen beteiligen und
diese Entscheidung steht nicht im Gegensatz zur Entschlossenheit, mit der wir
den Widerstand gegen die Besatzung fortsetzen.“
Und wenn Ihr als
Vorbedingung für die Teilnahme an den Wahlen zur Entwaffnung der Milizen
aufgefordert würdet ?
„Das ist nicht der Fall. Wir
werden die Waffen niederlegen, wenn kein israelischer Soldat mehr seinen Fuß
auf die heilige Erde Palästinas setzt.“
Ist im Horizont der Hamas
ein Zusammenleben mit Israel möglich ?
„Unter bestimmten
Bedingungen können wir eine Waffenruhe aushandeln – auch eine lange.
Perspektivisch gibt es allerdings keine Möglichkeit einer Koexistenz zweier
Staaten in Palästina. Entweder wir oder Israel !“
Die Zeit für das Interview
ist um. Ein mit einer Kalaschnikow bewaffneter Jugendlicher macht uns Zeichen,
einige Minuten zu warten, bis wir hinausgehen. Die Schatten des Abends fallen
auf Gaza. Auf den Straßen gärt es. Es herrscht reger Betrieb. Die Atmosphäre
ist aufgeladen. Hunderte von Kindern bereiten Fahnen und Transparente für den
„Tag der Befreiung“ des Gaza-Streifens vor. An jenem Tag, sagt uns Mahmud
al-Zahar als wir uns verabschieden, „werden die Fahnen der Hamas auf den von
den Israelis verlassenen Gebäuden wehen – in der Erwartung, <eines Tages> in Al-Quds (Jerusalem) zu wehen.“
(Dieses Interview entstand
unter Mitarbeit von Osama Hamlan.)
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover