Antifa-AG
der Uni Hannover:
Über die libanesische Hisbollah (Partei
Gottes) wird in diesen Tagen des zweiten israelischen Libanon-Krieges viel
behauptet und spekuliert. Dass die Hisbollah keineswegs eine islamistisch-fundamentalistische Sekte ist, sondern sich
als „nationale Widerstandsorganisation“ gegen imperialistische
Einmischung und Rekolonisierungsversuche versteht, ihr
(auch auf Funktionärsebene) auch Christen angehören, sie mit der libanesischen
KP, dem größten Gewerkschaftsbund des Landes (CGTL) und der größten
Organisation der christlich-maronitischen Libanesen
(Michel Aouns „Freier Patriotischer Bewegung“)
verbündet ist und mit diesen Organisationen am 10.Mai 2006 in Beirut 250.000
Libanesen gegen die Reformprojekte der Regierung mobilisierte, wird dabei gern
verschwiegen. Ein Grund mehr zu hören, was die Hisbollah selbst zu sagen hat und
sich dann ein (durchaus kritisches) Urteil von ihr zu bilden. Die linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“
interviewte zwei Wochen vor der Gefangennahme des israelischen Unteroffiziers Shalit durch palästinensische Guerillas am Rande des
Gaza-Streifens die Nr.2 der Organisation, Naim
Qassem, zur Libanon-Politik Israels und der USA
und zur innerlibanesischen Entwicklung. Das Interview erschien am 18.6.2006.
Interview mit Scheich Naim
Qassem (stellvertretender Generalsekretär der
Hisbollah):
„Washington destabilisiert den
Libanon“
„Wir werden den Kampf zur Befreiung des von Israel besetzten Gebietes um
die Sheba-Höfe fortsetzen. Über Entwaffnung wird im
Moment nicht geredet.“
STEFANO CHIARINI – aus Beirut
„Europa sollte über die
letzte Botschaft von <Al
Qaida-Führer> Sarkawi nachdenken, die sich nicht mehr nur
an die Iraker, sondern an die Bewohner des gesamten Gebietes von Bilad as-Shams vom Irak bis nach
Syrien und von Palästina bis nach Jordanien richtet, weil sie ein Projekt für
den Mittleren Osten belegt, das demjenigen der USA theoretisch entgegengesetzt
ist, sich in Wirklichkeit aber mit dem US-Projekt der ‚kreativen Zerstörung’
der Staaten der Region überschneidet und mit ihm übereinstimmt. Umso mehr als
sich beide Seiten, indem sie sich des Terrors und der Angst bedienen,
gegenseitig stärken. Angesichts dieser dramatischen Situation sollte Europa
zwischen dem von diesen Theorien des Clashs der
Kulturen provozierten Chaos (Theorien, die sich aus der Ablehnung des Anderen,
den Besatzungen, den Drohungen mit Militärinterventionen, den ethnischen und
konfessionellen Auseinandersetzungen nähren) und der Politik, dem Dialog, der
Respektierung und der Selbstbestimmung der Völker (angefangen beim
palästinensischen Volk) wählen.“
Der stellvertretende
Generalsekretär der Hisbollah, Scheich Naim Qassem, empfängt uns im Salon seines Büros im Stadtteil Haret Reik, einer der Hochburgen
der Bewegung in der heruntergekommenen Peripherie im Süden der Hauptstadt. Die
Sicherheitsmaßnahmen sind außergewöhnlich. Ein ganzes Areal des Stadtteils mit
enormen Vorort-Hochhäusern, eines neben dem anderen, mit einem Spinnennetz aus
Stromleitungen, ist – zum Schutz vor in LKW’s
versteckten Autobomben – durch ein großes Gittertor abgesperrt. Milizionäre in
schwarzen Kampfanzügen mit roter Baskenmütze bewachen die Eingänge. Wir
befinden uns im ehemaligen „Angst- und Armutsgürtel“ in der südlichen
Peripherie von Beirut. In den Stadtteilen, die einst für ihre Armut und (vor
allem im Ausland) aufgrund der Entführung westlicher Bürger bekannt waren. So
wie die Dinge heute stehen, gibt es die Armut immer noch (wenn auch sehr stark
reduziert), während die Angst glücklicherweise eine Erinnerung an die
Vergangenheit ist. Das Klima ist entspannt, die jungen Mädchen scheinen sich so
zu kleiden wie sie wollen (mit Schleier oder ohne), während die gesamte Zone,
aufgrund der Fußball-Weltmeisterschaft durch die aushängenden italienischen und
(in geringerem Maße) deutschen und brasilianischen Fahnen sehr farbig ist.
Hisbollah und Palästinenser sind, mit ihren, die Fassaden großer und kleiner
Wohnhäuser bedeckenden riesigen <italienischen>
Trikoloren, die sich dank der vom nicht weit entfernten Meer herüberwehenden
Brise langsam bewegen, noch heute (genau wie in jenem weit zurückliegenden Jahr
1982) Fans von Italien. Und sie möchten, dass Italien und Europa wieder ihre
Rechte und ihre Souveränität verteidigen.
„Die unkritische
Unterstützung Israels und seiner Unterdrückungs- und Besatzungspläne oder das
Anfachen des Feuers der ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen zur
Destabilisierung dieses oder jenes Landes,“ – sagt uns Naim Qassem,
der in seiner traditionellen Tunika wie immer elegant gekleidet ist und deren
nüchterne Eleganz durch den Respekt verstärkt wird, der Männern der Religion
üblicherweise entgegengebracht wird – „die Thesen vom Clash
der Kulturen, die Belagerung Syriens und des Irans, der Versuch die
UNO-Resolutionen zu nutzen, um unseren Völkern den Willen der USA aufzuzwingen,
das Gerede von Demokratie, ohne die legitime Hamas-Regierung anzuerkennen, tun
nichts anderes als das Chaos zu fördern und Wasser auf die Mühlen <im Original: die Thesen> von Al Qaida zu leiten.
Europa muss sich darüber klar werden, dass es ohne Gerechtigkeit keinen Frieden
in der Region geben kann und dass die Pläne der USA mit der Gerechtigkeit und
infolgedessen mit dem Frieden unvereinbar sind.“
Wie beurteilen Sie die
Politik der USA im Mittleren Osten?
„Washington hat drei Ziele: das
Erdöl zu kontrollieren; dafür zu sorgen, dass Israel (auf Kosten der
Palästinenser) die einzige von allen akzeptierte und legitimierte Regionalmacht
bleibt und schließlich eine Art Mandat über die Regierungen der Region zu
bekommen. Angefangen bei unserer Regierung. Es genügt sich anzuschauen wie sich
Washington, auch bei den kleinsten Angelegenheiten, in die libanesische
Souveränität einmischt: Der, den von Israel begangenen Verletzungen gegenüber
blinde, Sicherheitsrat hat sich in den letzten Jahren immer häufiger mit uns
beschäftigt – mit insgesamt 9 Resolutionen, um uns zur Entwaffnung des
Islamischen Widerstandes zu zwingen (Resolution 1559) und zu der Art von
Beziehungen, die wir zu unserem syrischen Nachbarn unterhalten sollen
(Resolution 1680). Bush redet von Demokratie, von Wahlen, von Parteien, von
Pressefreiheit und destabilisiert ein Land wie den Libanon, das diese Rechte so
gut es geht seit 1943 genießt und stets in der gesamten arabischen Welt einen
Freiheitsraum bildete.“
Meinen Sie nicht, dass
diese von einigen Teilen der Regierung unterstützte Politik die konfessionellen
Gegensätze in gefährlicher Weise verschärfen kann?
„Daran besteht kein Zweifel
und deshalb hat für uns der Dialog zwischen den Gemeinschaften, den
Glaubensrichtungen und Parteien allergrößte Bedeutung. Im Libanon kann keine
Sekte, keine politische Strömung oder Region daran denken, ohne oder gegen die
anderen zu regieren. Wenn es im Libanon eine gewisse Stabilität gibt, dann
liegt das an dieser Politik des Dialogs, den die Hisbollah mit der
Unterstützung von mindestens zwei Dritteln des Landes fördert. An unserer Seite
steht heute die Bewegung von Michel Aoun, der von 70%
der christlichen Gemeinde unterstützt wird, zahlreiche weitere christliche,
drusische oder laizistische <d.h. weltliche / atheistische> Vertreter und ein Gutteil der sunnitischen Gemeinde. Eine Mehrheit, die
sich jedoch, aufgrund des Wahlgesetzes und der besonderen Umstände, unter denen
die Wahlen stattfanden (die ersten nach dem <durch ein blutiges Attentat am ehemaligen
Ministerpräsidenten und „libanesischen Berlusconi“ verursachten> Tod Hariris; Anm.d.Red) nicht im Parlament und in der Regierung
widerspiegelt. Von daher die gegenwärtige Patt-Situation, zu deren Überwindung
wir statt einer sehr gefährlichen Krise im Dunkeln, eine Erweiterung der
Regierung um die Bewegung von Aoun fordern. Eine
wirkliche nationale Einheit.“
Einer der zentralen
Punkte des Dissenses mit den USA (und nicht nur mit ihnen) ist die Forderung
nach einer Entwaffnung des libanesischen Widerstandes…
„Der Libanon wurde seit 1948
immer wieder von Israel bedroht und angegriffen. Und er wurde von 1978 bis zum
Jahr 2000 besetzt, ohne dass irgendjemand dafür gesorgt hat, dass es die
UNO-Resolution 425 über den israelischen Rückzug respektiert. Wenn Israel den
Großteil unseres Territoriums verlassen hat, so liegt das am Widerstand. Und
wenn der Libanon nicht erneut angegriffen wird, dann liegt das an der
Abschreckung, die es uns gelungen ist, an der Grenze zu errichten. Niemand kann
uns das Recht nehmen, uns zu verteidigen und das noch immer besetzte Gebiet um
die Sheba-Höfe zu befreien. Und niemand will oder
kann uns garantieren, dass uns Israel nicht mehr angreift. Der Widerstand kann
an der Seite der regulären Armee operieren. Aber über Entwaffnung wird im
Moment nicht geredet.“
Vorbemerkung, Übersetzung und
Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG
der Uni Hannover