Antifa-AG
der Uni Hannover:
Unserem Eindruck nach wird die
Diskussion über die Jugendrevolte in den französischen Vorstädten von Ende
Oktober bis Mitte November 2005 in der italienischen Linken intensiver geführt
als in Deutschland. Ein Grund mehr einen Überblick über die Debatte südlich der
Alpen zu geben. Im Folgenden in Form eines Beitrages von Patrizia Turchi (46; von Beruf Psychologin), die in Savona (Ligurien) lebt und zum entschiedensten
Teil des linken Flügels von Rifondazione Comunista (PRC) zählt, der sich um die Zeitschrift „Progetto Comunista“ gruppiert.
Patrizia Turchi ist seit 1994 Stadträtin von Rifondazione Comunista in Savona, was sie nicht daran hindert scharf gegen die von
der PRC-Führung auch in Savona
betriebene Anpassung an die Mitte-Linke Stellung zu nehmen.
Ihren Diskussionsbeitrag entnahmen wir
der umfangreichen Website des linken Rifondazione-Flügels
von Padua + Venetien (www.pane-rose.it),
wo er am 14.11.2005 erschien.
Frankreich: Maschinenstürmerei und casseurs
Meines Erachtens gibt es
zwei Fragen, die die ohnmächtige Wut der Maschinenstürmer des 19.Jahrhunderts
und der casseurs (Randalierer) der
europäischen Banlieues einander annähern: die
Unmöglichkeit, eine würdevolle Zukunft zu sehen und der unkontrollierte und
zersplitternde Gewaltausbruch gegen ein Symbol.
Die englische Arbeiterklasse
war in der Lage einen qualitativen Sprung zu vollziehen: den Übergang vom
Symbol (der für die Arbeitslosigkeit verantwortlichen Maschine) zum Agenten
(dem entstehenden Kapitalismus, der mit Hilfe der Maschinen ausbeutete). Die
ausgebeutete und subalterne Arbeitermasse begann zur sozialen Klasse zu werden.
Es brauchte allerdings mehr als 15 Jahre, während derer die Repression äußerst
hart war. Die Zahl der Angeklagten bei den Prozessen ging in die Hunderte und
es gab Dutzende Todesurteile bevor den Arbeitern einige (wenige) Rechte
zuerkannt wurden.
Heute erleben wir diese
physische Aggression gegen Symbole einer künstlichen Opulenz bzw. gegen
Strukturen, die sie im Namen der Integration in Wahrheit normalisieren und
ausgrenzen und ihnen Rollen und soziale Kasten zuweisen.
Es ist vollkommen
offensichtlich, dass dieses Europa, das mittlerweile seit Jahren an der
Errichtung einer ökonomischen und militärischen Vorherrschaft arbeitet, die
nach dem Wegfall des alten Bipolarismus UdSSR / USA
gefährlich wackelig zurückgeblieben ist, in ihrem Innern ein mittlerweile
veraltetes, aber Ende der 90er Jahre schwer in Mode gewesenes Konzept neu
aufwirft: den Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden der Welt. Und das
Scheitern des Referendums über die Europäische Verfassung kam auch dank der
französischen Banlieues zustande.
Die soziologische
Interpretation der Ausgrenzung der dritten Immigrantengeneration überzeugt mich
nicht, und auch nicht in der Analyse der Migrationsflüsse,
die in den Ländern mit Kolonialtradition sicherlich deutlicher sind. Migrationsflüsse, die einer immer größeren Masse an
Ausgrenzung, prekärer Beschäftigung und Ausbeutung „schlicht“ neue Identitäten
gegeben und Formen von Subproletariat geschaffen haben, denen nichts anderes
einfällt als daraus eine Zuweisung der Nationalität zu machen. Die aber
kontinuierlich eine Situation ganz heftigen Verfalls erleben, der in der
urbanen Strukturierung, eben den Banlieues,
ihre physische und strukturelle Veranschaulichung finden.
Vidal schreibt in „Le Monde Diplomatique“ diesbezüglich: „Die
Vorstädte sind ein aggressiver Cocktail einer Realität, in der sich die
Jugendlichen in zweifacher Hinsicht als Opfer fühlen. Zuallererst aufgrund der desaströsen Situation, in der sie leben müssen. In diesen
Stadtteilen ist die Quote derjenigen, die keinen Schulabschluss erreichen,
zweimal höher als in der übrigen Stadt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50% und
es gibt eine kulturelle Einöde, weshalb sie nicht nur arbeitslos sind, sondern
auch nichts zu tun haben. In den Banlieues
verschwinden auch die Postbüros, die Bankfilialen… Zweitens weil die
Jugendlichen (es sind vor allem 20jährige, die sich in diesen Tagen
Auseinandersetzungen mit der Polizei liefern) das Gefühl haben, auch Opfer
eines Systems rassistischer Diskriminierung zu sein. Was man heute in
Frankreich erlebt, ist eine Form von Apartheid. Keiner politischen, wie es in
Südafrika der Fall war, sondern einer sozialen und urbanen. Die Stadtteile sind
faktisch Ghettos, aus denen sich der Staat zurückzieht.“
Aber ob wir nun Maghrebiner, Pakistani oder Franzosen, Belgier, Rapper, Griechen oder Italiener sind, ändert nichts.
Immer größere Gruppen von
Jugendlichen finden in der destruktiven Aktion eine unangemessene Antwort auf
ihre Bedürfnisse und noch dazu eine, die prima zum repressiven System passt.
Unangemessen deshalb, weil sie einen gefährlichen Bruch mit denen hervorruft,
die sich in ihren Forderungen politisch wieder finden könnten, wenn sie sich
nicht schon aus sozialer Nähe heraus miteinander identifizieren. Einer ganz
dramatischen sozialen Nähe, deren labile Grenze, die das hoffnungslose Elend
von der ausreichenden Armut trennt, von denselben „kontrolliert“ wird, die mit
Schrecken die Gefahr eines Absturzes der eigenen, bereits fragilen
sozioökonomischen Situation sehen. Und die, um sie besser zu kontrollieren, die
Unterdrückungsinstrumente des Staates als sinnvoll und unentbehrlich
betrachten. Wodurch sie immer funktionalere und besser strukturierte Gehege
schaffen.
Hier liegt der Grund dafür,
dass das (ganz und gar unbewusste) geheime Einverständnis es dem System
ermöglicht, alte Repressionsgesetze wieder hervorzuholen und zu aktualisieren,
die in jeder angeblichen Demokratie immer in der Schublade bereitliegen.
Der Übergang vom „Akt“ zur
„Ausarbeitung“, so wie er in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts
stattfand, kann jedoch nicht ohne einen Prozess der Analyse, der
Identifizierung der kapitalistischen Basis / Struktur und den daraus folgenden
politischen und sozialen Vorschlägen vonstatten gehen.
Ich glaube, dass es nicht
angebracht ist, von Integration so wie von Assimilation als Antwort auf die
Aufspaltung und Ausgrenzung zu sprechen. Das sind Begriffe und Konzepte, die
sich auf die Strukturierung des Systems als solchem berufen, dem zufolge nur
ein „drinnen“ existieren kann, dass einem „draußen“ entgegengesetzt wird. Beide
aus Untergliederungen zusammengesetzt und strukturiert, die untereinander für
die wechselseitige Anerkennung und Rolle funktional und integrativ sind.
Wenn die Transformation des
Systems das Ziel ist und zwar in der Überzeugung, eine Antwort auf die
geäußerten Bedürfnisse zu geben, muss man aus dieser Kontraposition
herauskommen und sich pragmatisch das Ziel setzen, diesen Äußerungen den
Klassenstatus zurückzugeben, dabei den Konflikt anzuerkennen und einen
angemessenen politischen und sozialen Ausdruck zu liefern. Weil genau hier die
tragische Herausforderung liegt: Wer wird die Führung dieses Konfliktes
übernehmen? Es geht darum, eine „politische“ Vorstellung von Hegemonie neu zu
lancieren, die imstande ist, die Realität einer neuen Situation der „urbanen“
Ausbeutung zu interpretieren, ihr Orientierung zu geben und Einfluss zu
verschaffen, in der die Entfremdung von der Arbeit und die Entfremdung von der
alltäglichen Lebensqualität sich verknüpfen, um eine andere Grundlage für
soziale Empörung zu bilden, die nicht dem Spontaneismus
des unmittelbaren Ausbruchs überlassen bleiben darf.
Patrizia Turchi
Quelle: patriziaturchi@iol.it
Vorbemerkung und Übersetzung:
Antifa-AG der
Uni Hannover