Antifa-AG der Uni Hannover:
Einige Leser(innen) bei Indymedia
Germany fanden unseren Kommentar vom 17.Oktober 2005 zu den gerade mit einem
überwältigenden Sieg für Ex-EU-Kommissions-Präsident Prodi (3.182.686 Stimmen =
74,1%) über Rifondazione Comunista-Sekretär Bertinotti (631.592 Stimmen =
14,7%) und 5 andere Kandiat(inn)en zu Ende gegangenen Vorwahlen der
italienischen Mitte-Linken zu kritisch und zu „polemisch“. Auch das armselige
Ergebnis des Flügels der ehemaligen Disobbedienti (Ungehorsamen), die von Luca
Casarini angeführt werden und unter der Bezeichnung „Senza Volto“ (Gesichtslose“)
mit 19.752 Stimmen (0,5%) für ihre Kandidatin Panzino auf dem letzten Platz
landeten, fanden sie nicht gebührend gewürdigt. Wir sind aus zeitlichen Gründen
nicht in der Lage alle Kritiken, die auf Indymedia Italien nach Abschluss der
Vorwahlen dazu erschienen sind, zu übersetzen, aber die Einschätzung, dass es
sich um „ein Fiasko“ gehandelt hat, ist dort weit verbreitet. Als ein Beispiel
dafür, dass nicht nur „eine unbekannte Antifa-Gruppe aus Hannover“ der Ansicht
ist, dass dieses Polit-Abenteuer mehr als kontraproduktiv war, im Folgenden die
Übersetzung eines Offenen Briefes von älteren italienischen Autonomen an die
Antiglobalisierung-Bewegung. Erschienen auf Indymedia Italien am Montag,
den 17.10.2005 um 10:57 Uhr.
Der traurige Epos der Senza Volto
Offener Brief an die Bewegung der
Bewegungen
Wir haben bis heute, dem Tag
der Vorwahlen der Mitte-Linken <zur Kür des Spitzenkadidaten für die Parlamentswahlen im April
2006>, vergeblich auf eine Stimme
(auch eine leise und isolierte) gewartet, die im Auftreten der „Senza Volto“
<“Gesichtlosen“> irgendetwas aufzeigt, das uns alle betrifft.
Irgendeiner und irgendetwas
innerhalb der Bewegung, der oder das sich zu einer regenbogenfarbenen
Sturmhaube, die für den Posten des Ministerpräsidenten kandidiert, ein paar
Fragen stellt oder sich dazu äußert.
Wir haben an den Besetzungen
der Universitäten und der centri sociali in den 90er Jahren
teilgenommen. Wir haben geduldig in jenen Vereinigungen gearbeitet, die dazu
beigetragen haben, den kulturellen Humus von Seattle zu schaffen. Wir waren auf
den Straßen von Genua, von Genf, von Prag und in den Versammlungen der sozialen
Bewegungen in Porto Alegre, in Paris und London. Wir haben konkret gegen die
Barbareien der Kriege in Serbien, Afghanistan und im Irak demonstriert und
agiert.
Wir sind kleine Teile jener moltitudine
(Vielzahl), die, indem sie <die Anti-G8-Proteste vom Juli 2001 in> Genua organisiert hat, sehr viel weiter gekommen
ist, nämlich einen neuen politischen und sozialen Akteur in die Szenerie hat
einbrechen lassen, der aus der Konfrontation der Unterschiede eine unerwartete
Stärke bezogen hat. Einer Bewegung, die, im Namen eines gemeinsamen
gesellschaftlichen Transformationsprojektes, in der Lage sein wollte, Aktionen
durchzuführen, sich Modalitäten anzueignen, die sich voneinander unterscheiden,
und sich dazu zu bekennen. Einer auf der kollektiven Verantwortung basierenden Praxis.
Was ist von alledem heute
übrig geblieben ? Vielleicht sind wir es, die wir an einem sonnigen
Herbstmorgen aufgrund des Stimmengewirrs einer „kollektiven demokratischen
Übung“ aus der Lethargie erwacht sind. Vielleicht haben wir es – in einen tiefen
Traum versunken – unterlassen, über den Sinn der Vorwahlen für die Bewegung
nachzudenken. Oder vielleicht hat es das Nachdenken niemals gegeben und vielleicht
benebelt die betäubende Stille angesichts der schizophrenen Beteiligung des
Menschen ohne Gesicht und der freundlichen Dame <Simona Panzino, die „ihm ihren Namen geliehen
hat“> an den Vorwahlen unsere Sinne.
Auch wenn es uns gelingt, den Wunsch zu verdrängen, angesichts einer sich bei
den Auftritten auf der Straße und im Fernsehen mehr schlecht als recht
durchschlagenden Disobbediente ein Loch zu buddeln und uns darin selbst lebendig
zu begraben, bleibt eine objektive Tatsache bestehen: jene Kopfbedeckung, jene
Farben und jene Sprache sind ein kollektives Erbe, sind Teil unserer
gemeinsamen Geschichte und sind Symbole, die uns in gewisser Weise nach außen
hin identifizieren. Die Senza Volto genannte Kandidatur der Panzino ist
daher kein „privates“ Problem einer politischen Komponente, sondern betrifft
uns alle. Und wir alle sollten uns fragen und dazu äußern, inwiefern dieses
burleske Abenteuer der Bewegung helfen kann, neue Energien zu finden und nach
einer neuen Position zu suchen.
Dazu verhelfen drei
mechanisch und endlos wiederholte Tageslosungen sicherlich nicht. Dazu
verhelfen die Strohmänner ebenso wenig wie die Balletteinlagen à la „Machen wir
bei den Vorwahlen mit, aber wir sind nicht bei der <Mitte-Links-> Union dabei. Stellen wir ein System bloß, dass wir
nicht anerkennen und demaskieren wir es! Wählt uns, aber die Parteien sind mit
dem 20.Jahrhundert gestorben!“ Wahrscheinlich ist das, was wir bräuchten, eine
breite und von Vielen geteilte Reflektion, die in der Lage ist, die
Zwiespältigkeiten der Repräsentanz zu überwinden. Will die Bewegung ihren
antagonistischen und (vergebt uns den altertümlichen Begriff!)
außerparlamentarischen Charakter beibehalten? Oder will sie sich eine
Vertretung geben? Und in einem solchen Fall durch das Bündnis mit den Parteien
der radikalen Linken oder mit Hilfe eines neuen politischen Subjektes?
Wenn es uns gelingt, wieder
Räume für den Dialog und die Auseinandersetzung zu eröffnen und einige dieser
Fragen gemeinsam zu beantworten, wenn wieder damit begonnen wird, in
kollektiver und nicht in partikularistischer Weise zu argumentieren, wenn man
lernt, nicht der Faszination des medialen Mainstreams nachzugeben, um dabei
punktuell zerrieben zu werden, wird es uns vielleicht gelingen, das Erbe an
Erfahrungen, Werten und Experimenten, die wir bis heute geschaffen haben, nicht
zu vergeuden und neue Wege zu finden, die wir einschlagen können.
Teile der moltitudine
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover