Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Im
Dezember 2003 und Januar 2004 sorgten die wilden Streiks der italienischen
Tram-, U-Bahn- und Busfahrer für internationales Aufsehen, weil sie eine fast
vollständige Beteiligung aufwiesen und angesichts eines seit zwei Jahren
abgelaufenen Tarifvertrages sowie 12 erfolgloser, weil regelgerecht
durchgeführter, landesweiter Streiks die rigiden Streikgesetze und
Dienstverpflichtungen erstmals kollektiv ignorierten. Dank der
sozialpartnerschaftlichen Intervention der Chefs der drei großen
Gewerkschaftszentralen CGIL, CISL und UIL blieb ihnen der materielle Erfolg
versagt. Diese fielen den selbstständig kämpfenden Beschäftigten klassisch in
den Rücken, indem sie über ihre und die Köpfe der Führungen der
Branchengewerkschaften hinweg eilig ein Dumpinglohnabkommen unterschrieben. Ergebnis:
81 Euro Lohnerhöhung, was mit Abstand die niedrigste Summe in allen
italienischen Tarifrunden bedeutete und um 25 Euro unter der
Gewerkschaftsforderung lag, die ohnehin nur aus einem reinen
Inflationsausgleich – also einer Nullrunde – bestand. Obendrein vereinbarten
Epifani (CGIL), Pezzotta (CISL) und Angeletti (UIL) mit den Unternehmen, das
nur 970 statt der fälligen 2.900 Euro Lohnnachzahlung gezahlt wurden. In
einigen Großstädten gelang es den Beschäftigten durch weitere lokale Streiks im
Januar einen Aufschlag von eben jenen 25 Euro zu erzwingen.
Die
enorm wichtige „wilde“ Streikerfahrung bleibt jedoch (und strahlte u.a. auf den
ebenfalls „wilden“ Streik bei FIAT in Melfi im April/Mai 2004 aus) und ebenso
die überaus prekäre Lage im Transportsektor, der weitere harte
Auseinandersetzungen unumgänglich macht. Den Auftakt dazu bildet die neue
Tarifrunde im Nahverkehr, die Anfang Juli 2004 zu einem neuen landesweiten
Streik der Straßenbahn- und Busfahrer führte, über den die unabhängige linke
Tageszeitung „il manifesto“ in den folgenden beiden Artikeln berichtet.
Der erste datiert vom 6.7.2004.
Streik der Transportarbeiter.
Vorläufig kein wilder.
Heute legen die Straßenbahn- und
Busfahrer für die Erneuerung des Tarifvertrages die Arbeit nieder. Die
Unternehmen: „Es ist kein Geld da.“
Manuela Cartosio
Heute streiken die
Straßenbahn- und Busfahrer für die Erneuerung des Tarifvertrages, der seit
sechs Monaten abgelaufen ist, seit zwischen wilden Streiks und <zwangsweisen> Dienstverpflichtungen durch einen Schlichterspruch
zwischen den Gewerkschaftsbünden <CGIL-CISL-UIL>
und der Regierung die zweijährige Verspätung des vorangegangenen Tarifvertrages
auf negative Weise zu den Akten gelegt wurde. Wird es so ausgehen wie beim
letzten Mal ? Diese Frage ist Pflicht,
weil die Situation des öffentlichen Nahverkehrssektors unverändert geblieben
ist. Sie hat sich sogar noch ein bisschen verschlechtert. Die Regierung hat
nichts getan, um das Chaos einer auf halbem Wege abgebrochenen Reform zu ordnen
und <stattdessen> alles getan, damit die Unternehmen nicht über die
Mittel verfügen, um die Kosten des Tarifvertrages zu decken. Die im Dezember
gefundene Lösung (die Steuererhöhung auf Benzin) ist nicht wiederholbar. Jenes
Geld ist u.a. bei den Unternehmen noch immer nicht angekommen. Da sie die im
Dezember vereinbarten Lohnerhöhungen für die 120.000 Beschäftigten aus eigener
Tasche „vorgeschossen“ haben, verfügen sie über ein Argument mehr, um zu
behaupten, dass sie die finanziellen Mittel nicht besitzen, und gegen den neuen
Tarifvertrag Front zu machen. In den heutigen Protest fließen die beiden, von
verschiedenen Organisationen und auf der Grundlage unterschiedlicher
Forderungskataloge proklamierten, Streiks zusammen. Jener von FILT, FIT und
UILT <den
Branchengewerkschaften der großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL>, die eine Lohnerhöhung von 131 Euro fordern, dauert
24 Stunden, wobei die geschützten Zeiträume ausgenommen sind (in Mailand werden
die Verkehrsmittel vom Fahrplanbeginn bis um 8.45 Uhr und von 15 bis 18 Uhr
verkehren; in Rom bis um 8.30 Uhr und von 17 bis 20 Uhr). Der Streik der
Basisgewerkschaften, die 225 Euro fordern, dauert 8 Stunden. Die
Branchengewerkschaften der Gewerkschaftsbünde beginnen ab sofort mit 24
Stunden, weil sie wollen, dass die ASSTRA (der Arbeitgeberverband) vor den
Ferien die Verhandlungen zumindest beginnt. Offiziell verurteilen die
Unternehmen die Forcierung seitens der Gewerkschaft (der erste Streik sollte
eigentlich vier Stunden dauern). Insgeheim kommt es aber auch ihnen entgegen,
dass Druck auf die Regierung ausgeübt wird. Heute wird es keine „wilden“
Überraschungen geben. Die Gewerkschaft gibt jedoch zu verstehen, dass im
September andere Seiten aufgezogen werden. „Wenn sie uns zwingen einen zweiten
und dann einen dritten Streik durchzuführen“, sagt der nationale Sekretär der <christdemokratischen> FIT-CISL, Claudio Claudiani, „wissen wir nicht, wie
die Beschäftigten reagieren werden“.
Wegen der „außerhalb der
Regeln“ geführten Kämpfe des vergangenen Winters schwebt eine Lawine
administrativer und Disziplinarmaßnahmen über den Straßenbahn- und Busfahrern.
Laut den Berechnungen von Giampietro Antonini von der <linken Basisgewerkschaft> CUB trasporti, sind es auf nationaler Ebene 25.000.
„Die Leute haben aber nicht die Absicht abzuschwören“, sagt er. „Wenn es
notwendig ist, werden wir den Käfig der geschützten Zeiträume erneut sprengen
und der Dienstverpflichtung keine Folge leisten:“ Die Erneuerung des
Tarifvertrages, behauptet der Sprecher des Kampfkomitees, das die
Basisgewerkschaften zusammenfasst, stellt erneut die immer gleiche Frage: Will
dieses Land einen öffentlichen Nahverkehr oder nicht ? Wenn ja, muss das Geld gefunden werden, damit
er funktionieren kann. Zumindest müssen die Überweisungen vom Staat an die
Regionen und die Lokalbehörden angeglichen werden. Der Verkehrfond verharrt
seit 1997 bei 5 Billionen alter Lire <= 5 Mrd. DM bzw. gut 2,5 Mrd. Euro>.
Was den Tarifvertrag des öffentlichen
Dienstes anbelangt, hat die Regierung bereits erklärt, dass das Geld nicht
vorhanden sei. Sie wird beim Tarifvertrag der im Nahverkehr Beschäftigten
dasselbe sagen. Da hat Fabrizio Solari (Generalsekretär der FILT-CGIL) keine
Zweifel: „Wir werden die übliche Litanei erleben. Wenn die Mittel aber knapp
sind, ist das Erste, was zu tun ist, nicht die Steuern der Reichen zu kürzen.
Das Zweite ist, darüber nachzudenken, wie sie verteilt werden sollten.“
Andernfalls, stimmt Franco Nasso vom FILT-Sekretariat ein, „implodiert das
Nahverkehrsystem“. Im Dezember hatte die Regierung sowohl im normativen wie im
finanziellen Bereich Verpflichtungen übernommen. „Nach sechs Monaten hat sie
weder die einen noch die anderen eingehalten.“ An dem heutigen Streik beteiligt
sich auch die FAISA-CISAL <eigentlich eine rechtschristdemokratische Gewerkschaft, die – eine
typisch italienische Besonderheit – lokal allerdings oftmals sehr
unterschiedlich agiert. In Genua z.B. ist sie sehr stark und verfolgt
branchenbezogen einen ziemlich kämpferischen Kurs>. „Regierung und Regionen müssen wissen, dass die –
in diesem Kampf vereinte – Gewerkschaft mit den Protesten solange nicht
aufhören wird, bis die gerechtfertigten Erwartungen der Beschäftigten erfüllt
werden“, sagt ihr nationaler Sekretär Andrea Gatto.
„Nie wieder einen
Tarifvertrag wie diesen“, sagte <CGIL-Generalsekretär> Epifani nachdem er im Dezember <2003> ein
Abkommen unterzeichnet hatte, das 81 Euro Lohnerhöhung „gewährte“ – 25 weniger
als die Inflation. Diese fehlenden 25 Euro, die von den reichsten Betrieben als
Produktionsprämie gezahlt wurde, müssen nun für alle zurückerobert werden.
Der
zweite Artikel zum Thema erschien in „il manifesto“ vom 7.7.2004:
Die Straßenbahn- und Busfahrer
reservieren für September
Sehr hohe Beteiligung am Streik der
Straßenbahn- und Busfahrer für den Tarifvertrag. „Wir haben kein Geld“, sagen
die Unternehmen. „Das muss uns die Regierung geben.“ <Der Staatssekretär im Arbeitsministerium> Sacconi hat eine Lösung: den
nationalen Tarifvertrag light.
Manuela Cartosio
Beim gestrigen Streik der
Straßenbahn- und Busfahrer gab es nicht den üblichen Krieg der Zahlen. Weil er
im Großen und Ganzen gelungen ist und weil die Gegenseite (die ASSTRA, die
Vereinigung der Betriebe des öffentlichen Nahverkehrs) sehr daran interessiert
war, dass er gelang. Um von der Regierung das notwendige Geld zu bekommen, um
den im Januar (als die Unterschrift unter das Abkommen, das den vorangegangenen
zu den Akten legte, noch nicht trocken war) abgelaufenen Tarifvertrag zu
erneuern. Die ASSTRA behauptet, dass sie das Geld nicht hat und während der
Streik noch lief, ging ihr Präsident Enrico Mingardi sofort zur Sache – so als
ob er ihn proklamiert hätte: „Man riskiert einen heißen Herbst. Die Städte
könnten so in die Knie gezwungen werden wie vergangene Weihnachten.“ Die
Regierung müsse ihre Verpflichtungen einhalten, das Staatssäckel öffnen und die
Gefahr sei gebannt. Auch wenn sich das nur Wenige klar machten, es gab gestern
zwei Streiks. Die von den Basisgewerkschaften proklamierten 8 Stunden
überlappten sich mit den von den Branchengewerkschaften der CGIL-CISL-UIL
ausgerufenen 24 Stunden. Die beiden zu respektierenden Zeiträume <d.h. die Rushhours> wurden überall beachtet. Die einzige Stadt, in der
die Dienstverpflichtung in den Abendstunden notwendig war, war Florenz. Schuld
daran war das Blasco-Konzert. Alle U-Bahnen waren geschlossen, die an der
Oberfläche verkehrenden Verkehrsmittel so rar wie weiße Fliegen. Die Motorboote
in Venedig standen still und die Nahverkehrzüge waren lahm gelegt. Die höchsten
Beteiligungen (über 95%) gab es im Veneto und in der Emilia Romagna. Nah an der
90%-Marke lag die Beteiligung in Mailand und in Rom. Kurz, wenn man den
Durchschnitt ermittelt, bewegte sich der Streik zwischen 70 und 80% <Beteiligung>. Mit den geschlossenen Schulen und der umfangreichen
Vorankündigung waren die hupenden Autoschlangen in den mittleren und
Großstädten die einzigen Unannehmlichkeiten. Unannehmlichkeiten, die sich alles
in allem im Rahmen hielten. Eine Sache ist jedoch sicher. Die 120.000 im
Nahverkehr Beschäftigten haben nicht die Absicht ein Dutzend „nutzloser“
Streiks durchzuführen, die den Selbstreglementierungskodex respektieren. Die
Lektion vom Dezember lautet, dass die Kämpfe wehtun müssen (zumindest ein
bisschen). Der Tarifvertrag ist seit 6 Monaten abgelaufen und wenn er im
September nicht unterzeichnet wird, werden die „Blaujacken“ die Wildheit
wiederentdecken. Die Gewerkschaften geben das gedämpft zu verstehen. Der
Präsident der ASSTRA hält es für sicher.
Mingardi schlägt das
Beschwerdeheft auf und erinnert daran, dass die Betriebe sich bei den Banken
verschulden mussten, um die mit dem Abkommen vom 20.Dezember <2003> vereinbarten Lohnerhöhungen bezahlen zu können. Die
337 Millionen Euro, die aus der Steuererhöhung auf Benzin stammen (1,68 Cent
pro Liter), wurden bereits erhoben, sind allerdings aufgrund einer technischen
Kontroverse nicht bei den Betrieben angekommen. Um den neuen Tarifvertrag mit
4jähriger Laufzeit in Angriff zu nehmen, sind 500 Millionen Euro notwendig und
ebensoviel müsste im Laufe der nächsten 10 Jahre investiert werden, um den
Nahverkehr neu zu beleben. Die Betriebe behaupten, dass sie blank sind. Ergo
muss die Regierung ihnen das Geld besorgen, angefangen beim nächsten DPEF <dem staatlichen
Jahreswirtschaftsplan>. Andernfalls,
behauptet der ASSTRA-Präsident, wird Italien zu einem Land Lateinamerikas, wo
„die individuelle und umweltschädliche Mobilität vorherrscht“. Die Situation
des Nahverkehrs, fügt Mingardi hinzu, ist schlechter als die von Alitalia.
„Wenn die Flagggesellschaft untergeht, wird es einen anderen <Banner->Träger geben, der sie ersetzt. Wenn die <Mailänder
Verkehrgesellschaft> ATM oder Trambus
verschwinden, wird kein Betrieb in der Lage sein, sie zu ersetzen.“ In einem
Anflug von Aufrichtigkeit räumt der ASSTRA-Präsident ein, dass unser
öffentlicher Nahverkehr „auf internationaler Ebene einer der weniger
effizienten“ ist. Er schreibt die schlechte Leistung jedoch den Tarifen zu.
„Unsere sind die niedrigsten Europas. Mingardi kündigt an, die Gewerkschaften
für kommende Woche einzuladen und erklärt seine Bereitschaft, über eine
Lohnerhöhung zwischen 80 und 100 Euro zu verhandeln. (FILT, FIT und UILT fordern
131 Euro, die Basisgewerkschaften noch 100 Euro mehr.)
Die „massenhafte“ und
„geschlossene“ Beteiligung der Beschäftigten am Streik, kommentiert der
nationale Sekretär der FIT-CISL, Claudio Claudiani, sei „eine erste Mahnung“
für die Regierung, die Regionen und Betriebe. Das fehlende Engagement der
Regierung in Sachen Regeln und Ressourcen sei offensichtlich und die
staatlichen Beiträge verharrten auf dem Niveau von 1997. Was die
Unternehmerseite anbelange, so verstände die sich nur darauf „taktische Alchimie“
zu betreiben und die gerechtfertigten Proteste der Beschäftigten dazu zu
benutzen, um das Fehlen industrieller Strategien und die Nichtübernahme von
Verantwortung zu verbergen. Ähnlich sieht das Urteil der FILT-CGIL aus (siehe
das Interview mit Franco Nasso auf dieser Seite <Übersetzung nebenstehend!>). Die Basisgewerkschaften sprechen von einem
„verspäteten Aufwachen“ der Gewerkschaftsbünde. „Heute kommt die reale
Haltlosigkeit des Abkommens vom 20.Dezember ans Licht“, sagt Pierpaolo Leonardi
von den RdB-CUB. Die Regierung habe die Verpflichtungen nicht eingehalten und
die Betriebe „schließen sich dem an“. Die Beschäftigten werden sich dem nicht
anschließen. Sie wollten nicht wieder denselben Film sehen und seien „zur
Mobilisierung bereit“.
Der Staatssekretär im
Arbeitsministerium, Maurizio Sacconi, hatte den Schlichterspruch vom
20.Dezember von rechts kritisiert. Nun wertet er ihn – ohne ihn zu erwähnen –
auf, indem er erneut „einen nationalen Tarifvertrag light“ vorschlägt,
„der der betrieblichen Dimension Spielraum gibt“. Da die Unternehmen nicht alle
gleich seien, „müssen die Lohn- und Gehaltserhöhungen ihre unterschiedlichen
finanziellen Kapazitäten widerspiegeln“. Und in jedem Fall liege die
Verantwortung für den Nahverkehr bei den Unternehmen, den Regionen und den
lokalen Behörden. Die Last des Tarifvertrages könne nicht „auf den Hanswurst“,
d.h. auf den Staatshaushalt abgewälzt werden.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover