Gewerkschaftsforum
Hannover
November
2005: Brennende Autos in den französischen Vorstädten.
Februar
bis April 2006: Streiks und Massendemonstrationen gegen den CPE.
Steht Frankreich am Beginn einer
neuen linken Bewegung oder kämpft jeder für sich allein?
Ein Interview des
Gewerkschaftsforums Hannover mit Marcel, einem Gewerkschaftsaktivisten aus
Paris, der seit 30 Jahren aktiv ist und als radikaler Linker an allen wichtigen
Bewegungen teilgenommen hat.
Was ist los in
Frankreich? Wie kommt es zu diesen für uns so überraschenden Entwicklungen?
„Da muss man unterscheiden.
Beides, die Riots – ich nenne das mal so, da
mir kein besserer Ausdruck einfällt – im November und auch die
Massendemonstrationen im Frühjahr haben gemeinsam, dass sie für alle, auch für
uns und ganz sicher für die französische Elite, sehr überraschend kamen. Auch
die Parteien und die Gewerkschaften waren von der Heftigkeit und dem Umfang der
Bewegung im Frühjahr völlig überrascht. Das im November hat die ja nicht weiter
interessiert. Meines Erachtens enden da, bei diesem Überraschungsmoment, aber
auch schon die Gemeinsamkeiten. Auch wenn sicher gesagt werden kann, dass beide
Ausdruck ein und derselben Stimmung allgemeiner sozialer Ungerechtigkeit sind.“
Erst einmal zum Frühjahr
2006, zu den Protesten gegen den Erstanstellungsvertrag „CPE“ (d.h. die
geplante Abschaffung des Kündigungsschutzes für unter 26jährige). Gab es da
vorher keinerlei Anzeichen, dass das so nicht hingenommen werden würde?
„Nein, dafür gab es keine
Anzeichen. Eher im Gegenteil, sofern wir nicht die Ablehnung der EU-Verfassung
beim Referendum im Mai 2005 schon als Anzeichen nehmen wollen. Aber damals fand
ja darüber hinaus erstmal nichts weiter statt.“
Was meinst du mit im
Gegenteil?
„Nun, die
Gewerkschaftsbewegung (und das trifft auf alle Gewerkschaftsverbände zu) hat
seit langem ein Problem mit ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Eigentlich haben die
Gewerkschaften keine große Basis mehr in den Betrieben, was sich bei
Streikaktionen bitter bemerkbar macht. Vor allem unter den Jugendlichen, also
denjenigen, die die Proteste angestoßen, maßgeblich organisiert und getragen
haben, haben die Gewerkschaften kaum einen Einfluss. Ein Beispiel, da ich da
gerade die Zahlen dazu gelesen habe: In der Force Ouvriere,
einem kleineren Gewerkschaftsbund mit ca. 350.000 Mitgliedern (gegenüber den je
600.000 – 650.000 von CGT und CFDT), ist das Durchschnittsalter auf über 50
Jahre gestiegen.“
Aber die Gewerkschaften
haben sich doch an den Demonstrationen beteiligt und dann auch die
Verhandlungen geführt.
„Ja, sie haben mit der
Regierung verhandelt. Aber sie waren dazu auf den Druck der Demonstrationen
angewiesen. Sie haben sozusagen die Massen auf den Demonstrationen als
Verhandlungsbasis genommen und nicht wie üblich, ihre Basis in den Betrieben. Wenn
die Anti-CPE-Demonstranten gesagt haben: ‚Nein, so
nicht! Nächste Woche gehen wir wieder auf die Straße’, dann sind sie dem
gefolgt. Sie haben sich auch an den Demonstrationen beteiligt, das stimmt. Aber
eben beteiligt. Vorangetrieben wurde die Entwicklung von den Schüler-
und Studentenorganisationen.“
Noch einmal zu dem
Überraschungseffekt. Was waren die Auslöser für die Demonstrationen?
„Ich denke, die Jugendlichen
hatten einfach die Schnauze voll. Das zum einen. Dann hat die Regierung sich
einfach, ich sag mal, dumm angestellt. Es gibt ja auch bei uns schon eine Reihe
von ‚Reformen’, wie das heutzutage so unsinnig heißt. Zum Beispiel ‚Rentenreformen’
und ‚Reformen’ im Gesundheitswesen. Dafür wurde allerdings im Vorfeld
lange und intensiv die Werbetrommel gerührt und der Boden bereitet, also in den
Medien alles lang und breit ‚erklärt’. Nun dachte die Regierung wohl: ‚Die
Leute sind schon so verblödet vom Fernsehgucken, da können wir machen, was wir
wollen.’ Genau so war ja auch schon das Verfahren beim EU-Referendum.
Danach sind sie einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen. Sie haben sich offenkundig
sehr sicher gefühlt. Die Arroganz der Macht halt! Chirac wurde bei den
Präsidentschaftswahlen 2002 ja im 2.Wahlgang mit 80% der Stimmen gewählt und
meinte nun freie Hand zu haben. Dabei hat er vielleicht vergessen, dass er
diese Stimmen bekommen hat, weil damals Le Pen sein Gegenkandidat war. Weniger
weil die Leute ihn wollten also, sondern weil sie Le Pen nicht wollten.
Dieses Mal hat es Chiracs
Regierung, mit De Villepin an der Spitze, ja nicht
einmal für nötig gehalten, mit den Gewerkschaften auch nur zu reden –
geschweige denn mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Die Leute fühlten sich
brüskiert, schlichtweg übergangen. Sie wurden vor vollendete Tatsachen gestellt
und das gefällt in Frankreich niemandem. So kam es schnell zu einer Ausweitung
der Proteste quer durch das ganze Land. Was da los war, wisst ihr ja durch die
Presse, das brauche ich nicht nochmal zu erzählen.
Beeindruckend war aber die Einigkeit unter den
Demonstranten, der gelassene Umgang mit der Staatsmacht und die Masse an Leuten,
die auf den Straßen waren. Dann stellt sich Chirac hin, und hält eine Rede, in
der er so etwas sagt wie: ‚Ihr seid keine Demokraten, Ihr gehört nicht dazu,
Ihr wollt alles verändern, Ihr zerstört die Gesellschaft…’ usw. Also eine
ganze Generation, die ausgeschlossen wird aus der Gesellschaft durch diese
Rede. Das hat sich diese Generation sich nicht gefallen lassen.
Die Demonstrationen ließen
nicht nach, immer mehr Leute (auch aus anderen Organisationen) beteiligten sich
daran. Zum Beispiel die ‚Sans Papiers’, die Migranten ohne gültige Aufenthaltserlaubnis (also ‚die
Illegalen’, wie man in Deutschland sagt). Die Studenten sind in die
Vollversammlungen der Arbeiter gegangen, z.B. der Metroarbeiter etc. Es gab
eine große Solidarität. Ein Ausdruck dessen ist, dass diesmal alle
Gewerkschaften mitgezogen haben, auch die ‚moderateren’ (wie die CFDT).
Alle waren auf einer Linie. Das ist etwas, was es seit 1945 noch nie gegeben
hat. Dazu muss allerdings man auch sagen, dass die Gewerkschaften hier ihre
zukünftige Klientel gesehen haben, also eine ganz andere soziale Gruppe als bei
den Riots im November 2005. Der Anti-CPE-Protest musste sie einfach interessieren.
Kurz gesagt: Die Bewegung
ist sehr pragmatisch vorgegangen und hat sich nicht spalten lassen.“
Es gab also Ansätze zur
Spaltung? Du hast auch etwas gesagt von einem gelassenen Umgang mit der Staatsmacht…Und
was meinst du mit pragmatisch in diesem Fall?
„Ich denke, am Anfang
lautete Chiracs und vor allem Sarkozys Kalkül: ‚Lassen
wir die Sache mal laufen. Lass’ das mal zwei Wochen dauern, dann gibt’s Chaos
auf den Strassen und dann komme ich – Sarkozy – als
starker Mann und Wahrer der Ordnung und
bringe alles wieder unter
Kontrolle.’ Für eine solche
Entwicklung haben die dann ja auch Einiges getan. Es gab immer wieder mal Auseinandersetzungen
mit der Polizei oder auch Plünderungen. Wobei sich hinterher herausstellte,
dass daran immer wieder Polizeibeamte beteiligt waren. Auch ganz am Anfang war
die Polizei präsent und zwar ausgestattet mit aller ihrer Macht und
Herrlichkeit. Bei den Plünderungen u.ä., die direkt
vor ihren Augen stattfanden, haben sie allerdings nur zugesehen. Es wäre kein
Problem gewesen, da einzuschreiten. Einige Leute aus unserer Gruppe sind in
einen dieser Vorfälle hineingeraten und wurden dann mit anderen zusammen
eingekesselt. Wie sie da stehen, sehen sie plötzlich, wie diejenigen, die das
Ganze angefangen haben, auf einmal ihre Ausweise zücken und aus dem Kessel
hinausgeleitet werden…
Oder ein anderes Beispiel: Da
kommen wir auch wieder zu den Riots vom
November bzw. den Jugendlichen aus den Vorstädten. Manche von denen sind als
Gruppe zu den Demonstrationen gegangen, aber nicht um zu demonstrieren. Sie
kamen eher, um zu sehen, was abgeht oder was für sie drin ist. Das heißt, sie
standen an den Metroeingängen und versuchten, Leute abzuziehen, sich zu
mehreren auf einen Vorbeikommenden zu stürzen, ihn verprügeln und
Mobiltelefone, Geld oder Klamotten zu klauen. Eine dieser Gruppen wurde von der
Polizei gejagt, direkt auf eine an der Spitze der Demonstration gehende
Ordnerkette zu. Sie wollten mitten durch die Demo durch. Das haben die Ordner
nicht zugelassen, haben sich einen von den Jungs geschnappt und auf einmal
zieht der seine Polizeikennmarke. Diese Gruppen sind also häufig infiltriert
von der Polizei und werden benutzt, um Krawalle zu inszenieren. Auch ganze
Zivilpolizeigruppen sind auf den Demonstrationen als Agent provocateurs
herumgelaufen und haben versucht, Leute aus der Demo oder aber ihre eigenen Polizeikollegen
zu provozieren.
Die Demonstranten haben sich
im Allgemeinen davon allerdings nicht beeindrucken lassen. ‚Gewalt gibt es
eben, damit muss man leben!’ So oder so ähnlich waren die Statements dazu.
Sie haben sich also weder groß davon distanziert, noch haben sie sich von ihren
eigenen Protestformen ablenken lassen. Die Manipulationsversuche der
Staatsmacht, um an der Gewaltfrage die Bewegung zu spalten, sind ins Leere
gelaufen.“
Was meinst Du, wenn du
die Bewegung „pragmatisch“ nennst?
„Mit pragmatisch
meine ich, dass es keine ideologischen Auseinandersetzungen gibt. Also über
Weltanschauungsfragen, wie wir sie von früheren Bewegungen kennen. Es gab keine
Ansätze zu Spaltungen an der Frage ‚Ist der oder die trotzkistisch oder
anarchistisch oder kommunistisch oder sozialdemokratisch oder …?’. Das kann
eine Schwäche sein. In diesem konkreten Moment hat es jedoch zur Stärke der
Bewegung beigetragen. Schwierig wird es, wenn wir uns die Perspektive
anschauen. Gibt es dann überhaupt eine Entwicklung von Perspektiven, zur
Veränderung der Gesellschaft? Oder bleibt das Ganze bei diesen Abwehrkämpfen
stehen. Man könnte sagen (und bürgerliche Kreise tun das auch!), dass es sich
eigentlich eine konservative Bewegung handelt. Sie will das Bestehende
retten. Die einzelnen Leute, die Jugendlichen, wollen eine Möglichkeit haben,
sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie wollen etwas leisten und etwas
dafür
bekommen. Das ist auch ein
Ursprung ihrer Wut. Jahrelang hat man ihnen erzählt, sie sollen zur Schule
gehen, Abitur machen, studieren. Und nun wird ihnen erzählt: ‚Ganz egal, was
ihr für eine Bildung habt, eine Arbeit gibt es trotzdem nicht.’ Da trifft sich (und trifft sich wiederum auch nicht),
die Anti-CPE-Bewegung mit der Situation der
Jugendlichen in den Banlieues, in den
Vorstädten. Sie überschneiden sich, weil es Arbeit für beide Gruppen nicht
gibt. Gleichzeitig klaffen sie aber auseinander, weil sich die Jugendlichen der
Vorstädte – meiner Meinung nach – schon so weit von der Gesellschaft entfernt
haben, dass sie sich gar nicht mehr integrieren wollen. Sie haben viel weniger
Möglichkeiten zur Integration, und sie sehen viel weniger Möglichkeiten der
Integration. Sie sind einfach abgehängt von der Entwicklung der Gesellschaft.
Damit aber auch von den Möglichkeiten der Entwicklung von Widerstand. Während
bei den Beteiligten der Anti-Prekaritäts-Proteste vom
Februar, März und Anfang April noch alles offen ist. Die haben gelernt,
dass sie etwas bewegen können. Ich bin sicher, mit denen wird man auch in
Zukunft rechnen können.“
Gab es denn eine Beteiligung
aus den Vorstädten oder irgendwelche Verbindungen?
„Sicherlich gibt es einzelne
politisierte Leute auch in den Vorstädten. Ich selbst wohne in der Banlieue – genau wie viele Arbeiterfamilien, deren
Kinder (aber z.T. auch die Eltern) selbst auf den
Demonstrationen waren. Die Gruppe der Benachteiligten, die die Riots im November angefangen haben, hat sich allerdings
(mit Ausnahmen) nicht an den Demonstrationen beteiligt.“
Wer hat denn „revoltiert“
bei der „Banlieue-Revolte“ im November? Du
sagst „die Benachteiligten“…
„Ich wohne selbst in einer Cité (Siedlung) und habe die Ereignisse miterlebt,
habe auf der Polizeiwache die Kids gesehen, die in unserem Bezirk festgenommen
wurden und auch mit einigen Anwälten geredet. Es sind sich alle einig, dass
überwiegend Minderjährige (sehr viele sehr Junge!) die Akteure waren. Die
Akteure in meinem Umfeld waren 12, 13 und 14 Jahre alt. Ich habe aber auch mit
Volljährigen gesprochen, die sich mit ihren Aktionen gebrüstet haben. Von den
hier Festgenommenen waren alle Franzosen und zwar – was
interessant ist – ‚Stamm-Franzosen’ (d.h. Weiße). Bezüglich der Herkunft
und des Alters und überhaupt der gesamten Analyse ist der französische
Verfassungsschutzbericht, der nach den Ereignissen auch in der Presse (in der
Tageszeitung „Le Parisien“) publiziert wurde,
nach meinem Dafürhalten sehr wirklichkeitsnah und korrekt. Er widersprach
übrigens völlig den Thesen des Innenministers Nicolas Sarkozy,
also dem eigenen ‚Chef’.
Zitat aus diesem Bericht:
Von rund 1.000 Festgenommenen waren unter 100 Ausländer... (bedenkt man die
Zusammensetzung der Arbeitervorstädte, ist der Ausländeranteil also völlig unterrepräsentiert).
Gegen 7 Volljährige und ausländische Personen hatte die Polizei konkret etwas
in der Hand: 4 davon sind tatsächlich ausgewiesen worden. Wenn also Sarkozy tönte, er werde ‚alle kriminellen Ausländer
rausschmeißen’ dann war das Wahlkampf und typisches, hohles Polit-Gelalle ohne Folgen.“
Worum ging es bei den Riots, wie fing das Ganze an? Gab es
Unterschiede zu den
vorangegangenen Riots von vor ein paar Jahren?
„Eine Gruppe von
Jugendlichen, überwiegend Muslime, ist nach einem Fußballspiel abends in eine
Ausweiskontrolle von einer Einsatzgruppe der Polizei geraten. Die meisten
dieser Jugendlichen haben nie ihre Ausweise dabei. Zum Teil sind sie die
einzigen der Familie, die den französischen Pass besitzen, der manchmal der
einzige ‚Schutz’ vor der
Ausweisung / der ‚Rückführung’
der Familie ist. Dieses Dokument ist unter diesen ausländischen Familien, deren
Kinder in Frankreich geboren sind, so kostbar, dass es zu Hause in der
Schublade bleibt und von den Eltern nicht
14- oder 15- jährigen Jungs
mitgegeben wird, die zum
Fußballspielen auf den Rasen hinter der Siedlung rennen und dabei riskieren das
Dokument zu verlieren. (Die Komplikationen bei der Neuausstellung der
französischen Ausweispapiere lassen sich leicht vorstellen.) Die betreffende
Gruppe von Jugendlichen hätte sich kontrollieren lassen können, wäre mit auf
die Wache genommen worden und ihre Eltern hätten sie nachts abholen müssen, verbunden
mit einer Bußgeldzahlung von 80 Euro für die Nichtmitführens von Ausweispapieren.
Es war Ramadan. Die Familienväter sind in dieser Periode, was das Nach-Hause-Kommen zum gemeinsamen Fastenbrechen
(Essen und Trinken nach Einbruch der Dunkelheit) mit der ganzen Familie
anbelangt, besonders streng, wenn die Kinder nicht rechtzeitig am Tisch und im
Kreise ihrer Familie sind. Und sie sind nicht sonderlich begeistert, wenn ‚der
Bengel’ auch noch Schwierigkeiten mit der Polizei hat...
Die Jugendlichen haben sich also
der Polizeikontrolle entzogen, was eine recht groß angelegte Verfolgungsjagd
nach sich zog. Einige haben sich in ein gefährliches Gelände des
Stromversorgungsunternehmens EDF begeben, wo sie dann in einem Stromhäuschen
durch Starkstromschläge schwer verletzt wurden. Zwei sind starben, einer kam
durch. Gegen die Polizei läuft gegenwärtig ein Verfahren wegen unterlassener
Hilfeleistung. Laut Untersuchung hat im Polizeifunk ein Beamter gesagt: ‚Wenn
sie da rein gelaufen sind (ins abgesperrte Umspannwerk), dann gebe ich nicht
viel um ihr Leben...’ Die Elektrizitätswerke wurden nicht von der
Polizei benachrichtigt worden, um etwa den Strom abzustellen und die
Lebensgefahr zu bannen.
Der Versuch der Polizei und
der Regierung, den Fall zunächst zu vertuschen oder in den ersten Tagen
herunter zu spielen, hat die Jugendlichen und die Leute aus dem Viertel noch
wütender gemacht. Zusätzlich und parallel dazu lief die gesamte Affäre vor dem
Hintergrund der markigen Sprüche des Innenministers Sarkozy,
er werde die heißen Viertel ‚säubern’ und mit dem ‚Pack’ fertig
werden. Er hat aus politischem Kalkül eine Eskalationspolitik betrieben (und
betreibt sie weiter!), weil er oder seine Berater damit rechnen, dass die
gegenwärtige Regierung (aber auch er selbst als potentieller
Präsidentschaftskandidat) damit massiv Stimmen vom rechten Wählerrand einfangen
kann.
Danach gab es – über mehrere
Tage hinweg – Unruhen (sog. ‚Scharmützel’) und später Demonstrationen im
Département 91. Die Medien (Presse, Fernsehen und
Radio) haben die Sache von Anfang an sehr ausführlich und aufpeitschend
aufgegriffen und immer weiter gesendet, zum Teil mit provokanten Aufrufen. Die
Unruhen griffen auf mehrere Departements der Pariser Region und später auf
Vorstädte in ganz Frankreich über. Ein
Boulevardblatt in meinem
Departement erschien z.B. mit der Schlagzeile: ‚77, 91, 93, was macht das
Departement 94, das Departement 94 schläft!’ Tags darauf brannte dann auch
das 94. Departement...
Zu regelrechten
Straßenschlachten ist es ‚nur’ in relativ begrenzten Zonen und an
einzelnen Orten gekommen. Über das ganze Land verteilt waren es hauptsächlich
sehr individuelle Aktionen (das Anzünden von Autos). Überhaupt hatte die ganze
Sache durchgehend sehr individualistische / anonyme Züge. Auch hier ist die
Analyse des frz. Verfassungschutzberichtes stimmig: Geknallt
hat es am heftigsten dort, wo es sozial am brenzligsten ist, was dort auch
schon lange bekannt war.“
An wen wandten sich die
Akteure?
„Direkt wandten sie sich an
niemanden. Indirekt an die Regierung. Die hat dann ja auch Geld für die
vernachlässigten Gemeinden locker gemacht, parallel zu dem Werbegag ‚Ausnahmezustand
/ Ausgangssperre’ (Die Verfügungsgewalt ist lediglich von der Gemeinde auf
die Ebene des Landkreises bzw. der Präfektur gehoben worden.
Vom staatlichen Standpunkt
aus hätte völlig ausgereicht, dem jeweiligen Bürgermeister über diese
Notstandsverfügungen weiterhin seine Autorität zu lassen. Aber der Eindruck, ‚die
Politik’ kümmere sich darum, ließ sich wohl eher erzeugen, wenn die
Präfekten als Statthalter der Zentralgewalt das auf der Ebene der gesamten
Präfektur machten. (Faktisch hat dies keine Rolle gespielt und ist auch so von
der Bourgeoisie so kommentiert worden, wie den Kommentaren und Artikeln zu den
Regierungsmaßnahmen bei den Unruhen in "Le Monde", dem
offiziellen Organ des französischen Bürgertums, entnehmen kann.) Die
wohlhabenden Viertel wurden keinen Moment bedroht oder belästigt.
Die jungen ‚Wilden’
haben also die Autos ihrer Nachbarn (die in derselben Scheiße stecken wie sie
selbst, oder zumindest nicht viel besser dran sind), ihre eigenen und die der
anderen Jugendlichen (oder von deren Eltern) aus der Nachbarsiedlung
abgefackelt und ihre eigenen bzw. die in der Nähe befindlichen Schulen,
Krankenhäuser, Supermärkte und Flüchtlingsheime (ja auch das). Da jetzt mehr
Geld freigemacht wurde, ist das ein voller Erfolg für die Kids.“
Gab es zuvor oder gibt es
nach den Ereignissen Ansätze von
Selbstorganisation?
„Organisation interessiert
die Kids nicht. Die haben sich auch nicht von ihren großen Brüdern von den
Aktionen abhalten lassen, also von der Generation der ‚Märsche der
Vorstädte’ (Großdemonstration vor etwa 10 Jahren in Paris). Motto: ‚Was
wollt ihr denn demonstrieren. Das hat doch alles nichts gebracht. Was wir in
einigen Tagen angezündet haben, das hat etwas bewirkt.’“
Wie haben sich die
Älteren, nicht direkt beteiligten Anwohner (Eltern, Nachbarn etc.) verhalten?
„Manche älteren Jugendlichen
haben versucht, die Kinder davon abzuhalten, die Autos der Nachbarschaft zu
vernichten. Niemand in den Siedlungen ist organisiert. Kaum noch. Die Leute
sind insgesamt, d.h. die kompletten Familien mit Kinderwagen und allem drum und
dran, auf die Strasse und haben geglotzt. Haben sich das angeguckt, was es auch
in der Glotze zu sehen gab, nur hier live: Brände, die Feuerwehr,
Polizeieinheiten, Sondereinsatzkommandos aus der Provinz, wegrennende
Jugendgangs oder Gruppen von Kindern usw. In den sehr heißen Siedlungen sind
die Erwachsenen die Nacht über Patrouille gelaufen, natürlich unbewaffnet. (So
etwa die Leute – selbst Ausländer – aus meiner Betriebsgruppe hier, die alle in
‚heißen’ Siedlungen wohnen.) Die Kinder mit den Benzinkanistern sind
weggelaufen, haben ihre Vorhaben aufgegeben, wenn sie die Erwachsenen nur
gesehen haben oder diese ihnen auch nur etwas zuriefen. In die Siedlungen, die
von mafiösen Strukturen, d.h. echter organisierter
Kriminalität kontrolliert werden, da trauen sich die Kids nicht rein, und auch nicht
in die, wo die Islamisten bzw. Evangelisten stark
sind. Dort ist es sehr ruhig geblieben.
Allerdings haben die Versuche
von organisierten politischen und religiösen Gruppen, etwa der Islamisten, die Konfrontationen zwischen Polizei und
Jugendlichen zu verhindern oder zu besänftigen zu Nichts geführt, die sind dann
auch beworfen worden. Es ist eher erstaunlich wie wenig passiert ist, denn
viele Leute im Pariser Großraum sind legal in Waffenbesitz (Jagd spielt hier
noch als Wochenendhobby eine Rolle...), und mancher Spießer liebt auch hier
sein Auto mehr als die Kinder anderer Leute. Aber so renitente
Ordnungsfetischisten sind sie dann doch nicht.“
Da Du die Islamisten ansprichst: Gab es Versuche organisierter Gruppen,
Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse zu nehmen? Zum einen (was in der
bundesdeutschen Diskussion immer wieder als Frage auftaucht) von islamischer
Seite. Zum anderen
von Stadteilgruppen, humanistischen (z.B.
antirassistischen) Gruppierungen, attac,
Gewerkschaften, linken Gruppierungen, der KP oder anderen?
„Keine politische Gruppe hat
die Ereignisse vorhergesehen. Alle Gruppen haben versucht die Sache für sich
und ihre Positionen zu vereinnahmen oder
auszuschlachten, von rechts bis links. Keine politische oder religiöse Gruppe
hat irgendetwas organisiert. Oder irgendeinen Einfluss nehmen können. Alle
haben ihre Kommuniqués geschrieben (zum Teil sogar intelligente). Die Kids,
auch die mit muslimischem Hintergrund, sind weder gläubig noch wirklich
praktizierend oder befolgen die religiösen Regeln ernsthaft. Der Islam wird
hier von diesen Jugendlichen nur als zusätzliche Stigmatisierung in ihrer
Identität wahrgenommen. Wenn aber (wie geschehen) eine Tränengasgranate der
Polizei in eine Moschee fliegt, dann gibt es natürlich einen Vorwand um noch
mehr Feuer zu entfachen.“
Gab es ein Verhalten der
Linken dazu während der Riots?
„Viel revolutionäre Theorie,
hauptsächlich Gelaber von Leuten die die Lebensbedingungen der betroffenen
Leute nicht kennen, weil sie dort nicht leben und arbeiten, aber alles über sie
wissen und meinen erklären zu können, was die betreffenden Leute aber nicht
interessiert. Der PCF (also die französische KP) und die Gewerkschaften sind
doch kaum noch in diesen Siedlungen vertreten und ohne Einfluss.“
Kam es zu
Auseinandersetzungen innerhalb der linken Gruppen über das Verhältnis zu den Riots bzw. zu den Akteuren? Das heißt über politische
und strategische Einschätzungen, die Klassenfrage, Politik- und Aktionsformen…?
„Schuld hat die Regierung,
darin war die Linke insgesamt sich einig. Manche schlugen auch auf die Jugend
ein oder distanzierten sich – wie die KP. Manche solidarisierten sich, wie die
Trotzkisten (LCR + Lutte Ouvrière)
und die anarchosyndikalistische CNT zum Beispiel mit der Parole: ‚Wir alle
sind das Pack!’
Die einzige Position, die
die Riots bedingungslos positiv bewertete und
sagte, damit würden sich neue Perspektiven eröffnen – im Straßenkampf etwa und
da besonders die hyperindividuelle – äußerst lockere ‚Organsiationsform’
(besser: Unorganisiertheit) der Aktionen, der die Polizei nicht Herr wurde –
kam aus dem autonomen Lager. Das spielt aber in Frankreich keine große Rolle. Einige
dieser autonomen Gruppen haben sogar Erklärungen verbreitet und behauptet, sie
seien der Motor der Bewegung. Innenminister Sarkozy
wollte sich einige Tage lang darauf stürzen, aber auch darin widersprach ihm
der Inlandsgeheimdienst – zu grotesk.
Mir fällt dazu nur Jean
Cocteau ein: ‚Da dieses Mysterium uns übersteigt, behaupten wir einfach die
Organisatoren desselben zu sein.’ Cocteau meinte damit den kreativen
Prozess. Aber auch für den destruktiven kann man das versuchen gelten zu
lassen...“
Wie agierte die
bürgerliche Seite? Gab es tiefer gehende Auseinandersetzungen in der Regierung
aus Anlass der Revolte und wenn ja, wer hat sich dabei (wohlmöglich im Hinblick
auf die Präsidentenwahl) durchgesetzt?
„Die Parteien verhielten sich
gar nicht, sie sagten nichts und auch später gab es keinerlei Reaktionen. Was
die Präsidentschaftswahlen 2007 anbelangt: Ich bin kein Prophet. Ich glaube
nicht, dass die Rechnung dieses Großmaul Sarkozy aufgeht. Die extrem rechten Wähler hassen ihn, weil
er nur so tut als ob – genau wie alle (bürgerlich-demokratischen)
Politiker. Das ist alles nur
Werbegag bzw. Kosmetik und Surfen auf der Welle. Der ist kein Faschist, der
spielt nur den Fascho und das merken die Leute. Im
Unterschied dazu ist
Front-National-Chef Le Pen
ehrlich. Der glaubt tatsächlich was er sagt. Aber dessen Propaganda war extrem dämlich
und ist nach hinten losgegangen. Der Front National (FN) hat massiv ein Plakat
geklebt mit der Aufschrift: ‚Le Pen hat das vorhergesagt!’ Das klang
fast so und war so schlecht gemacht, dass Vielen den Eindruck hatten, als
berufe er sich auf das Chaos.
Weg vom Original (Le Pen)
und hin zur Kopie, zu Sarkozy: Die linke Wählerschaft
betrachtet ihn als gefährlich und sagt, er gieße nur Öl ins Feuer. Da er in den
Wahlprognosen vorn liegt, wird es dasselbe Phänomen geben wie beim Referendum.
Das war ja auch laut den Prognosen der meinungsforscher auch ein Triumph. In
der Realität, nach Auszählung der Stimmzettel dann allerdings ein Fiasko. Diese
Scheiß-Wahlforschungsinstitute fragen doch sowieso die falschen Leute. Nein
ernsthaft: Wenn bei den nächsten Wahlen, genau wie beim Referendum, die Leute
zur Wahl gehen sollten, die sonst nicht mehr oder nie hingehen, dann gibt es
vielleicht eine Überraschung. Und für Sarkozy keine
angenehme.“
Welche politische und
soziale Perspektive siehst du nach dem Abflauen der Riots?
„Wir werden ein großes
Problem der Organisierung eines politischen Widerstandes und der kollektiven
Willensäußerung haben und haben es schon.
Das gilt jedenfalls für die
Vorstädte. Die nächste Stufe, die wir dort erreichen werden, sind echte
Massenausschreitungen, und chaotische ‚Aufstände’ ohne Ziel und erkennbaren
Sinn oder Logik in irgendeinem politischen Sinne (dass jemand oder eine Gruppe irgendetwas
erreichen will bzw. damit bestimmte Interessen vertritt). Das was gemeinhin Riots genannt wird, waren letztlich keine.
Überwiegend waren es Einzelaktionen und hier oder da Scharmützel. Die
Kids spielen doch nur. Die wollen sich nicht ernsthaft engagieren oder was
riskieren. Die wollen vor allem nicht erwischt werden. Dazu fehlt ihnen der Mut,
das Bewusstsein oder die Verzweiflung oder auch der Hass.
Das System verfügt noch über viel zu viele Integrationskapazitäten oder
Möglichkeiten um den Konsumbedarf zu decken.
Zum Abschluss und als
Beispiel dafür mag ein Gespräch dienen, das ich mit zwei 20-jährigen hatte, die
Autos in Brand gesteckt hatten. Ich fragte sie, warum sie die Autos ihrer
Nachbarn, die auch arme Schweine sind, abgefackelt hätten, warum sie nicht nach
Neuilly (in das Reichenviertel
bei Paris) gefahren sind? Ob da zu viele Flics
(Bullen) wären (was stimmt, dort sind nämlich im Gegensatz zu den Vorstädten ‚genug’
Bullen) oder ob sie nicht wüssten wie sie mit der Metro da hinkommen? (Was leider
denkbar ist. Außerhalb ihrer Siedlung sind viele von ihnen nämlich vollkommen
verloren.) Sie haben mir geantwortet: ‚Nee, Mercedes und BMW, das sind echte
Werte, da haben wir viel zu viel Respekt vor. Die würden wir niemals
kaputtmachen. Wir haben hier doch nur ein paar alte Schrottkisten abgebrannt,
und die Leute kassieren doch die Versicherung.’
Ihre Träume sind die MTV-Spots
der Gangsta-Rapper – Videoclips, mit dicken
Autos, vielen unterworfenen Weibern und haufenweise Koks und Kohle.
Die Kids sind Teil des kapitalistischen
Systems und sie denken wie das System (bzw. wie das System es haben will).
Sicher als billiger Abklatsch der vorgegebenen Werte, aber was die wollen ist der
Big Deal bzw. das Business. Das sich so integrieren, dass das
klappt. Was da abläuft ist keine Gegenkultur und in dieser
Hinsicht gibt es keine Revolte oder System sprengende Perspektive. Du brauchst
denen nur beizubringen, ihr Vokabular etwas zu ändern, sie in einen prima Anzug
stecken und ihnen eine Stelle als Geschäftleiter eines Großunternehmens geben.
Die rechte Mentalität und Einstellung haben sie schon. Nur werden die meisten
das nie verwirklichen können. Sie werden also
weiter von dem leben, was
der Staat für sie abwerfen kann, will und wird. Und da werden wir ansetzen
müssen…“
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