Antifa-AG
der Uni Hannover:
Politisch gewollt vollführt die
Begriffsverwirrung in den bürgerlichen Medien, aber auch in einem beachtlichen
Teil der Linken, immer neue Kapriolen. Neuestes Beispiel: Die Gefangenennahme
eines israelischen Unteroffiziers durch palästinensische Kämpfer in einer
klassischen Guerillaaktion am Militärposten Kerem Shalom am 25.Juni 2006. Nicht nur, dass es sich – natürlich
– wieder einmal um „Terrorismus“ und „Terroristen“ handelte, wird
die Gefangennahme des Soldaten im Rahmen einer militärischen Aktion in den
NATO-Staaten und vom UNO-Generalsekretär nur noch als „Kidnapping“
bezeichnet, verbunden mit der im Chor vorgetragenen, ultimativen Forderung von
USA, EU, Bundesregierung, Gofi Annan etc. ihn sofort
freizulassen. Dass auf das Konto der Besatzungsmacht Israel Hunderte, wenn
nicht Tausende von tatsächlichen Entführungen gehen, hat kaum zu Kritik
geführt. Auch nicht, dass ein Großteil der Verschleppten in illegaler „Administrativhaft“ gehalten wird. Dass dem in der Nacht
vom 29. auf den 30. Juni auch wieder drei gewaltfreie Anti-Apartheidwall-Aktivisten
in der Region Hebron zum Opfer fielen, ist überhaupt keine Meldung wert. Und selbst
nach dem beispiellosen Massenkidnapping von 64 palästinensischen Abgeordneten,
Ministern und Verwaltungsbeamten in Ramallah und
anderen Orten der West Bank war kaum Protest hörbar. Die dahinter stehende
Absicht ist klar: Sprachlich und ideologisch das Einheitsdenken zementieren,
mit dem sich „die neue Weltordnung“ gegen alle Widerstände doch noch
durchsetzen lässt. Eine Weltordnung, die – aufgrund der relativen Schwäche der „Westmächte“
zunehmend auch wieder auf Krieg, Kanonenbootpolitik, Protektorate und
klassischen Kolonialismus zurückgreift.
Die israelische Linke ist sich dieser
linguistisch-politischen Offensive sehr wohl bewusst, wie beispielsweise der
folgende Kommentar des linken
israelischen Soziologieprofessors und Friedensaktivisten Zvi
Schuldiner zeigt, der an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt und
des Öfteren für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ schreibt. Sein am 27.6.2006
dort erschienener Text ist umso bemerkenswerter, weil Schuldiner bisher alles
andere als ein Freund des bewaffneten palästinensischen Widerstandes oder der
Hamas war.
MEINUNGEN:
Terrorismus (und von wem?) oder Guerilla?
Und der einzige Weg (Verhandlungen) ist blockiert
Zvi Schuldiner
Bei der Hitze dieser Tage
kocht alles. Die angekündigten Überraschungen überraschen und geschehen
dennoch. Die Geheimdienste haben es vorausgesehen, die Soldaten sich darauf
vorbereitet, die Drohungen gingen hin und her und unterdessen gruben palästinensische
Aktivisten mit Zähigkeit und Geduld, wie emsige Ameisen, einen hundert <nach neuesten Informationen:
600> Meter langen und 9 Meter tiefen
Tunnel.
Am Sonntag bei Tagesanbruch
kamen neun oder mehr Palästinenser aus dem Tunnel. Sie griffen nicht die Zivilbevölkerung
eines nahe gelegenen Kibbuz an, sondern attackierten mit Präzision und Geschick
eine am Übergang zwischen Israel und Gaza postierte Militäreinheit. Zwei tote Soldaten
und ein Gefangener stellen einen bedeutenden Sieg für die Palästinenser dar und
während alle anfangen nach den Löchern bei den Militärs und den Geheimdiensten
zu suchen, behauptete der Befehlshaber der Armee, dass dies ein Akt des Terrorismus
gewesen sei.
Eine weitere Überraschung:
Einige israelische Analysten erklärten, das sei vielmehr eine klassische
Guerillaaktion gewesen. Und das Problem bleibt bestehen. Die Diskussion kann
nicht auf die korrektere Definition beschränkt werden, sondern muss die
politische Bedeutung des Angriffs einbeziehen.
Terrorismus? Ja, der
Terrorismus hat in Gaza und in Sderot hart
zugeschlagen, besonders in den letzten Wochen. Circa 40 Palästinenser (darunter
nicht wenige Kinder) wurden durch israelische Bomben und Raketen im
Zusammenhang mit der „Anti-Terror-Politik“
der israelischen Streitkräfte ermordet. Ein neues Kapitel des
Staatsterrorismus. Hunderte von Raketen wurden von den Palästinensern
abgeschossen, trafen vor allem Sderot und
hinterließen insgesamt einen Schwerverletzten und eine zu Tode erschrockene
Bevölkerung.
Nur die Blinden und Tauben
können sich noch von der Dichotomie „Terrorismus
– Mäßigung“ oder von den bühnenreifen Auftritten der Regierung Olmert einwickeln lassen, die in Washington und London von
Frieden redet, aber unfähig ist hier in ihrem natürlichen Theater mit den
Palästinensern darüber zu diskutieren.
Der palästinensische Angriff
findet in einer sehr komplizierten Situation statt und es ist notwendig Ziele
und Modalitäten genau zu kennen, um der einfachen Demagogie all derjenigen
einen Riegel vorzuschieben, die allzu leicht in die in den letzten Jahren von
Bush, Blair, Berlusconi, Sharon und Konsorten durchgesetzte Ideologie der Gewalt
verfallen.
Während der palästinensische
Ministerpräsident Ismail Haniyeh den Versuch
unternahm, Kanäle für einen Dialog mit Präsident Abu Mazen,
der internationalen Gemeinschaft und vielleicht auch mit Israel zu öffnen,
dirigiert von Damaskus aus Khaled Mashal den
militärischen Flügel der Hamas und hält die Kreise um Haniyeh
ständig in Schach.
Auch die Befreiung des
gefangen genommenen Soldaten wird über sehr komplexe Verhandlungen verlaufen.
Die palästinensische Regierung möchte den gefangenen Soldaten so schnell wie
möglich loswerden und sendet wiederholt versöhnliche Botschaften aus.
Mashal will Haniyeh
demonstrieren, dass er keine unabhängige Linie verfolgen kann. Außerdem
signalisiert er der restlichen Welt, dass er zu den Kompromissen, von denen die
„Pragmatiker“ sprechen, nicht bereit
ist. Mashal und der militärische Flügel wünschen sich
– genau wie die Israelis – eine immer schwächere palästinensische Regierung,
die nicht wirklich regieren und nicht wirklich verhandeln kann. Mashals strategische Konzeption veranlasst ihn dazu, harten
Verhandlungen den Vorzug zu geben, die zeigen, wer innerhalb der Hamas wirklich
den Ton angibt, die die Regierung Haniyeh schwächen
und sogar einem israelischen Einmarsch in Gaza den Weg ebnen, der für den
fundamentalistischen Flügel die Möglichkeit einer wachsenden
Massenunterstützung für die Verweigerungslinie bedeuten würde.
Ägypten und Jordanien
verhandeln mit der Regierung Haniyeh und mit Abu Mazen, während Mashal
gegenteilige Botschaften aussendet. Der militärische und Verweigererflügel hält
eine sehr starke Karte in der Hand: die israelische Politik, die mit Hilfe der
internationalen Gemeinschaft alle möglichen vorhandenen pragmatischen Kräfte
schwächt. Mashal, der sich den in dem gemeinsamen
Dokument der in Israel inhaftierten palästinensischen Gefangenen enthaltenen
Kompromissen widersetzt, kämpft um seine politische Führungsrolle und um die
Prinzipien der fundamentalistischen Sektoren.
Der Tunnel zeigt das Scheitern
der „heiligen“ Prinzipien in Sachen
Sicherheit und Mauer. Der Terrorismus (der des israelischen Staates und der der
Hamas) oder die Guerilla können uns immer mehr Tote und Verwundete auf beiden
Seiten bescheren. Mit Sicherheit können sie in den kommenden Stunden zu einer
noch größeren Eskalation führen.
Eine einzige, sehr einfache
Abhilfe wird von der Mini-Besatzungsmacht, die Gefangene ihrer immer gleichen
selbstmörderischen Politik ist, nicht genutzt. Die Besatzung zu verewigen und
sich mehr auf den Einsatz von Gewalt und auf einseitige Lösungen zu stützen,
wird nur in eine Sackgasse führen. Die einzige Abhilfe besteht in Verhandlungen,
im Dialog, auch mit den „Terroristen“
– einem Begriff, von dem nicht mehr so ganz klar ist, auf wen er eigentlich
angewandt werden muss.
Vorbemerkung
und Übersetzung:
Antifa-AG
der Uni Hannover