Antifa-AG der Uni Hannover &
Gewerkschaftsforum Hannover:
Mit Tony Blair wurde jüngst der Pionier und die
Galionsfigur des „Neue Mitte“-Kurses
der (ehemaligen) europäischen Sozialdemokratie von Schatzkanzler Gordon Brown
und dessen Seilschaft zum Rücktritt noch vor Ende des Jahres gezwungen. Angesichts
dieser Entwicklung drängen sich zwei Fragen auf. Erstens: Ist dies der Auftakt
zu einer Renaissance der „guten“
alten Sozialdemokratie oder nur ein Wachwechsel in der „Neuen Mitte“? Und zweitens: Wie verhält sich die
Gewerkschaftsbewegung zu diesem Wechsel? Das heißt: Wie eigenständig, offensiv
und illusionslos (oder eben nicht) ist ihre Position am Ende der Ära Blair?
Die „Neue Zürcher Zeitung“ vermittelte
am 13.9.2006 in einem Bericht
vom jährlichen TUC-Kongress einen ersten Eindruck vom
Stand der Dinge. Wir entnahmen ihn ihrer sehr empfehlenswerten Website www.nzz.ch
Der britische Premierminister Blair ist
am Dienstag zum letzten Mal vor dem Gewerkschaftskongress aufgetreten. Seine
Rede, in der er vor dem Abgleiten in die Opposition warnte, wurde von Protesten
begleitet. Die Gewerkschaften kritisierten vor allem die Privatisierungen.
Mr. London, 12. September
Für seine traditionelle und diesmal letzte
Rede an der Jahresversammlung des Trade Union Congress (TUC) in Brighton hat
Premierminister Blair am Dienstag nur einen kurzen Applaus erhalten - keine
Ovation und schon gar keinen Dank für fast 10 Jahre Regierungstätigkeit. Dies
wohl einkalkulierend, hat er seine Laudatio selbst gehalten. Seine Rede wurde
mehrmals von Zwischenrufen unterbrochen. Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft
verliessen den Saal, als er zu sprechen begann.
Andere Gewerkschafter forderten auf Plakaten den Rückzug der Truppen aus dem
Irak und aus Afghanistan sowie den sofortigen Abgang des Premierministers.
Blair warf diesen Kritikern verärgert vor, der Opposition in die Hände zu
arbeiten.
Blair und der Gewerkschaftsdachverband
warfen sich gegenseitig vor, die Chancen für einen vierten Wahlsieg zu
gefährden. Blair sagte, dass die Globalisierung, die Immigration und der
Terrorismus offensiv behandelt werden müssten, mit einer «offenen
Gesellschaft», die gleichzeitig die Chancen wahrnehmen, die Gefahren eindämmen und
dazu nötige Kontrollen einführen müsse. Dabei seien - speziell im Kampf gegen
den Terrorismus - auch widersprüchliche Massnahmen zu
akzeptieren.
Im Zentrum der ideologischen
Auseinandersetzung zwischen Blair und Brendan Barber,
dem Generalsekretär des TUC seit 2003, stand die Reform der öffentlichen
Dienste. Barber hatte der Regierung am Tag zuvor
vorgeworfen, eine ideologische Präferenz für Privatisierungen statt für soziale
Gerechtigkeit zu haben. Unter dem Einfluss der Massenblätter habe Blair oberflächliche
Initiativen bevorzugt statt breite Debatten, die Industrie sei vernachlässigt,
die Aussenpolitik selbstherrlich bestimmt worden, und
der Markt, allem voran der flexible Arbeitsmarkt, sei naiv als Wunderheilmittel
betrachtet worden.
Blair konterte, dass eine Regierung,
welche die unumgänglichen Reformen der öffentlichen Dienste, vor allem des
Gesundheits- und Erziehungswesens, nicht konsequent durchführe, nicht mehr
gewählt würde. Die Gewerkschaften drohten bereits mit Streiks gegen die
Auslagerung der Logistik des National Health Service
(NHS) an DHL, die Tochter der Deutschen Post, und gegen den massiven Abbau von
Beamtenstellen. Blair erklärte bezüglich der gewerkschaftlichen Thesen, dass
der NHS und die Schulen zwar nicht befriedigend funktioniert hätten, dass seine
Regierung aber unter dem Strich ständig mehr staatliche Stellen geschaffen und
mehr in die öffentlichen Dienste investiert habe. Das wäre, drohte er, unter einer Tory-Regierung nicht mehr der Fall.
Der TUC ist in einem Dilemma. Er weiss, dass die Labourpartei auf den Mittelstand angewiesen
ist, dass eine Rückkehr in die alte Gewerkschafts- Herrlichkeit nicht mehr
denkbar ist und dass Blairs Nachfolger den Kurs von New Labour mit grosser Sicherheit weiterführen wird. Nur hat jetzt der
abrupt aufgebrochene Konflikt zwischen Blair und Schatzkanzler Brown über Zeit
und Stil des Stabwechsels - Barber geisselte dies als schädliche «Seifenoper» - den
Gewerkschaften plötzlich wieder eine Hauptrolle zugewiesen.
Die wachsende Aussicht auf eine Kampfwahl
zwischen Brown und neuen Herausforderern gibt den Gewerkschaften, die mit
Labour liiert sind (dies sind nicht alle 66 im TUC zusammengeschlossenen
Gruppierungen), mit einem Drittel der Stimmen im parteilichen Wahlkollegium
nebst den Abgeordneten und Parteimitgliedern eine entscheidende Rolle und einen
vor wenigen Tagen noch nicht erwarteten Einfluss auf die Kandidaten, damit
diese auf ihre Linie wieder mehr Rücksicht nehmen. Die dramatische Ebbe in der
Parteikasse nach den Spendenaffären macht die
Gewerkschaften auch wieder zu hofierten Geldgebern.
Die grösste
Gewerkschaft der Privatwirtschaft, Amicus, hat sich
überraschend schon für Brown ausgesprochen und Blair zum schnellen Rücktritt
noch vor Ende Jahr gedrängt. Die anderen Gewerkschaften betrachteten dies als
verfrühtes Bekenntnis; sie möchten die Kandidaten noch bearbeiten. Vorläufig weiss man noch nicht, ob jemand und, wenn ja, wer (ausser einem Aussenseiter) gegen
Brown antreten wird. Aber Brown hat nach den Vorwürfen, die man ihm wegen des
Komplotts machte, das Blair dazu zwang, eine Jahresfrist für die Nachfolge zu
setzen, das Prinzip einer Kampfwahl akzeptieren müssen.
Seither macht man sich auch ausserhalb des engen Blair-Kreises plötzlich Gedanken
darüber, ob Brown wirklich der geeignete und beste Nachfolger ist. Brown hat
bisher stets versichert, den Kurs von New Labour weiterzuführen, was den TUC
eigentlich beunruhigen müsste. Der Name von Erziehungsminister Johnson wurde -
nebst anderen - eingeworfen. Als ehemaliger Postbeamter und
Gewerkschaftsfunktionär hat er Labour-Stallgeruch. Aber abgesehen davon, dass
jedermann ihn gern mag, hat er noch wenig Profil, ausser
dass auch er die Gewerkschaften zur Modernisierung aufgefordert hat. Vielleicht
wird er nur Vize-Premierminister, was aber auch Nordirlandminister Hain und
noch einige andere werden möchten. Brown würde einen solchen «deal» noch so
gern unterstützen.
Vorbemerkung:
Antifa-AG der Uni Hannover + Gewerkschaftsforum
Hannover