Gewerkschaftsforum Hannover:

 

Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen und nun hat auch die „Neue Zürcher Zeitung am Sonntag“ vom 10.12.2006 dieser Tatsache einen langen Artikel gewidmet: Die Zeit der sozialen Friedhofsruhe und hyper-sozialpartnerschaftlicher Gewerkschaften ist in der (bisher dafür bekannten) Schweiz definitiv vorbei, auch wenn es bis zu entwickelten Klassenkämpfen und Organisationen, die sie tragen, noch ein weiter Weg ist. Dennoch eine interessante und erfreuliche Entwicklung und ein Argument mehr gegen die Apostel des „Arbeitsfriedens“ hierzulande. Prägnant zusammengefasst in dem folgenden Artikel, den wir dem umfangreichen kostenlosen Online-Angebot der „Neuen Zürcher Zeitung“ (www.nzz.ch) entnahmen.

 

Die neue Lust am Streik

Bauarbeiter, Piloten und Lehrer tun es, Pöstler und Bähnler drohen damit. Die Schweiz, einstiger Hort des Arbeitsfriedens, entdeckt die Lust am Streik. Die Zahl der Streikenden ist so hoch wie seit dem Generalstreik 1918 nicht mehr. Sind die Gewerkschaften die Scharfmacher?

Von Larissa Bieler

In der Schweiz wird nicht gestreikt. Diesen Grundsatz kannte einst jedes Kind. Verständnislos wurden hierzulande Meldungen quittiert, wonach auf Italiens Flughäfen Chaos herrsche oder auf Pariser Strassen der öffentliche Verkehr zum Stillstand gekommen sei.

Diese Zeiten sind passé. «Seit Mitte der neunziger Jahre nimmt die Zahl der Streikenden in der Schweiz deutlich zu», sagt Bernard Degen, Gewerkschaftsexperte und Historiker an der Universität Basel. Die Zahl der Streikenden hat in den letzten Jahren ein Niveau erreicht, wie es letztmals in den Zeiten des Landesstreiks erreicht worden war. 2004 legten in der Schweiz 24 000 Personen die Arbeit nieder, genau gleich viele wie anno 1918.

Insgesamt waren die Arbeitskämpfe damals häufiger, sie gehörten zum Alltag. Erst 1937 kehrte mit dem «Friedensabkommen» in der Metall- und Maschinenindustrie allmählich Ruhe ein. Und mit dem landesweiten Mantelvertrag für das Baugewerbe von 1938 «ging schlagartig ein grosser Teil der Streiktätigkeit zu Ende», wie Degen sagt. Die Sozialpartner einigten sich darin auf soziale Sicherheiten und eine Friedenspflicht. Die Friedensklausel fand in der Folge Eingang in praktisch alle Gesamtarbeitsverträge - die Grundlage für den typisch schweizerischen Arbeitsfrieden war geschaffen.

Doch dieser soziale Friede kommt unter Druck. Fast wöchentlich sorgen neue Streiks für Schlagzeilen. Die Swissmetal-Arbeiter von Reconvilier ziehen gegen die Schliessung eines Produktionswerks in den Kampf, Bauarbeiter lassen für Rentenalter 60 die Bagger stehen, Lehrer wehren sich gegen Reformen, Assistenz- und Oberärzte legen den Bleistift nieder, und Piloten bleiben am Boden, weil sie «weniger verdienen als Tramführer». Am meisten gestreikt wurde in den letzten Jahren in der öffentlichen Verwaltung, im Unterrichts-, Gesundheits- und Sozialwesen, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco feststellte.

Mediales Säbelrasseln

Wer ist schuld an der gereizten Stimmung? «Es wird heute schneller von Streik geredet, vor allem im Vorfeld von Verhandlungen gibt es mehr Lärm», sagt Thomas Daum, der Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Dies ist auch jetzt wieder der Fall, diesmal drohen Bähnler und Pöstler mit Streik. Die SBB-Angestellten, die letztmals 1918 streikten, wehren sich gegen eine Erhöhung der Arbeitszeit und verlangen eine Lohnerhöhung. Die Pöstler fordern im Hinblick auf Restrukturierungen im Poststellennetz einen besseren Kündigungsschutz. Sind es die Gewerkschaften, die zum Kampf aufhetzen? «Gestreikt wird nur, wenn die Betroffenen das wollen. Doch im Gegensatz zu früher wollen die Gewerkschafter heute einen Streik nicht mehr mit allen Mitteln verhindern», sagt Historiker Degen.

In der Tat ist heute eine neue Generation Gewerkschafter am Werk. Mit der Behäbigkeit ihrer Vorgänger haben sie genauso wenig am Hut wie die neuen Manager mit den alten Patrons. Viele neue Gewerkschafter arbeiteten nicht mehr selber an der Werkbank, sondern kommen - wie die Manager - von den Universitäten. «Die Mechanismen der Marktwirtschaft muss man uns nicht erklären. Auch wir wissen, dass nur ein gesunder Betrieb gute Löhne bezahlen kann», sagt Vasco Pedrina, der auf Ende Jahr abtretende Co- Präsident der Unia, der grössten Gewerkschaft der Schweiz. Sie entstand 2004 aus der GBI (Bau und Industrie), dem Smuv (Maschinen-, Metall- und und Uhrenindustrie) und dem VHTL (Handel, Transport und Lebensmittel).

Die Organisation mit den fast 1000 Mitarbeitern und 200 000 Mitgliedern hat nicht mehr viel gemeinsam mit jenen Gewerkschaften, die in den achtziger Jahren noch als Relikte aus der Vergangenheit belächelt wurden. Heute wird die Unia nach modernen Grundsätzen geführt, sie schreckt selbst vor Stellenabbau in den eigenen Reihen nicht zurück. Und im Marketing steht sie einer Bank oder einer Versicherung in nichts nach. Mit Aktionen und Demonstrationen im einheitlichen Unia- Look werden Verbesserungen am Arbeitsplatz gefordert - und um mediale Aufmerksamkeit gebuhlt, nicht zuletzt im Kampf gegen Mitgliederschwund. «Wir kombinieren moderne Managementmethoden mit spontanem Aktionismus», sagt Pedrina. So las ein Unia- Samichlaus auf der Grossbaustelle des Zürcher Grand Hotels Dolder den Verantwortlichen die Leviten - wegen Lohndumpings.

Umkämpfter Friede

Die Eventisierung des Protests und das mediale Säbelrasseln stossen den Arbeitgebern zunehmend sauer auf. Einige Verbände würden die Unia am liebsten aus den Verhandlungen ausschliessen, zu den Baumeistern etwa ist das Verhältnis besonders stark getrübt. Den Vorwurf der Scharfmacherei weist Pedrina aber zurück: «Die soziale Entwicklung, Manager-Arroganz und eine SVPisierung der Arbeitgeberverbände zwingen uns, ab und zu die Muskeln spielen zu lassen.» Zuweilen mit Erfolg, wie das Beispiel am Zürcher Schauspielhaus zeigt. Nach Streik und zähem Ringen um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag für das technische Personal gelang der Unia ein Coup: Die absolute Friedenspflicht, zuvor von der Schauspielhaus-Leitung noch als unantastbar taxiert, wurde nicht in den Vertrag aufgenommen; jene Klausel also, die der Schweiz den jahrzehntelangen Arbeitsfrieden brachte. Und die den Gewerkschaften ein Dorn im Auge ist. «Das Ja zur Vertragspartnerschaft bedeutet nicht automatisch ein Ja zur absoluten und ewigen Friedenspflicht», forderte Pedrina schon bei der Gründung der Unia 2004 programmatisch.

Für Arbeitgeber ist die Friedensklausel hingegen nach wie vor unantastbar. «Ohne die absolute Friedenspflicht haben die Arbeitgeber künftig kein Interesse mehr, Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen», sagt Daum. Denn nur die Friedenspflicht schütze die Arbeitgeber vor Streiks.

Deutliche Worte. Doch der Historiker Degen relativiert: «Die für Streitigkeiten anfälligen Punkte wie Lohn, Arbeitszeit und die Rechte der Gewerkschaften sind praktisch immer im Gesamtarbeitsvertrag geregelt.» Und was im Vertrag geregelt ist, darf gemäss OR nicht bekämpft werden.

Die härtere Gangart der Gewerkschaften scheint zuweilen den Arbeitsfrieden der Schweiz zu stören - dafür haben sie sich zurückgeholt, was ihnen in den unbeschwerten Jahren der Hochkonjunktur abhanden kam: Respekt. Als die Wirtschaft in den neunziger Jahren dann ins Trudeln kam und die Gewerkschaften nur zuschauen konnten, wie sich das Shareholder-Value-Denken durchsetzte, «war für mich klar, dass sich meine Generation Respekt verschaffen muss», so Pedrina. Und noch sei es fehlender Respekt, der die Arbeiter zum Streiken bringe: «Es geht meistens um die Würde und den Stolz der Büezer.»

 

 

Vorbemerkung und Hervorhebungen:

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