Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Nach mehrwöchigen Vorbereitungen ist es Israels Ministerpräsident Ariel Sharon (Likud) soeben gelungen eine neue Regierung zu bilden und sie mit einer ausreichenden Parlamentsmehrheit zu versehen (66 von 120 Sitze in der Knesset), um seine Politik weiterzuverfolgen. Zuvor hatten ihm einige rechtsradikale Koalitionspartner die weitere Gefolgschaft verweigert, da ihnen selbst sein taktisches Manöver eines Rückzuges aus dem militärisch kaum zu haltenden Gaza-Streifen zu weit ging. Der Rückzug der Armee und der nur 7.500 Kolonisten dort erschien ihnen als zu hoher Preis, obwohl Sharon keinen Hehl daraus macht, dass dieses Manöver ein „Befreiungsschlag“ ist, um gleichzeitig die Besiedlung des Westjordanlandes, den Mauerbau und die Schaffung isolierter Bantustans zu intensivieren sowie die Abkapselung Gazas nach außen beizubehalten. Für die Durchsetzung dieser Pläne und die Fortführung der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb Israels, die zu immer stärkerer Verarmung breiter Schichten auch des jüdischen Bevölkerungsteils führt, stehen nun die ehemals sozialdemokratische Arbeitspartei (Avoda) und die ultraorthodoxe „Thora-Partei – Ewiges Judentum“ zur Verfügung. Zu dieser Entwicklung, der inneren Krise des Staates Israel und der Politik der Arbeitspartei bezog während der Koalitionsverhandlungen Professor Zeev Sternhell (Dozent für Politische Wissenschaften an der Jüdischen Universität von Jerusalem) in einem Interview für die sozialdemokratische italienische Tageszeitung l’Unità (das ehemalige PCI-Organ) vom 19.12.2004 Stellung.

Sternhell wurde als Autor insbesondere durch seine Bücher über die Entstehung der faschistischen Ideologie, die radikale Rechte und den Nationalismus in Frankreich, den Entstehungsmythos Israels und die zionistische Arbeiterbewegung von 1904-1940 bekannt. Positive Bezüge und Links zu seinen Publikationen über die radikale Rechte und den Faschismus finden sich in der BRD und Frankreich in Zeitungen wie „ak“, „Jungle World oder der „taz“ sowie auf diversen anarchistischen und Antifa-Seiten. Politisch tut man ihm wohl kein Unrecht, wenn man ihn als Linkssozialdemokraten bezeichnet. Er tritt für ein Ende der Besatzung und des Siedlungsbaus ein. Zumindest 2003 forderte er allerdings „eine erzwungene Lösung“, inklusive einer kombinierten Intervention von US- und UN-Truppen (siehe seinen Kommentar: „Letzte Ausfahrt“ in der „taz“ vom 9.9.2003). Er ist also alles andere als ein „verbohrter“ Linksradikaler oder gar Revolutionär. Um so interessanter was er zur Lage in Israel und zur neuen Likud-Avoda-Koalition zu sagen hat:

 

„Peres sage ich: Der Pakt mit Sharon ist ein Fehler !“

 

Seine kritische Stimme fällt aus dem Rahmen. Zeev Sternhell, Dozent für Politische Wissenschaften an der Jüdischen Universität von Jerusalem, der zu den angesehensten israelischen Historikern zählt, stößt nicht auf die „politische Hochzeit“ von Ariel Sharon und Simon Peres an. „Für die Linke“, erklärt Sternhell (Autor zahlreicher, in der ganzen Welt veröffentlichter Bücher; wir erinnern besonders an „Israels Geburt – Mythen, Geschichte, Widersprüche“ <In Italienisch erschienen bei> Baldini & Castoldi), „handelt es sich um einen politischen Selbstmord. Auf diese Weise führt man einen, außer dem politischen auch kulturellen, Vereinheitlichungsprozess zur Vollendung, der unserem demokratischen System gewiss nicht nützt und auch keine Antwort auf die beiden großen Notstände (den sozialen und die Wiederbelebung des Friedensprozesses mit den Palästinensern) gibt, die Israel erschüttern.“ „Für die Mitglieder der Arbeitspartei“ – drängt Professor Sternhell – „ist die mit Netanyahus, Hanegbis, Livnats und Katz’ Rechter (dem extremistischen Flügel des Likud, der in der Regierung vertreten ist; Anm.d.Red.) eine tödliche Umarmung, von der es schwer sein wird, sich zu befreien.“

 

Professor Sternhell, wie beurteilen Sie die entstehende Sharon-Peres-Regierung der nationalen Einheit ?

 

„Als eine vernichtende Niederlage für die Linke. Mit dieser Entscheidung hat die Führung der Arbeitspartei faktisch akzeptiert, den Status quo beizubehalten und gezeigt, dass sie sich der Rechten unterordnet. Fakt ist, dass die Arbeitspartei Gefangene ihrer Vergangenheit ist – eines historischen und kulturellen Gepäcks, das sie seit der Gründung des Staates Israel mit sich herumgeschleppt hat, nämlich sich mit den Institutionen zu identifizieren als wäre es unvorstellbar, dass man eine progressive und gestaltende Funktion auch aus der Opposition heraus spielen kann. Dieses ‚ministerielle Syndrom’ hat die Verbindungen der Partei und ihres Apparates zur israelischen Gesellschaft immer weiter abreißen lassen.“

 

Die führenden Funktionäre der Arbeitspartei behaupten, dass es Sharon gewesen sei, der sich ihnen angenähert habe…

 

„Das ist Propaganda, um sich selbst zu trösten. Sicher, die Avoda-Minister werden sich zu dieser oder jener Frage zu Wort melden und den Rückzug aus Gaza soweit überwachen wie es ihnen gestattet wird. Sie werden aber nicht in der Lage sein, dem Land auf sozialem Gebiet, auf dem Gebiet der Sicherheit und des Friedens ein alternatives Projekt vorzuschlagen. Sie werden darüber hinaus, dass sie es nicht können, auch nicht in der Lage sein, zur Verteidigung der sozial Schwächsten den Eliten entgegenzutreten, die die Wirtschaft beherrschen. Sie werden protestieren, gewiss, aber sie werden jener Kultur der Gewalt gegenüber unterwürfig bleiben, die das politische Handeln der Rechten auf jedem Feld durchdringt: Der Gewalt gegen die sozial Schwächsten, der Gewalt gegen die Palästinenser und gegen die Ausländer…“

 

Ich insistiere darauf: Shimon Peres hat mehrmals wiederholt, dass der Eintritt der Arbeitspartei / Avoda in die Regierung von entscheidender Bedeutung war, um den Plan eines Rückzugs aus Gaza umzusetzen.

 

„Ich gehörte zu den Ersten, die Gefallen an der Tatsache fanden, dass die Oppositionspartei Avoda mit ihren Stimmen den Sharon-Plan unterstützt. Ein einzelner Akt – so bedeutend er auch immer ist – rechtfertigt als solcher allerdings nicht die tödliche Umarmung mit der extremistischen Rechten des Likud. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass die engsten Mitarbeiter Sharons erklärt haben, dass der Rückzug aus Gaza vom Standpunkt der Rechten aus dazu dient, um Zeit zu gewinnen und jede Diskussion über einen unabhängigen palästinensischen Staat in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben. Eine Regierung bildet man auf der Grundlage eines ausformulierten Programms, das alle Probleme, die dem Konflikt mit den Palästinensern zugrunde liegen, offen und direkt angeht. Eine Regierungskoalition entsteht aus dem gemeinsamen Willen, eine Antwort auf die dramatische soziale und moralische Krise zu geben, die die israelische Gesellschaft in allen ihren Bereichen erfasst. Einer Wertekrise, die auch die Armee kennzeichnet und der nicht dadurch beizukommen ist, dass man von wenigen ‚faulen Äpfeln’ spricht, die es auszusortieren gelte. Um dieser Krise beizukommen und sie zu lösen, braucht es sehr viel mehr als simple Retuschen und partielle Reparaturen. Es genügt z.B. nicht zu fordern, dass gegen die Soldaten und Offiziere ermittelt wird, die sich Verbrechen an palästinensischen Zivilisten haben zuschulden kommen lassen, ohne nach den tiefer liegenden Ursachen zu fragen, d.h. nach der Besetzung der Gebiete und der Unterdrückung eines anderen Volkes, die die ethische Krise in Tsahal <Abkürzung von Tsava Haganah Leisrael = Armee zur Verteidigung Israels> hervorruft. Die Arbeitspartei hat demonstriert, dass sie sich der Realität <d.h. den bestehenden Verhältnissen> unterwirft, hat selbst auf die Idee einer Veränderung verzichtet und denjenigen die Hoffnung genommen, die in Israel weiterhin glauben, dass die Welt, in der wir leben, nicht die bestmögliche ist.“

 

Ihre Analyse, Professor Sternhell, ist die Mitleid erregende Analyse eines – noch vor dem politischen – kulturellen Zusammenbruchs der Arbeitspartei. In welchem Bereich hat sich das, von Ihrem Standpunkt aus, am stärksten manifestiert ?

 

„Ohne Zweifel im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Zukunft wird zeigen, ob die Arbeitspartei den ‚Krieg um den Frieden’ verloren hat. Mit Sicherheit hat sie durch das Bündnis mit dem Ultra-Neoliberalen Netanyahu im ‚Krieg’ gegen die Armut eine vernichtende Niederlage erlitten. Das, was in den Verhandlungen um die Regierungsbildung in Sachen Unterstützung für die Schwächsten (Kinder und Alte in erster Linie) herausgeholt wurde, ist bezogen auf den sozialen Notstand, der in Israel herrscht, einem Land, in dem heute 1,5 Millionen Menschen (d.h. 22,4% der Bevölkerung) unter der Armutsgrenze leben, wirklich wenig. Die Vertreter der Avoda haben die ‚alte’ aber aktuelle Wahrheit vergessen, dass es keine Freiheit ohne Gleichheit gibt. Wir hätten mehr oder weniger erwartet, dass die Linke das Prinzip bekräftigt, dass es – und sei es auch nur graduell – möglich ist die Realität zu verändern. Ich hätte erwartet, dass irgendeiner der führenden Funktionäre der Arbeitspartei erklärt, dass wir, da wir die Armut und das Elend selbst erzeugen können, auch in der Lage sind, die Richtung zu ändern und die Tendenz umzukehren. Stattdessen Schweigen. Ein ohrenbetäubendes Schweigen !

Die Linke verschwindet dann von der Bühne, wenn entscheidende Fragen, die die Gegenwart kennzeichnen (die in der öffentlichen Verwaltung um sich greifende Korruption, die Krise, die die Armee erfasst, der wachsende Einfluss der Finanzeliten auf die Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik), im eigenen Handeln ausgeklammert und im Namen des politischen Realismus geopfert werden, für den die Regierung nicht mehr Instrument (der Veränderung), sondern selbst der Zweck ist, auf den man orientiert.“

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover