Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Die
vielleicht bedeutendste Organisation der sozialen Linken Lateinamerikas ist die
brasilianische Landlosenbewegung Movimiento
Sem Terra (MST) und ihr bekanntester Sprecher Joao
Pedro Stedile. Die unabhängige linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“ befragte
ihn für die Ausgabe vom 13.5.2006 zum Fortgang der Agrarreformen
in Brasilien und Venezuela und möglichen internationalen Auswirkungen des
lateinamerikanischen Linkstrends.
Lateinamerika:
Stedile (MST): „Lula? Ja, kritisch.“
Zwischen den Feuern: Die
brasilianischen Landlosen sind Berater Venezuelas in Sachen Landreform
geworden. Und ihr Führer (ein Pfeiler der „Lula-Linken“)
bestätigt die Unterstützung für den Präsidenten. Es ist allerdings eine immer
schwierigere Unterstützung.
MARINELLA CORREGGIA – WIEN
Ausländische Berater für die
Landwirtschaft ziehen im Namen der Regierung durch die ländlichen Gebiete
Venezuelas. Es sind nicht die üblichen Kooperationspartner, sondern Kader der
brasilianischen Landlosenbewegung MST, die gerufen
wurden, um bei der Verwirklichung der Nahrungsmittelsouveränität <d.h. der Selbstversorgung mit
Nahrung> eines Landes zu helfen, das bislang vor allem Erdöl kultiviert. Es handelt sich
wirklich um ein anderes Kooperationsmodell. Nicht nur um eine Partnerschaft
zwischen Süden und Süden, sondern auch um eine zwischen Regierung und Bewegung,
in der jeder das gibt, was er hat. Darüber spricht Joao Pedro Stedile, historische Bezugsperson des MST, der an der
Wiener Veranstaltung „Enlazando Alternativas“ (Alternativen verknüpfen) teilnimmt.
Wie laufen die
Agrarreformen in Brasilien und in Venezuela?
„Venezuela importiert fast
90% der Nahrungsmittel, die es konsumiert und des landwirtschaftlichen Inputs
(darunter den Samen), obwohl es Böden im Überfluss und ein sehr vielfältiges
Klima besitzt. Das Problem ist also nicht so sehr der Zugang zum Boden als
vielmehr die Produktionssituation. In den 100 Jahren des Erdöls ist weder eine
starke Bauernschaft herangewachsen (obwohl es in den ländlichen Gebieten eine
arme Bevölkerung gibt) noch eine Agrar-Bourgeoisie. Alle sind in den Städten,
um zu versuchen, einen Teil des Erdöl-Mehrwertes abzubekommen. Für die
Nahrungsmittelsouveränität sind drei Elemente notwendig: eine organisierte
Kleinbauern- / Landlosenbewegung; eine Regierung, die
das will; und ein effizienter und nicht bürokratisierter Staat. Venezuela
verfügt nur über den zweiten Faktor. Also kann der MST dabei helfen, eine
bäuerliche Kraft (una forza campesina) zu organisieren und den Übergang zu einer
nachhaltigen und den Anbau verschiedener Erzeugnisse umfassenden Produktion zu
fördern.“
Und wo drückt hingegen in
Brasilien der Schuh?
„In meinem Land stehen sich
zwei Modelle gegenüber: das Agro-Business, das Böden,
Samen, Wasser und Input kontrolliert und sich dem Neoliberalismus und den
multinationalen Konzernen angepasst hat, sowie das Landarbeitermodell. Die
politische Machtbalance begünstigt weiterhin das Erstere. Auf 10 Maßnahmen
zugunsten der Kleinbauern und der Landlosen kamen 29 zur Unterstützung der
Großen. Deshalb wird unsere Unterstützung als Bewegung für Lula
bei den Wahlen im Oktober eine sehr kritische sein. Es ist klar, dass es nicht
ausreicht, Lula zu wählen. Es muss ein Projekt für
das Land geben.“
Kann die in Lateinamerika
stattfindende Veränderung den Rest des Westens beflügeln?
„Angesichts der totalen
gegenseitigen Abhängigkeit, zu der uns der globalisierte Kapitalismus zwingt,
ist eine Synergie notwendig. Wenn die sozialen Kräfte, die jetzt in
Lateinamerika an der Regierung sind, die Multis und ihre eigenen natürlichen
Ressourcen kontrollieren und Formen einer brüderlichen Integration
verwirklichen, wird dies Veränderungen in Europa helfen. Wenn Ihr Eure
Regierungen wechselt (apropos: Was wird Prodi in
Sachen Neoliberalismus machen?) und das Kapital kontrolliert, wird das für uns
eine Hilfe sein. Und zusammen müssen wir uns von der WTO, dem IWF und der
Weltbank befreien.“
In Lateinamerika ist der
Hunger nach Land der Grund vieler Kämpfe. In Europa flüchten alle vom Land. Wird
es diese Delegierung der Produktion des täglichen Brots an Andere für immer
geben?
„<Die linke internationale
Landarbeiter- und Kleinbauernbewegung>
Via Campesina vertritt die Ansicht, dass jedes Land
und jede Region das Notwendige produzieren muss, um den lokalen Nahrungsbedarf
zu decken. In einer lokalen und nachhaltigen Landwirtschaft werden mehr
Personen gebraucht. Umso mehr als das zentralisierte und urbane Modell nicht
allen in den Städten (und sogar immer weniger Leuten) Arbeit gibt. Man muss die
Auffassung über den Haufen werfen, dass sich das menschliche Dasein nur in den
großen Zentren ‚glücklich entwickeln’ kann.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover