Aus: „SoZ
- Sozialistische Zeitung“, Oktober
2004, Seite 3
(im Internet unter: http://members.aol.com/sozkoeln/)
Die Montagsdemonstrationen
sind die erste gesamtdeutsche Bewegung von unten, die Ost- und Westdeutsche in
einem gemeinsamen Ziel vereint: Weg mit Hartz IV! Die
seit Juli anhaltende Bewegung, die für die gewerkschaftliche wie politische
Linke überraschend gekommen ist, hat eine Vielzahl von Defiziten ans Tageslicht
gebracht.
Die Montagsdemonstrationen
haben ihren Ursprung in Ostdeutschland — die erste gab es am 26.Juli in
Magdeburg — und kamen dort so spontan wie 1989 auch. Privatpersonen haben sie
angemeldet, einen Aufruf per Internet gestartet, ein paar Handzettel verteilt,
das war‘s. Die Leidtragenden der Angriffe brauchen
nicht mehr, um sich Luft zu verschaffen — eine eindrucksvolle Bestätigung
dafür, dass Bewegungen nicht »gemacht« werden. Die da auf die Straße gehen sind
selbstständig denkende Menschen, keine Manövriermasse.
Das
erste, was bei diesen Montagsdemos aufgefallen ist, war: Es waren auf einmal
ganz andere Leute da als sonst, und die politische wie gewerkschaftliche Linke
hat nicht gewusst, was sie mit ihnen anfangen soll. Die Hauptparole war von
Anfang an gegeben: Weg mit Hartz IV
! Sie hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert. Eine weitergehende
Perspektive ist nicht dazu gekommen. Politisch gesehen lief die organisierte
Linke diesmal nicht vorne weg, sondern hinterher. Und sie hat es bis jetzt
nicht verstanden, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, um eine Perspektive zu
entwickeln.
Im
Osten konnte man die Illusion hegen, es werde sich 2004 wiederholen, was 1989
geklappt hat: Eine ansteigende Welle von Demonstrationen bringt das politische
System ins Wanken und fegt es schließlich hinweg. Im »realen Sozialismus« hat
das funktioniert, sofern nicht die Bruderparteien zu (Waffen-)Hilfe eilten.
Denn anders als der Kapitalismus beruhte er nicht auf der Klassenherrschaft von
Kapitaleignern.
Die
realsozialistische Nomenklatura bestand aus einer
abgehobenen Schicht von Funktionären, die letzten Endes vom Wohlwollen der
Partei abhing, welche wiederum die Kontrolle über alle Bereiche der
Gesellschaft monopolisierte. Die Partei als Ort der Vergesellschaftung setzte
voraus, dass sie einen Konsens errichten oder jedenfalls Gegenströmungen
weitestgehend ausschalten konnte. Die Montagsdemonstrationen brachen den
Konsens auf, das Herrschaftsgebäude bröckelte.
Wo
aber die Warenform als unpersönliche, verdinglichte Herrschaftsform der
Kapitalbesitzer die Gesellschaft zusammen hält, kann man in der
Zirkulationssphäre soviel demonstrieren, wie man will: Wenn die Macht des
Kapitals nicht in der Produktionssphäre angegriffen wird, wenn darüber hinaus
die herrschende Klasse zusammenhält wie Pech und Schwefel und ein Arend Oetker
die CDU zusammenstaucht, weil sie nicht erkennt, dass der Schulterschluss mit
der Regierung gegen die erwerbsabhängige Bevölkerung in so einer Situation
wichtiger ist als ihre parteipolitische Profilierung auf Kosten der SPD — dann
kriegt man mit Demonstrieren allein die Hartz-Gesetze
nicht weg.
Das
spricht nicht gegen die Montagsdemos, aber es fordert mehr als blinden
Aktionismus, der sich im organisatorischen Rödeln
erschöpft und in der Substanz eine Art Opportunismus gegenüber der Bewegung
darstellt.
Die
Spontaneität und Massivität, auch der Radikalismus der Bewegung in
Ostdeutschland kontrastierte von vornherein mit der weitaus niedrigeren
Beteiligung im Westen, die von Anfang viel stärker von den bekannten sozialen
und politischen Initiativen und Organisationen dominiert war. Im Westen hat man
darüber gestaunt, aber man hat es nicht thematisiert. Über wichtige
Unterschiede der Befindlichkeit hat man den Mantel der gleichen Betroffenheit
durch die Hartz-Gesetze gebreitet, die halt im Osten
nur dramatischere Auswirkungen hätten als im Westen.
Völlig
übersehen wurde, dass die Hartz-Gesetze im Osten das
Streichholz an der Lunte der gescheiterten »deutschen Einheit« sind, die im
Verlauf dieses Jahres durch mehrere Studien und Stellungnahmen belegt wurde.
Nach wie vor gibt es in der Westlinken keine Antwort darauf, dass
Ostdeutschland nur ein Experimentierfeld für Maßnahmen darstellt, die mit
zeitlicher Verzögerung auch den Westen erreichen (z.B. die Aushebelung des
Flächentarifs).
Im
Gegenteil. Die Herstellung einer Einheit von unten — im deutschen Maßstab nicht
weniger erforderlich als im europäischen — bricht sich in Deutschland am
Standortdenken in den Gewerkschaften, an arroganten Reflexen gegenüber
Ostdeutschen, an einer »antivölkischen« Propaganda, die den Hauptfeind in denen
sieht, die sich wehren, und nicht mehr im Kapital.
Man
mag ja der MLPD vorwerfen, dass sie die Losung »Das Volk sind wir!« in einem populistisch-nationalen Sinne verwendet. Bislang
gibt es aber auf der Seite der Linken kein Angebot, eine solche Einheit von
unten auf einer Klassenbasis und mit internationalistischer Zielsetzung
herzustellen. Das bleibt ein schweres Handicap, das es der Arbeiterbewegung
unmöglich machen wird, der Spaltungspolitik der Herrschenden etwas
entgegenzusetzen und in die Offensive zu kommen.
Immerhin
gibt es erstmals eine gesamtdeutsche Koordination aus den Montagsdemos, um die
Demonstration des 2.Oktober vorzubereiten. Das ist ein wichtiger Fortschritt.
Dabei darf man nicht übersehen, dass anfänglich die Westlinke das Heft in der
Hand hielt — die MLPD nicht weniger als das Berliner Bündnis. Dass das Berliner
Bündnis dann nach Leipzig ging und die Leipziger nun eine führende Rolle darin
spielen, hängt schlicht damit zusammen, dass die Konkurrenz zur MLPD dieses
Entgegenkommen erzwang. Eine bewusste Position, das neue Bündnis als eine neue
Stufe der sozialen Bewegung zu erkennen und die ostdeutsche Beteiligung darin
als Motor zu akzeptieren, ergibt sich daraus noch nicht.
Der
Verlauf der Aktionskonferenz, die vor Monaten beschlossen wurde und am
19.September in Frankfurt am Main stattfand, hat nicht erkennen lassen, dass
die Montagsdemos das Gesicht der Republik verändert haben. Ungerührt wurde
beschlossen, was man vor Monaten schon aufgetischt hat — den Aktionstag am
17.11. So vergeben wir uns Chancen.
Hartz IV, das werden
Erwerbslose nicht müde, immer wieder zu betonen, ist in erster Linie ein
Angriff auf das Lohnniveau. Es müsste somit den Widerstand der Gewerkschaften
hervorrufen. Die DGB-Spitze hat jedoch nach dem Anrollen der Montagsdemos kalte
Füße bekommen und ihre ursprüngliche Haltung, den Wahlzirkus im September
abzuwarten um sich eventuell neu zu positionieren, aufgegeben. Stattdessen hat
Michael Sommer eine Ergebenheitsadresse an den Kanzler gerichtet, worin der DGB
die Demonstrierenden zwar versteht, aber sich unter dem Vorwand der
Unterwanderung durch Nazis nicht mit ihnen gemein machen möchte. Die
Basisgliederungen dürfen machen, was sie wollen.
Das
ist eine blanke Entsolidarisierung mit den
Erwerbslosen und eine bewusste weitere Schwächung der gewerkschaftlichen
Position aus falscher Loyalität gegenüber der Regierung. Die
Einzelgewerkschaften scheinen sich auf eine Salamitaktik einzulassen: Gegen Hartz gehen die Erwerbslosen auf die Straße; die
Gewerkschaften setzen ihre Kampfmittel erst dann ein, wenn es um Tarifkämpfe
geht — z.B. im Winter gegen die Verlängerung der Arbeitszeiten im öffentlichen
Dienst der Länder. Auf diese Weise geht jeder alleine unter.
Die
Gewerkschaftslinke hat es bisher nicht vermocht, dieser Haltung etwas
entgegenzusetzen. Ihre Aufgabe wäre es aber, die Aufklärung über Hartz IV in die Betriebe zu tragen, eine Kommunikation
zwischen den dort Beschäftigten und den Demonstrierenden herzustellen und damit
Bedingungen für betriebliche Aktionen zu schaffen. In der theoretischen
Reflexion über die Krise der Gewerkschaften gibt es bei ihr ein Verständnis
dafür, dass Gewerkschaften mit ihren Kampfmitteln auch den politischen Raum
besetzen müssen. In der Praxis folgt daraus noch nichts.
Die
Beteiligung kritischer Gewerkschafter an den Montagsdemos ist sehr
zurückhaltend; bei der Demonstration vor den Kommunalwahlen in NRW hat der
Verdi-Landesbezirk gefehlt. Und wenn die Dinge bleiben, wie sie derzeit sind,
wird der 2.Oktober eine weitaus geringere gewerkschaftliche Beteiligung erleben
als der 1.November im vergangenen Jahr. Hier gibt es seit dem 3.April keine
Fortschritte, sondern Rückschritte. Das ist die größte Schwachstelle der
Bewegung. Denn die Gewerkschaften bleiben der strategische Dreh- und Angelpunkt
für die Abwehr der Angriffe wie für die Durchsetzung sozialer Forderungen.
Auf den Montagsdemos haben sich die Redner
der Gewerkschaften, auch linke, viel Kritik anhören müssen — häufig die
undifferenzierte Kritik derer, die sich im Stich gelassen fühlen und nicht
warten können, weil ihre magere Existenzgrundlage jetzt angegriffen wird. Die
Haltung derer vor den Mikrofonen war durchgängig radikaler als derer dahinter —
gleich um wen es sich handelte. An ihrer Kritik und Wut war abzulesen, dass ein
Radikalismus, der aus der Verzweiflung geboren wird, sehr schnell in eine
völlig falsche Richtung abgleiten kann. Die Erfolge der Nazis auf manchen
Demonstrationen sind ein Beleg dafür.
Wie
aber kann dem begegnet werden? Sicher nicht dadurch, dass man sich wie die MLPD
als die besseren Populisten aufspielt und vorspiegelt, hier sei ein Aufstand im
Gang, der nur auf die richtigen Führer wartet, um das Kanzleramt zu stürmen.
Die
Beschränkung auf den einen Punkt: »Hartz IV muss weg!« ist zugleich ein Garant großer Breite wie auch ein
Hindernis für die Herstellung eines weiterführenden gesellschaftlichen
Bündnisses. Hartz IV ist nur ein Mosaikstein in einem
strategischen Gesamtkonzept der Herrschenden. Wenn man dieses Gesamtkonzept
nicht in Frage stellt, wird man einzelne Teile davon nicht zu Fall bringen
können.
Damit
soll nicht abstrakten Maximalprogrammen das Wort geredet werden, sondern der
Ausweitung der Basis der Mobilisierungen. Die verschiedenen Aspekte einer
notwendigen Gegenstrategie — vom Mindesteinkommen über den Mindestlohn bis hin
zum Kampf um die Arbeitszeit und einer Umverteilung von oben nach unten —
müssen als Facetten ein und desselben Kampfes behandelt werden; sie dürfen
nicht auseinandergerissen werden — weder in einzelne
Forderungen noch in einzelne Kampfschritte. Auf die Herstellung der
Zusammenhänge kommt es an — in der Argumentation wie in der politischen und
organisatorischen Praxis.
Den
Montagsdemonstrationen fehlt die innere Dynamik, deshalb werden sie am Schluss
zu einem Ritual. Die innere Dynamik stellt sich nicht allein durch Wiederholung
her. Zwischen den Demonstrationen muss etwas passieren, das den Zusammenhalt
der Demonstrierenden kräftigt und andere Bevölkerungsteile einbezieht, z.B. der
Aufbau geeigneter Strukturen in den am meisten betroffenen Stadtteilen, um den
vom ALG II Betroffenen unmittelbar zu helfen. Oder auch die Organisierung von
Informationsversammlungen in den Betrieben zu Hartz
IV mit Vertretern von Erwerbsloseninitiativen. Oder die Organisierung von
Diskussionen über längerfristige Perspektiven und die Verstärkung der
Ost-West-Zusammenarbeit.
Das
alles würde den Beteiligten helfen, ihr Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, und
den Montagsdemos eine Perspektive geben. Hartz IV
wäre dann immer noch nicht weg, aber immerhin wäre man einen Schritt weiter im
Aufbau einer solidarischen Gegenwehr und würde sich nicht im internen Streit
mit der MLPD um einen zentralen Demonstrationstermin verlieren, der im
Endeffekt doch keinen qualitativen Schritt nach vorn bringt.
Noch
sind die Möglichkeiten für solche Ansätze nicht vertan: Der Aktionstag vom
17.11. kann ein Tag des betrieblichen Protests werden. Und das Leipziger
Bündnis sollte über die Montagsdemos hinaus bestehen bleiben.
Angela Klein