Antifa-AG der Uni
Hannover:
Noch
immer wird darüber diskutiert wie Ariel Sharons Rückzugspläne einzuschätzen
sind, was strategisch und taktisch dahinter steckt. Weiter angeheizt wird diese
Diskussion einerseits durch die sich zuspitzende Regierungskrise in Israel. Mittlerweile,
d.h. Ende Juli 2004, werden bereits Vorbereitungen für eine große Koalition von
Sharons Likud und Peres’ Awoda (Arbeitspartei) getroffen, die durch zwei
jüdisch-orthodoxe Parteien verstärkt werden soll. Gleichzeitig gibt es
Massenproteste zionistischer Siedler und Außenminister Schalom sowie 14 weitere
Likud-Abgeordnete kündigen Sharon in dieser wichtigen Frage die Gefolgschaft
auf. Andererseits gewinnt die Angelegenheit durch die im Gaza-Streifen vor dem
Hintergrund des in Aussicht gestellten „Entsetzungsplanes“ ausgebrochenen
Machtkämpfe zwischen Arafats Gefolgsleuten, den Anhängern des US-Günstlings
Dahlan innerhalb der Fatah und den Militanten der Al-Aqsa-Brigaden weiter an
Brisanz.
Im
Folgenden ein Kommentar von Zvi Schuldiner zu dieser Thematik, der zur Vorsicht
und zu einer genauen Analyse von Sharons Plänen mahnt. Eine Position, die
weitaus kritischer und fortschrittlicher ist als das was in der BRD unter einem
Großteil derjenigen diskutiert wird, die sich selbst für „links“ oder gar
„kommunistisch“ halten.
Zvi
Schuldiner ist Dozent für Soziologie und Dekan des Fachbereiches Politik und
Öffentliche Verwaltung am Sapir College der Jüdischen Universität von
Jerusalem. Er ist der italienischen Linken und Friedensbewegung eng verbunden
und schreibt regelmäßig Beiträge für linke Zeitungen wie “il manifesto"
oder die Schweizer Wochenzeitung "WoZ". Wobei er beileibe kein
Revolutionär ist, sondern linkssozialdemokratische und pazifistische Positionen
vertritt. Daher auch seine Ablehnung des bewaffneten Kampfes der Palästinenser,
die wir in keiner Weise teilen. Auch bewaffneter Widerstand gegen die Besetzung
und Kolonisierung des eigenen Landes ist in jeder Weise legitim und hat als
solcher nichts mit Terrorismus zu tun.
Verfasst
wurde dieser Kommentar für „il manifesto“ vom 8.6.2004 in
italienischer Sprache und daher nur einmal übersetzt (nämlich von uns ins
Deutsche.)
Israel:
Die geheimen Pläne des
Ministerpräsidenten
Zvi Schuldiner
Die Hysterie, von der sich
die israelische Rechte derzeit nährt, und die Ignoranz gegenüber einigen
grundlegenden Elementen der Politik des Ministerpräsidenten Ariel Sharon haben
viele Kommentatoren dazu veranlasst, sehr wenig realistische Analysen des
sogenannten einseitigen Rückzuges Israels aus den besetzten Gebieten von Gaza
anzustellen. Es stimmt, symbolisch ist es innerhalb von Israel von Bedeutung,
dass der große Erbauer jüdischer Siedlungen den Israelis nun sagt, dass der
Rückzug aus Gaza unabdingbar sei, um die Zukunft zu sichern. Außerdem kündigt
Sharon an, dass es bis Ende 2005 keine Siedlungen in Gaza mehr geben wird und
dass vier Siedlungen in Cisjordanien evakuiert werden. Und wenn es gerade
Sharon ist, der große Architekt der Politik der Gewalt, der so viele Siedlungen
errichtet hat, der zum Rückzug und zur Aufgabe eines Teils der Siedlungen aufruft,
dann ist die Sache von Bedeutung. Es ist allerdings wichtig, nicht den Sinn für
die Proportionen zu verlieren und sich die getroffenen Entscheidungen gut
anzuschauen. Der Beschuss der Regierung Sharon ist die Frucht der
innenpolitischen Krise und mit Sicherheit wird sie im Mittelpunkt der andauernden
Krise bleiben. Die extreme Rechte Israels fühlt sich heute schärfer angegriffen
als in der Vergangenheit, da sie einen ihrer Paladine verloren hat und nicht
nur das. Sharon hat sie nicht nur im Stich gelassen, sondern positioniert sich
symbolisch als einer der Gegner der Siedlungen. Nun, diese Entscheidung ist
eindeutig und widersprüchlich zugleich. Einerseits sagt die Regierung, dass sie
bis Ende 2005 den Rückzug aus dem Gaza-Streifen vollständig vollzogen haben
wird. Gleichzeitig knüpft sie den Rückzug an Bedingungen. Erstens sagt sie,
dass man den Rückzug dann vollziehen wird, wenn die Bedingungen dies gestatten.
Das heißt der wohlbekannte Terrorismus gegen israelische Ziele, der der Rechten
in der Vergangenheit so sehr geholfen hat, könnte stets als Hindernis dienen
oder <zumindest> dazu, den Rückzug zu verschieben. Es würde z.B. eine
Aktion gegen die israelischen Streitkräfte genügen, um dieselbe Kette von
Aktionen und Reaktionen zu entfesseln wie in den letzten Wochen. Sogar die
„Entdeckung“ einiger palästinensischer Zellen könnte für eine Bombardierung
ausreichen, die Zivilisten liquidiert – mit demselben Ergebnis.
Zweitens, keine Siedlung
wird ohne einen neuerlichen formellen Beschluss der israelischen Regierung
evakuiert und erst ab Anfang 2005, nachdem die für den Rückzug notwendigen
Schritte vorbereitet wurden. Dies dient dazu die nationalreligiöse Partei <Mafdal; 2003: 4,2% der Stimmen
und 6 von 120 Sitzen in der Knesset>
in der Koalition zu halten (zumindest für die kommenden 9 Monate), trägt
allerdings dazu bei den Eindruck zu vermitteln, dass wir großen Ankündigungen
gegenüberstehen, die große Zweideutigkeiten verbergen.
Jenseits der
innenpolitischen Aspekte, die das Klima einer „großen Krise und eines historischen
Ereignisses“ geschaffen haben, bleibt die grundlegende Frage: Was ist das wahre
Ziel von Sharon und seiner Rechtskoalition ?
Wohin führt der einseitige Rückzug wirklich und was tun angesichts der
ersten Schritte dieses Planes, dessen Umsetzung allenfalls beginnt ?
Wenn auch mit der ganzen
positiven Symbolik des „Rückzuges“: Der Beschluss der israelischen Regierung
vernebelte die dringende Notwendigkeit von Verhandlungen zwischen Israel und
den Palästinensern. Sharons Plan ermöglicht es, sich nicht mehr um die
Palästinenser zu kümmern, die im besten Falle zu Partnern irgendeines Diktates
werden, das durch ägyptische oder amerikanische Vermittlung erteilt wird. Im
wesentlichen will Sharon die Frage des besetzten Cisjordaniens auf eine weit
entfernte Zukunft vertagen und damit die Annektion eines Großteils der 1976
besetzten Gebiete sicherstellen. Der Gaza-Streifen kann als Köder dienen, bei
dem die westlichen Diplomaten anbeißen. Das Problem geht aber weit über die
Beherrschung eines 363 Quadratkilometer großen Streifens mit großem
Explosionspotential hinaus.
Die Frage der Anerkennung
der nationalen Rechte des palästinensischen Volkes, die Frage eines wirklichen,
auf der Rückkehr zu den Grenzen von 1967 basierenden Friedens und eines
palästinensischen Staates neben Israel wird nicht durch eine magische Formel
gelöst, die die reale und politische Existenz der Palästinenser ignoriert.
Der einseitige Rückzug kann
wichtig sein, um mit dem Mythos der befreiten und hochheiligen Gebiete zu
brechen, von denen sich zurückzuziehen durch die Bibel verboten sei, beinhaltet
allerdings die große Gefahr, vor den Augen der Israelis, der Palästinenser und
der ganzen Welt zu verbergen, dass das Problem nicht nur die Siedlungen
betrifft, sondern einen Frieden, der zwischen Israelis und Palästinensern
auszuhandeln ist. Deshalb wird es notwendig sein, die in den letzten Jahren von
der israelischen Regierung mit der aktiven Unterstützung der Administration der
Vereinigten Staaten konstruierten, falschen und demagogischen Argumente
auseinander zu nehmen. Einige kosmetische Korrekturen genügen nicht – so
„historisch“ man sie auch immer darstellen will.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover