Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Die Entführung der linken italienischen Journalistin Giuliana Sgrena, die in Bagdad als Korrespondentin für die linksradikale italienische Tageszeitung „il manifesto“, aber auch für die liberale deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ arbeitete, am 4.Februar 2005 hat in Italien zu einer breiten Solidaritätswelle für sie und zu einem Wiederaufflammen der Anti-Kriegs-Bewegung geführt (am 19.2.2005 demonstrierten real 25 - 30.000 Menschen in Rom). Nicht weniger Aufsehen erregend und politisch brisant war der Beschuss des Autos, mit dem sie nach der Freilassung am 4.März zum Bagdader Flughafen gebracht wurde, durch amerikanische Besatzungssoldaten. Dabei wurde der Geheimdienstoffizier Calipari (SISMI) durch einen Kopfschuss getötet und Giuliana Sgrena selbst an der Schulter verletzt. In einem Interview für „Die Zeit“ vom 10.3.2005 berichtet sie über die Ereignisse und ihre Einschätzung. Der Beitrag stammt von der Website der „Zeit“: www.zeit.de

 

»Das zerreißt mich«

Die italienische Journalistin und ZEIT-Mitarbeiterin Giuliana Sgrena spricht über ihren getöteten Befreier, ihre Kidnapper und die Vorwürfe gegen US-Soldaten

DIE ZEIT: Können Sie, wollen Sie sprechen?

Giuliana Sgrena: Körperlich geht es mir schon besser. Wegen der Umstände meiner Befreiung bin ich allerdings sehr deprimiert. Es ist tragisch. In dem Moment, in dem ich mich frei fühle, stirbt der Mensch, der mich befreit hat. Er stirbt in meinen Armen, weil er sich schützend über mich wirft. Der Schmerz darüber zerreißt mich. Das werde ich nie vergessen. Der Schmerz über den Tod Nicola Caliparis überschattet alles. Auch alles, was ich während meiner Entführung erlitten habe.

ZEIT: Nicola Calipari hatte Sie eben erst in Bagdad am vereinbarten Übergabeort in Empfang genommen…

Sgrena: Ich habe ihn praktisch nur eine halbe Stunde lang gekannt. Als mich meine Entführer kurz vor der Übergabe mit verbundenen Augen in dem Auto sitzen ließen, empfand ich schreckliche Angst. Sie haben mich mit den Worten ausgesetzt: »Zehn Minuten. Dann kommen sie dich holen Dann waren sie weg. Ich begann die Sekunden zu zählen. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern. Ich wusste ja, dass der Moment der Übergabe der gefährlichste war. Ich saß da. Ich sah nichts. Ich hörte Autos. Ich hörte einen Hubschrauber. Ich hörte Sirenen. Alles, was man normalerweise in Bagdad hört. Aber ich konnte nichts sehen.

Ich war in Panik. Plötzlich hörte ich, wie die Tür aufging, und dann eine Stimme: »Giuliana! Giuliana! Ich bin es, Nicola! Du bist frei! Mach dir keine Sorgen, du bist frei! Komm mit mir. Mach dir keine Sorgen! Du bist sicher! Wir können gehen, komm, komm Er half mir aus dem Wagen und brachte mich in ein anderes Auto.

Nicola war so direkt, so schlicht, so einfach. Ich habe ihn nie vorher getroffen. Und da war er – wie ein Freund, ein langjähriger Freund, der dir Sicherheit vermittelt, auch noch in den schlimmsten Momenten deines Lebens. Es war ein wunderschönes Gefühl.

»Ich setze mich neben dich, da fühlst du dich sicherer, sagte er. Er hat mir von meiner Familie erzählt, von meiner Zeitung, von meinem Mann. Er hatte mit ihnen allen Kontakt. Er hat mir alle Angst genommen. Er war so herzlich! Danach ist er gestorben, um mir das Leben zu retten.

ZEIT: Die US-Armee spricht von einem Unfall. Wie sehen Sie das?

Sgrena: Ich bin empört darüber, dass man das einen Unfall nennt. Wenn sie uns Zeichen gegeben und wir sie nicht verstanden hätten, dann könnte man von Unfall sprechen. Aber wenn einfach drauflosgeschossen wird, dann kann man doch nicht von Unfall sprechen – oder?

ZEIT: Es kann durchaus sein, dass die Soldaten des Panzerwagens nicht Bescheid wussten…

Sgrena: Das kann sein. Aber dann bleibt immer noch die Frage, wer sie hätte informieren müssen. Irgendjemand ist verantwortlich. Unsere Ankunft war doch nicht irgendeine Sache. Um ein Beispiel zu nennen: Nach dem Ende des Beschusses hat sich unser Fahrer direkt mit Palazzo Chigi (Sitz des italienischen Ministerpräsidenten; Anm. d. Red.) in Verbindung gesetzt, dort saßen Berlusconi und der verantwortliche Minister. Also, ich meine, wenn selbst Palazzo Chigi informiert war, wenn es dauernden Kontakt zu den höchsten Stellen unseres Staates gab, dann soll ich glauben, dass die US-Armee nicht wusste, dass wir am Bagdader Flughafen ankommen? Die Soldaten haben dem Fahrer übrigens das Telefon abgenommen, während er mit Palazzo Chigi telefonierte.

ZEIT: Meinen Sie damit, dass es Vorsatz gewesen sein könnte?

Sgrena: Das kann ich nicht sagen. Es geht mir darum, die Wahrheit zu erfahren. Wenn man einfach nur von einer fatalen Verkettung von Umständen spricht, von einem Unfall also, dann trägt am Ende keiner die Verantwortung. Das kann und darf nicht sein. Man ist es auch Nicola schuldig, dass man diesen Vorfall aufklärt.

ZEIT: Ihr Mann soll gesagt haben, dass Sie über bestimmte Informationen verfügten. Das klang sehr nach Verschwörungstheorie.

Sgrena: Da ist er falsch verstanden worden. Ich habe keine besonderen Informationen. Das Einzige, was ich gesagt habe, ist, dass meine Entführer sich mit den Worten verabschiedeten: »Nimm dich vor den Amerikanern auf dem Flughafen in Acht Klar, dass mir das im Nachhinein anders erscheinen konnte als in dem Moment, als ich es gehört habe.

ZEIT: Sie halten die Warnungen von Terroristen für glaubwürdiger als die Auskünfte der Amerikaner?

Sgrena: Ich hatte nicht deswegen vor den Amerikanern Angst, weil ich dachte, dass sie mir persönlich nachstellen würden. Ich hatte Angst, weil die Amerikaner im Irak gefährlich sind. Wir wissen, dass jeden Tag Iraker so umkommen, wie Nicola umgekommen ist. Wir wissen auch, dass die USA die Politik der Italiener oder Franzosen bei Entführungen ablehnen. Sie sind gegen jede Verhandlung mit Geiselnehmern. Und schließlich wissen wir auch, dass die USA im Irak alles zu verhindern suchen, was nicht in ihrem Sinne ist. Wenn ich das alles zusammennehme, bekommt der Satz meiner Entführer doch einen etwas sinistren Beigeschmack. Ich denke nicht, dass der Beschuss unseres Wagens gegen mich persönlich gerichtet war.

ZEIT: Was Sie über die Amerikaner sagen, klingt arg antiamerikanisch...

Sgrena: Ich weiß. Aber ich fordere alle, die mich des Antiamerikanismus bezichtigen, auf, selbst in den Irak zu fahren. Sie sollen mit eigenen Augen sehen, was dort geschieht. Es ist zu einfach, mich des Antiamerikanismus zu bezichtigen. Wenn ich heute nicht einmal mehr in den Irak fahren kann, um meiner Arbeit nachzugehen, wenn ich es nur in Begleitung von Soldaten tun kann, lässt sich das nicht als Beispiel von Pressefreiheit bezeichnen und auch nicht als Zeichen von Freiheit. Schließlich haben Amerikaner auf mich geschossen. Sie haben Nicola getötet, und er war bestimmt kein Antiamerikaner.

ZEIT: War Ihnen klar, wer Sie entführt hat?

Sgrena: Nein. Sie nannten sich Mudschahedin. Ich habe mehrmals versucht, mit ihnen zu sprechen, um zu verstehen, wer sie sind. Bevor sie das Video aufzeichneten, nannten sie sich einfach Irakischer Widerstand. Sie sagten zu mir: »Wir wollen unser Land von den Besatzern befreien, wie die Vietnamesen, wie die Algerier

Ich antwortete: »Das sagt ihr gerade zu mir, die ich das vertreten habe, bevor ihr überhaupt auf der Welt wart

ZEIT: Haben Sie mit Ihren Entführern über Politik diskutiert?

Sgrena: Nein, darum ging es nicht. Wie hätte ich das auch tun können? Ich habe einen Monat lang wirklich nicht gewusst, ob sie mich umbringen würden oder nicht. Ich habe damit gerechnet, jeden Tag. Da kann man keine politischen Diskussionen führen.

Ich habe mit ihnen geredet, weil ich eine Verbindung herstellen wollte. Ich musste begreifen, welchen Spielraum ich hatte. Wenn ich einen hatte, wollte ich ihn erweitern.

ZEIT: Wussten die Entführer, wen sie entführt hatten?

Sgrena: Nein, das wussten sie nicht. Ich war für sie am Anfang eine ausländische Journalistin. Sie haben erst mit der Zeit mitbekommen, wer ich bin. Wenn ich Kraft hatte und wütend wurde, habe ich versucht, sie herauszufordern. »Warum habt ihr gerade mich entführt? Ich bin doch gegen diesen Krieg Darauf sagten sie: »Das wissen wir! Aber wir sind im Krieg, und im Krieg ist jedes Mittel recht. Auch Entführung.« Sie haben mich nie mit dem Tod bedroht. Angst hatte ich trotzdem.

ZEIT: Wen meinen Sie mit »sie«?

Sgrena: Zwei Männer waren immer bei mir, immer dieselben. Andere sind gekommen und gegangen. Die beiden haben mir auch mehrmals gesagt: »Wir gehören nicht zu den Kopfabschneidern

ZEIT: Wenn sie Ihren Tod also nicht wollten, wollten sie dann nur Geld?

Sgrena: Am Anfang sagten sie mir: »Du musst in dem Video den Rückzug der Truppen fordern Ich antwortete ihnen: »Da könnt ihr mich gleich umbringen, meinetwegen werden die Truppen nicht abgezogen. Wenn ihr wirklich etwas erreichen wollt, dann müsst ihr euch nicht an die Regierung wenden, sondern an das Volk. Denn das italienische Volk will diese Besatzung nicht Ich glaube, dass sie dieses Argument verstanden haben. Tatsächlich habe ich mich dann in dem ausgestrahlten Video auch an das italienische Volk wenden können.

ZEIT: Haben die Entführer von der Solidaritätswelle in Italien erfahren?

Sgrena: Das haben sie. Sie haben die Demonstrationen in Italien gesehen und sich gefreut – sie waren darüber fast begeistert. Sie sagten mir: »Wir wollen dich nicht umbringen, wir wollen dich benutzen Erstaunlicherweise wollten sie, dass ich mich im Video auf meine Familie beziehe. Sie fragten mich, ob ich verheiratet sei. Als ich ja sagte, wollten sie, dass ich mich direkt an meinen Mann wende. Dann fragten sie, ob ich Kinder habe. Als ich verneinte, schüttelten sie erstaunt den Kopf und fragten: »Was? Und er hat dich nicht verstoßen

Das scheint verrückt, aber so kamen wir ins Gespräch. »Was macht dein Mann, wollten sie wissen. Als ich antwortete, er arbeite in der Werbung, waren sie hoch erfreut. »Ja, dann kann er uns doch helfen, unser Anliegen darzustellen Und ich: »Das sagt ihr mir? Ich habe auf meinem Buchcover ein von Amerikanern verletztes Kind in Falludscha abbilden lassen Sie meinten: »Das ist eine gute Idee! Du musst über die Kinder von Falludscha reden, die Kinder, die von den Cluster-Bomben verletzt wurden

ZEIT: Was hat die große Solidarität bei Ihnen und den Entführern ausgelöst?

Sgrena: Ich habe wenig mitbekommen. Ich habe am zweiten Tag meiner Entführung eine kurze Nachricht im Fernsehen sehen dürfen. Ein Foto von mir hing am Kapitol. Das hat mir sehr, sehr geholfen. Danach allerdings kam gleich die Ankündigung des Islamischen Dschihad, dass ich hingerichtet werden würde. Das hat mich wieder zu Boden geworfen.

Die Entführer haben mir ab und zu etwas erzählt. Sie haben darüber gescherzt. Aber es war klar, dass sie diese Solidarität zu meinen Gunsten beeinflusst hat. Einer von ihnen war ein Fan des Fußballklubs AC Roma. Die Tatsache, dass er im Fernsehen sah, wie der Spieler Francesco Totti ein Trikot mit der Aufschrift »Befreit Giuliana!« trug, beeindruckte ihn. Ich denke, dass dies alles zu meiner Befreiung beigetragen hat. Meine Entführer haben sich am Ende bei mir mit den Worten entschuldigt: »Wir haben verstanden, wie sehr du in Italien geschätzt wirst

ZEIT: Kann man von einer Beziehung persönlicher Art zwischen Ihnen und den Entführern sprechen?

Sgrena: Nein, Beziehung nicht. Wir haben geredet. Ich habe versucht, sie kennen zu lernen, weil ich begreifen wollte, in wessen Hände ich geraten war. Meine Entführer waren hauptsächlich politisch motiviert, sie dachten politisch. Sie waren keine »Wilden«. Sie waren gebildet und hatten einen Sinn für Politik.

Auf persönlicher Ebene gab es viel härtere Auseinandersetzungen. Sie sagten mir Dinge wie: »Eine Frau muss still sein. Sie darf nicht in die Zimmer von Männern schauen. Sie darf sich nicht in den Hausfluren aufhalten. Sie muss mehr beten

Manchmal konnte ich meine Wäsche waschen. Sie kamen dann, um zu kontrollieren, ob ich es auch richtig gemacht hatte. Lauter solche Dinge. Ich habe versucht, die Rolle der schwachen Frau zu spielen. Es war ein tägliches Tauziehen.

Einer meiner Entführer gab immer den griesgrämigen Islamisten. Er sagte mir, dass ich zum Islam konvertieren solle. Er scherzte mit mir darüber: »Dein Mann wird dich schon verlassen haben, nach all der Zeit! Du musst hier bleiben und dir hier einen Mann suchen Ich merkte einfach, dass ich sie als westliche Frau neugierig machte. Sie waren sehr neugierig.

ZEIT: Noch einmal zur Motivation der Entführer: Ging es vor allem um Geld?

Sgrena: Sie haben mir gegenüber immer von politischen Motiven gesprochen. Aber ich denke, dass Geld auch eine Rolle gespielt haben muss. In meinem Fall wahrscheinlich beides. Meine Entführer gaben sich sehr religiös. Aber am Ende hat mir einer die Hand zum Abschied geschüttelt. Das würde ein Islamist nicht tun. Sie gehörten sicher nicht zur Gruppe al-Sarqawis.

ZEIT: Wie sehen Sie heute Ihre Arbeit angesichts dieser Erfahrung?

Sgrena: Ich muss einsehen, dass es heute im Irak nicht mehr möglich ist, meine Arbeit so zu machen, wie ich es will. Diese Leute wollen keine Ausländer mehr im Irak. Niemanden, keine Franzosen, keine Italiener, niemanden. Alle Ausländer sind für sie Feinde.

ZEIT: Stimmt es, dass Sie sich vor der Entführung besser geschützt fühlten als andere, weil Sie von Anfang an gegen den Krieg waren und sich immer bemüht haben, die Leiden der Iraker im Krieg darzustellen?

Sgrena: Ja, vielleicht. Das ist meine größte Niederlage, eine persönliche Niederlage. Ich habe immer versucht, den Menschen eine Stimme zu geben, die nicht für die Gewalt sind, die andere Wege suchen. Und das kann ich heute nicht mehr tun.

Ich bin entführt worden, weil ich das Hotel verlassen habe, eben weil ich verstehen wollte, was die Iraker denken. Die Menschen können nicht mehr frei mit mir sprechen. Das sagt ja auch vieles über die Besatzung aus. Man geht davon aus, dass die Besatzungsmacht die Lage kontrolliert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Soldaten der Besatzungsmächte kontrollieren gar nichts. Kein Journalist geht mehr aus dem Hotel.

ZEIT: Das bedeutet, dass keine Kommunikation mehr möglich ist zwischen dem Westen und den Irakern?

Sgrena: Es ist im Augenblick nicht möglich, im Irak als Journalist zu arbeiten und über die Situation zu berichten. Ich habe zu meinen Entführern gesagt: »Ihr verachtet unser Volk, dabei ist es gegen die Besatzung Ihre Antwort war: »Wir wissen das, aber wir müssen zuerst die Ausländer aus dem Land jagen

ZEIT: Entnehme ich Ihren Schilderungen eine gewisse Sympathie für die politischen Positionen Ihrer Entführer?

Sgrena: Nein, auf gar keinen Fall. Ich empfinde keinerlei Sympathie gegenüber meinen Entführern, sondern großen Zorn. Ja, ich bin gegen die Besatzung des Landes, aber ich bin dagegen, dass man Mittel wie die Entführung anwendet.

Ich war einen Monat lang in einem Zimmer gefangen. Das Licht war immer an, wenn es Strom gab. Ich konnte nicht schlafen. Ich musste meine Entführer um alles bitten, wirklich um alles. Ich empfinde Wut darüber.

ZEIT: Was bewegt Sie in diesen Stunden am meisten?

Sgrena: Der Tod von Nicola Calipari. Er war ja derjenige, der meiner Familie und meinen Kollegen in all den Wochen versichert hat, dass alles gut ausgehen würde. Er hat immer allen Mut gemacht. Jeder hat mir erzählt, welch ein außerordentlicher Mensch er gewesen war. Seinetwegen haben meine Angehörigen nie das Vertrauen verloren.

Die Fragen stellte Ulrich Ladurner