Semantische Verschiebung
Michel Warschawski (Leiter des
Alternative Information Center in Jerusalem): Antizionismus ist nicht Antisemitismus
Der israelisch-palästinensische Konflikt
verführt leicht zu religiösen oder
zumindest ethnischen Interpretationen. Er spielt sich auf einem Gebiet ab, das
die Wiege von Weltreligionen war und das viele "Heiliges Land"
nennen; der Zionismus wird oft als "Rückkehr" des jüdischen Volkes
ins Gelobte Land dargestellt, und seine Argumente schöpfen viel aus dem Bereich
tradierter Rechte, wenn nicht gar göttlicher Verheißung; Jerusalem ist dreifach
heilige Stadt und von Wallfahrtszielen übersät.
Die Allgegenwart der islamistischen
Kultur im arabischen Bewusstsein und in
der arabischen nationalen Kultur geht gleichfalls schwanger mit der
Konfessionalisierung eines Konflikts, der oft als Befreiung eines islamischen,
von Ungläubigen besetzten Bodens dargestellt wird. Dem muss die zionistische
Idee hinzugefügt werden, einen "jüdischen Staat" zu schaffen, und die
entsprechende permanente Strategie jüdischer Kolonisierung, die nicht ohne den
ethnischen Säuberungskrieg von 1948 auskam.
Es ist ein Verdienst Yasser Arafats, in
einem solchen Kontext alles Menschenmögliche getan zu haben, um den
israelisch-palästinensischen Konflikt in seiner politischen (und nicht
religiösen oder ethnischen) Dimension zu halten: nämlich die eines Kampfes für
nationale Befreiung und Unabhängigkeit, eines antikolonialen Kampfes um ein
Territorium und um nationale Souveränität.
Umgekehrt ist eines der größten
Verbrechen des ehemaligen Premierministers Ehud Barak, das religiöse Element in die Verhandlungen
eingeführt zu haben, indem er auf dem zweiten Gipfeltreffen von Camp David die
jüdische Souveränität über die Moscheenallee von Jerusalem auf der Grundlage
religionsgeschichtlicher Thesen gefordert hat. Diese irre Forderung war ohne
Zweifel einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch des Oslo- Prozesses. Die
Geschichte wird zeigen, ob sie nicht auch zum Auslöser eines Religionskrieges
im gesamten Mittleren Osten und eines weltweiten islamisch-jüdischen Konflikts
wird.
Der israelisch-palästinensische Konflikt
ist ein politischer Konflikt zwischen einer kolonialen Bewegung und einer
nationalen Befreiungsbewegung. Der Zionismus ist eine politische und keine
religiöse Ideologie, die darauf abzielt, die jüdische Frage in Europa durch die
Einwanderung in Palästina, seine Kolonisierung und die Schaffung eines
jüdischen Staates zu lösen. So haben seine Sprecher ihn immer definiert, von
Herzl bis Ben Gurion, von Pinsker
bis Jabotynski, die die Konzepte der Kolonisierung (Hityashvut) oder der Kolonien (Yishuv, Moshav) nie in einem negativ wertenden Sinne benutzt haben. Bis zum Aufstieg des Nazismus hat die
überwältigende Mehrheit der Juden weltweit den Zionismus verworfen, sei es als
Häresie (das war die Position der großen Mehrheit der Rabbiner und der
religiösen Juden), sei es als reaktionär (das war die Position der jüdischen
Arbeiterbewegung in Osteuropa), sei es als anachronistisch (so dachten die
emanzipierten oder assimilierten Juden in Mittel- und Westeuropa). In
diesem Sinne wurde der Antizionismus
immer als eine politische Position unter anderen verstanden, die dazu noch
ungefähr ein halbes Jahrhundert in der jüdischen Welt hegemonial war. Erst seit
etwa dreißig Jahren gibt es eine breite Kampagne, die mit unleugbarem Erfolg
versucht, nicht zur Kontroverse über die politische Sinnhaftigkeit
des Zionismus beizutragen, zur Analyse seiner Dynamik und seiner politischen
und moralischen Implikationen, sondern den Antizionismus zu delegitimieren,
indem er ihn mit Antisemitismus gleichsetzt.
Semantische Verschiebungen…
Wie jeder andere Rassismus negiert der
Antisemitismus (oder die Judenfeindlichkeit) den Anderen in seiner Identität
und in seiner Existenz. Der Jude ist, egal was er tut, egal was er denkt,
Hassobjekt bis hin zur Ausrottung, nur weil er Jude ist.
Der Antizionismus hingegen ist eine
politische Kritik an einer politischen Ideologie und Bewegung; er greift nicht
eine Menschengruppe an, sondern stellt eine bestimmte Politik in Frage. Wie
kommt man dann dazu, die politischen Ideen des Antizionismus mit der
rassistischen Ideologie des Antisemitismus gleichzusetzen? Eine europäische
Gruppe zionistischer Intellektueller hat die Lösung gefunden, indem sie das
Unterbewusste ins Spiel bringt und ein Konzept einführt, mit dem man alles
beweisen kann: nämlich das der
"semantischen Verschiebung". Wenn man den Zionismus anklagt
oder auch Israel kritisiert, dann geht es einem, manchmal unbewusst, nicht um
die Politik einer Regierung (der
Regierung Sharon) oder um den kolonialistischen Charakter einer
politischen Bewegung (des Zionismus) oder, mehr noch, den institutionalisierten
Rassismus eines Staates (Israel), sondern um die Juden. Wenn man sagt:
"Die Bombardierungen der Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen",
oder: "Die Kolonisierung ist eine
flagrante Verletzung der Vierten Genfer Konvention", meint man in
Wirklichkeit: "Das jüdische Volk ist verantwortlich für den Tod von Jesus
Christus" und "Tod den Juden"!
Natürlich kann man auf ein solches
Argument nichts erwidern, denn jede Antwort wird, vielleicht unbewusst, zur
Verteidigung des Antisemitismus. Das Argument der Bedeutungsverschiebung und
der Rückgriff auf das Unterbewusste in der politischen Polemik beendet jede
Möglichkeit der Debatte, egal zu welchem Thema im Übrigen. Die Verurteilung des
Kolonialismus wird zu einer Verurteilung des Engländers (oder des Franzosen
oder des Deutschen, je nachdem), seiner Kultur und seiner Existenz. Auch den
Antikommunismus gibt es nicht, er ist eine Wortbedeutungsverschiebung für den
Slawenhass. Wenn ich sage: "Ich mag keinen Camembert", denke ich in
Wirklichkeit: "Tod den Franzosen!"; wenn ich erkläre, jiddische Musik
zu mögen, sage ich mittels semantischer Verschiebung, dass ich die Araber
hasse…
Der Antisemitismus existiert und scheint
in Europa wieder sein Haupt zu erheben — nach einem halben Jahrhundert der
Ächtung in Folge des Grauens des Völkermords an den Juden durch die Nazis und der Verbrechen der
Kollaboration. Bei einem wachsenden Anteil der arabisch-moslemischen Gemeinden
in Europa nehmen rassistische Verallgemeinerungen zu, werden unterschiedslos
die Juden für die Verbrechen verantwortlich gemacht, die der jüdische Staat und
seine Armee verüben. Im Übrigen findet sich der Antisemitismus oft im selben
Lager wieder, das die israelische Politik bedingungslos unterstützt, so z.B.
unter den fundamentalistischen
protestantischen Sekten, die in den USA die wirkliche proisraelische Lobby darstellen.
Der antiarabische Rassismus existiert
ebenfalls, nur räumen die Medien den drastischen Polemiken des Beitar und der Jüdischen Verteidigungsliga gegen die
islamischen Institutionen oder gegen Organisationen, die sich der israelischen
Kolonisierungspolitik widersetzen, wenig Platz ein — oder den Parolen, die die
Häuserwände gewisser Viertel in Paris verunzieren ("Tod den Arabern",
"Keine Araber, keine Anschläge") oder den organisierten Ausschreitungen
zionistischer Kommandos.
Der antiarabische und der antijüdische
Rassismus müssen beide ohne Zugeständnisse verurteilt und bekämpft werden, und
das kann man wirksam nur machen, wenn man sie frontal bekämpft, sonst verstärkt
man die verbreitete Idee, hinter der Verurteilung des einen Rassismus stecke
faktisch ein Angriff auf die andere Menschengruppe.
Diejenigen, die tatsächliche oder durch
"Wortbedeutungsverschiebung" unterstellte antisemitische Handlungen verurteilen und zu antiarabischen
Exzessen schweigen, machen sich mitverantwortlich für die Kommunitarisierung
und Ethnisierung der Köpfe und für die Verstärkung des Antisemitismus, denn sie
bekämpfen nicht den Rassismus überhaupt, egal von wem er ausgeht und gegen wen
er sich richtet, sondern ausschließlich den Rassismus der anderen. Sicher sind
nicht sie es — die Tarnero, Lanzmann und anderen Tagieffs —
die das Recht hätten, der radikalen Linken und der Bewegung gegen die
marktradikale Globalisierung, die immer an der Spitze antirassistischer Kämpfe
standen und keinen dieser Kämpfe im Stich lassen, irgendwelche Lehren zu
erteilen.
…und reale Komplizenschaft
Doch gehen wir einen Schritt weiter.
Ein wichtiger Teil der Verantwortung für
das Übergleiten von der Kritik an der israelischen Politik zu antisemitischen Haltungen
ruht auf den Schultern eines Teils der
oft selbsternannten Vorstände der
jüdischen Gemeinden in Europa und in den USA. Tatsächlich sind sie es, die sehr
oft die jüdische Gemeinde als solche mit
einer bestimmten Politik gleichsetzen — nämlich der einer bedingungslosen
Unterstützung der politischen Führung
Israels. Wenn sie, wie in Straßburg, dazu aufrufen, ihre Unterstützung
für Sharon auf dem Vorplatz einer Synagoge zu demonstrieren, wen wundert es
dann, wenn die Synagoge zur Zielscheibe von Demonstrationen gegen die
israelische Politik wird?
Und was soll man von den kommunitaristischen Sprechern der jüdischen Gemeinde in
Frankreich sagen, die den Wahlerfolg Le Pens "verstehen" und
"hoffen, dass er die arabische Gemeinde in Frankreich zum Nachdenken
bringt"?
Kann man in dieser Haltung die
Komplizenschaft mit dem Mann übersehen, der in Frankreich am meisten die
rassistische — und so auch die
antisemitische — Ideologie verkörpert? Eine
Komplizenschaft, die die Zusammenarbeit extrem rechter Organisationen wie des Beitar
mit faschistischen und antisemitischen Gruppen wie Occident
aus den 70er Jahren fortsetzt… Hier
handelt es sich nicht mehr um semantische Verschiebung, sondern um ein
abgekartetes Spiel.
Die israelische Politik wird weltweit von
vielen kritisiert, und je mehr der jüdische Staat außerhalb des Rechts handelt,
desto mehr wird er als gesetzlos betrachtet werden und den entsprechenden Preis dafür bezahlen. Es ist
völlig unakzeptabel und unverantwortlich, dass solche jüdischen Intellektuellen,
die wie die Vorstände jüdischer Gemeinden in aller Welt eine absolute Identifikation mit Israel zur Schau
tragen, letztere mit in den Abgrund ziehen, auf den Ariel Sharon und seine Regierung zustreben.
Im Gegenteil, wenn sie wirklich von der
Sorge um die Gemeinschaft bewegt wären, in deren Interesse sie zu sprechen
vorgeben, würden sie ihr Möglichstes tun, um die barbarischen Akte des
israelischen Staates zu demaskieren und die dramatischen Konsequenzen
aufzuzeigen, die diese Handlungen früher
oder später für eine nationale hebräische Existenz überhaupt im Nahen Osten
nach sich ziehen werden.
Dadurch würden sie
Verantwortungsbewusstsein auch gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in Israel
an den Tag legen: Wäre es nicht besser, wenn sie, statt dem israelischen
Draufgängertum zu schmeicheln und zur wachsenden selbstmörderischen Verblendung
der israelischen Führung und Bevölkerung beizutragen, und statt mit Lanzmann zu
schreien: "Immer bedingungslos mit Israel", als Schutzwall fungierten
und Sharon und seine Regierung vor den dramatischen Konsequenzen seiner Politik
warnten?
Sind sie so blind, nicht zu sehen, dass
die Straffreiheit, derer sich Israel bei bestimmten politischen und
weltanschaulichen Strömungen in Europa und Nordamerika erfreut, nur die andere
Seite des Antisemitismus und seines Arsenals "jüdischer
Besonderheiten" ist? Sind sie so stumpfsinnig nicht zu begreifen, dass für
viele sogenannte Freunde Israels die Haltung des Gewährenlassens gegenüber dem jüdischen Staat Ausdruck
eines Zynismus ist, der die Juden gern frontal gegen die Wand laufen sieht? Und
dass im Gegenteil denjenigen, die Israel —
und manchmal hart — kritisieren, das Leben und Überleben seiner
Bevölkerung wirklich am Herzen liegt?
Ariel Sharon, seine Minister, seine Generäle,
seine Richter und ein Teil seiner Soldaten werden sich eines Tages vor dem
Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen oder sogar für Verbrechen
gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Damit dann nicht die gesamte
israelische Bevölkerung auf der Anklagebank sitzt, gibt es in Israel Tausende
Männer und Frauen, Zivilisten und Soldaten, die "Nein" sagen, die
Widerstand leisten und in Opposition gehen.
Um die Juden der Welt vor dem Vorwurf der
Mitverantwortlichkeit zu schützen, um der antisemitischen Propaganda den Boden
zu entziehen, die die Leiden der Palästinenser instrumentalisiert, um jeden
Juden, nur weil er Jude ist, für schuldig zu erklären, um der Kommunitarisierung und Ethnisierung des
israelisch-palästinensischen Konflikts einen Riegel vorzuschieben, ist es
unbedingt notwendig, dass sich eine mächtige und feste Stimme innerhalb der
jüdischen Gemeinden Gehör verschafft, die sagt, was der Name einer US-
amerikanischen jüdischen Organisation ausdrückt, die sich diesem Ziel
verschrieben hat: "Nicht in unserem Namen!"
Es ist natürlich auch die Pflicht der
demokratischen und linken Organisationen auf der ganzen Welt, die Verbrechen
Israels ohne jede Konzession zu verurteilen, nicht nur weil die Verteidigung
der Unterdrückten und Kolonisierten, welcher
auch immer, integraler Bestandteil ihres Programms und ihres Denkens
ist, sondern auch weil nur eine klare und mit den anderen Kämpfen, die sie
führen, kohärente Position es ihnen ermöglicht, den Kommunitarismus und Rassismus
in ihrem eigenen Land zu bekämpfen.
Sich von der Erpressung mit dem
Antisemitismusverdacht abschrecken zu lassen, zu schweigen, um sich nicht der
Anklage auszusetzen, man leiste "dem Antisemitismus Vorschub" oder sei gar "unbewusst
antisemitisch", kann letztlich nur den wirklichen Antisemiten zugute
kommen oder zumindest die identitäre und kommunitaristische Verwirrung fördern.
Die wirkliche antirassistische und
antikolonialistische Linke braucht nicht erst zu beweisen, dass sie im Kampf gegen
die antisemitische Pest steht. Sie wird diesen Kampf desto wirksamer
fortführen, je klarer und unzweideutiger sie zu
den Kriegsverbrechen Israels und zu
seiner Kolonisierungspolitik Stellung bezieht.
(Quelle: “Sozialistische
Zeitung“, September 2002