Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:

 

Am 6.November 2004 fand in Rom, auf Initiative der autonomen Disobbedienti (Ungehorsamen), verschiedener Basisgewerkschaften (Confederazione Cobas, CUB, RdB etc.) und diverser linker Gruppen und Organisationen eine landesweite Demonstration gegen die immer weiter zunehmende prekäre Beschäftigung und die prekäre finanzielle Situation auch von Erwerbslosen, alten Leuten mit geringen Renten und Anderen statt. Vor der Demonstration am vom Bündnis ausgerufenen „San Precario“ (Namenstag eines „Heiligen der Prekären“) kam es zu einer selbstorganisierten Preisreduzierungsaktion in einem großen Supermarkt der Panorama-Kette, bei der einige Artikel auch ganz ohne zu bezahlen mitgenommen wurden. Während der Demonstration schloss sich eine „Enteignungsaktion“ in einer Filiale der linksliberalen Feltrinelli-Buchhandlungskette an, die sich im Gegensatz zu ersten spontan entwickelte. Beides sorgte für große Schlagzeilen. Während die „Enteignungsaktionen“ von fast allen Zeitungen scharf verurteilt wurden, erkannten die großen bürgerlichen Zeitungen jedoch, angesichts der fortschreitenden Verarmung bedeutender Teile der Bevölkerung, zugleich auch akuten politischen Handlungsbedarf an. Bereits vorher hatte es ähnliche Aktionen in Mailand und Neapel gegeben, danach auch zwei in Bologna und Florenz. Während der 70er Jahre waren „proletarische Enteignungen“ (tatsächliche „Enteignungen“) eine Weile lang weit verbreitetes Mittel in den sozialen Kämpfen insbesondere linker Jugendlicher.

 

Grund dafür, dass auch Feltrinelli (dessen Filialleitung zunächst angekündigt hatte, auf eine Anzeige verzichten zu wollen) die Polizei einschaltete, war nicht zuletzt der Druck staatlicher Stellen und der Zeter & Mordio schreienden Rechtsparteien von Berlusconis Regierungskoalition. Erleichtert  wurde diese Repression allerdings auch durch die umgehende Distanzierung der Parteiführung von Rifondazione Comunista, die im Rahmen ihres Rechtschwenks um jeden Preis ihre „Regierungsfähigkeit“ unter Beweis stellen will. Noch vor Jahresfrist hatte sie sich bei anderen „Gesetzesverletzungen“ (z.B. dem „Trainstopping“ der Anti-Kriegs-Bewegung) solidarischer verhalten. Bemerkenswert ist allerdings auch das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft, die sich – eine Ausweitung des sozialen Widerstandes befürchtend – an atemberaubenden juristischen Winkelzügen versuchen. Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ fasste am 13.1.2005 die Aktionen und den Repressionsversuch zusammen. Das ist auch jetzt (Anfang März 2005) noch immer der aktuelle Stand.

 

Einkauf am San Precario:

58 Anzeigen wegen Raubes

 

Die Staatsanwaltschaft will auch D’Erme und Casarini wegen der sog. „Enteignungen“ im Panorama-Supermarkt und der Feltrinelli-Buchhandlung anklagen. Verhaftungen vom Untersuchungsrichter abgelehnt. Der Staatsanwalt legt den Rückwärtsgang ein. Schnelles Urteil angestrebt. In Neapel Ermittlungsverfahren gegen 8 Personen wegen Erpressung bei Intercoop, darunter Caruso.

 

ALESSANDRO MANTOVANI – ROM

 

58 Benachrichtigungen über eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zu schwerem Raum sind der erste Schritt zu einem Maxi-Prozess, der in Kürze im Schnellverfahren stattfinden könnte. So reagierte die Staatsanwaltschaft von Rom auf den „sozialen Einkauf“ vom 6.November, dem San Precario-Aktionstag im Verbrauchermarkt Panorama und in der Buchhandlung Feltrinelli. In Neapel – teilt der Disobbediente Francesco Caruso mit – wurden 8 weitere Personen (darunter Caruso selbst) wegen schwerer Erpressung angezeigt. Grund ist ein Vorfall einige Tage zuvor (am 27.Oktober 2004) im Ipercoop in Afragola: „Die Filialleitung“, erinnert sich Caruso, „überließ uns 200 Kilo Pasta, die wir vor dem Großmarkt an die bedürftigsten Familien verteilten. Und das soll Erpressung gewesen sein ?“

 

Unter den 58 Personen, gegen die in Rom ermittelt wird, sind <der Kopf der nordostitalienischen Disobbedienti> Luca Casarini und der <seinerzeit auf der Liste von Rifondazione Comunista Rom gewählte> Disobbediente-Stadtrat Nunzio D’Erme. Die Aufnahme in das Register derjenigen Personen, gegen die ermittelt wird, datiert in Neapel vom 9.November. Sie fand also mitten im politisch-medialen Cancan <galoppartigen Volkstanz> über die „Rückkehr der proletarischen Enteignungen“ in Rom statt, wo das Verfahren wegen schweren Raubes anhängig ist, was in der Theorie 20 Jahre bedeuten kann. Staatsanwalt Salvatore Vitello hatte für 13 Beschuldigte Hausarrest und für andere regelmäßiges Melden im örtlichen Polizeikommissariat beantragt, was vom Untersuchungsrichter Guglielmo Muntoni allerdings abgelehnt wurde. Dem Anschein nach, weil der Richter die Notwendigkeit von Vorbeugungsmaßnahmen wegen Wiederholungsgefahr bei diesen Delikten nicht gesehen hat. Vom Staatsanwalt wurde dagegen jedoch Beschwerde beim Berufungsgericht eingelegt. Darüber wird in einem Monat entschieden. Die Polizei wurde mit den Vernehmungen der 58 beauftragt – eine Bedingung für das Beantragen eines sofortigen Urteils, das vom Gesetz dann vorgesehen ist, „wenn die Beweislage eindeutig erscheint“. Wenn dies eingeräumt wird, wird sofort zur Gerichtsverhandlung übergegangen.

 

In Rom nahmen am 6.November Hunderte von Aktivisten an einer selbstorganisierten Preisreduzierungsaktion im Verbrauchermarkt an der Via Tiburtina teil und begannen Verhandlungen mit der Filialleitung, um 70% Preisnachlass zu erhalten. Dann verließen einige von ihnen den Supermarkt, ohne zu bezahlen, mit ungefähr 10 Einkaufswagen. Darin: Lebensmittel und Kleidung, aber auch Personalcomputer (zwei, die sofort zurückgebracht wurden) und vielleicht einige Videokameras. So platzten die Verhandlungen in einer großen Konfusion von Einkaufswagen, die rausgeschoben wurden und wieder zurückkehrten. Später, als sich der Demonstrationszug von mehr als 10.000 Prekären auf der Höhe der piazza Torre Argentina befand, betrat eine kleine Gruppe die Filiale der Buchhandlungskette Feltrinelli, um – im Zeichen des Protestes gegen das geistige Eigentum – kostenlos eine „Piraten“-DVD zu verteilen, während Dutzende von Leuten (einige davon vermummt) eine große Anzahl Bücher und DVD’s zusammenrafften. Panorama beklagte einen Fehlbetrag von 30.000 Euro, Feltrinelli von 18.000 Euro. So hohe Zahlen, dass sie sogar bei der Polizei einige Verblüffung hervorriefen. Die <Politische Polizeibehörde> DIGOS (Abteilung für Allgemeine Ermittlungen und Spezialoperationen), die sofort nach den Demonstranten bei Panorama und Feltrinelli eintraf, griff nicht ein, um größeren Ärger für die öffentliche Ordnung zu vermeiden. Der wenige Tage danach von Alleanza Nazionale (AN) im Senat dazu aufgeforderte Innenminister Giuseppe Pisanu <Forza Italia> rechtfertigte das Verhalten der Polizeibeamten, erklärte jedoch, er habe „Anweisung“ gegeben, „damit in Zukunft bei ähnlichen Fällen Verhaftungen auf frischer Tat vorgenommen werden“.

 

Am 6.November selbst gab es bereits eine erste Liste von 68 Aktivisten, die im Panorama-Markt anwesend waren. Später, nach Auswertung der Filme des Erkennungsdienstes und einer RAI-Journalistin <Anm.1>, die natürlich von den angeblichen Räubern selbst herbeigerufen wurde, plus den Filmen der Videokameras innerhalb und außerhalb der Feltrinelli-Buchhandlung konnte die DIGOS im Fall von rund 30 Römern die jedem einzelnen zugeschriebenen, spezifischen Vergehen benennen. Es gibt den, der Champagner trank; jenen, der mit einem Schinken im Einkaufswagen den Laden verließ und denjenigen, der schlicht das Megaphon benutzte, um mit den Kunden, den Beschäftigten und den Aktivisten zu kommunizieren. Die Anderen wurden von den DIGOS-Einheiten in verschiedenen Städten identifiziert. Weitere Überprüfungen stehen noch an. Sodann gibt es einen Römer, der von einem Panorama-Kassierer wiedererkannt wurde und von ihm beschuldigt wird, mit der Faust auf ihn eingeschlagen zu haben. Er wird sich auch wegen Körperverletzung verantworten müssen. Und ein Venezianer, der einen Fingerabdruck auf einer Vitrine hinterlassen habe. Es handelt sich fast vollständig um Römer, ausgenommen eine Gruppe von Turinern und einem Dutzend Mailänder und Venezianer. In diesem Haufen befinden sich sogar diejenigen, die die Einkaufswagen zurückbrachten.

 

Die sog. „Enteignungen“ haben das Innenministerium und die Geheimdienste alarmiert, die bereits mit der Beobachtung dieses und anderer Gärstoffe sozialer Konfliktbereitschaft befasst sind, die als „subversive Infiltrationsversuche“ abgestempelt werden. So hat sich auch der Generalstaatsanwalt beim Berufungsgericht, Francesco Favara, bei der Eröffnung des neuen Gerichtsjahres geäußert. Nachdem nach Rom auch in Neapel die juristische Offensive gestartet wurde, ist dies auch in Mailand geschehen. Nach dem 6.November wurden 21 Anzeigen wegen einer am 30.Oktober 2004 in einem Esselunga-Supermarkt durchgeführten Aktion gemeldet, wobei alle Beschuldigten auf freiem Fuß blieben. Die Mailänder DIGOS vermutet, aufgrund eines Vorfalls, der sich in absoluter Gelassenheit abspielte, mit Kunden und Beschäftigten, die die Fragebögen zur Prekarität ausfüllten (wie von den Aktivisten auch in einem von der regionalen Nachrichtensendung des dritten <öffentlich rechtlichen> Fernsehkanals dokumentiert wurde) Körperverletzung, Diebstahl, unrechtmäßige Aneignung, Sachbeschädigungen, schwere Nötigung und eine unerlaubte Demonstration.

 

Wiederum in Mailand, der Stadt, in der die Bewegung der Prekären mit dem May Day am 1.Mai und der Selbstorganisation der Chainworkers (den Beschäftigten der Handelsketten) entstand, traf unmittelbar nach dem Aktionstag in Rom <am 6.11.2004> die Mitteilung <bei den im Jahr 2001 Beschuldigten> ein, dass die Ermittlungen wegen einer Aktion im März 2001 eingestellt wurden als die Chainworkers den ersten May Day starteten.

 

 

Anmerkung 1:

RAI ist die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt Italiens, die u.a. drei Fernsehkanäle und drei Radioprogramme betreibt.

 

Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover