Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Auch in der Schweiz ist die Neonazi-Szene in den letzten Jahren spürbar stärker und offensiver geworden. Das zeigte sich nicht zuletzt bei den zentralen Rütli-Feiern zum Schweizer Nationalfeiertag am 1.August in Brunnen. Wie bereits im letzten Jahr waren die Nazis rund um ihre organisatorischen Kerne Nationale Offensive (Naziskins) und die 2001 gegründete Partei National Orientierter Schweizer – PNOS – (die an die Tradition der Nationalen Fronten der 30er Jahre anzuknüpfen versucht) dort auch dieses Jahr wieder in bedeutender Anzahl vertreten. Dabei profitierten sie auch von der Verharmlosung und – zu einem kleineren Teil – von der direkten Unterstützung seitens staatlicher Stellen. Die politischen Entwicklungen in der Schweiz, wo mit dem Führer der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Großkapitalisten Christoph Blocher seit Dezember 2003 ein Rechtspopulist (und zugleich der Führer der mit 27% stärksten Partei der Schweiz) Mitglied der Regierung ist, gehen hierzulande des öfteren unter. Deshalb und weil nur ein Blick über den eigenen Gartenzaun eine Einschätzung der allgemeinen Entwicklung der radikalen Rechten ermöglicht, dokumentieren wir hier zwei Artikel zum PNOS-Aufmarsch bei der Rütli-Feier. Sie stammen aus dem „Vorwärts“, der Wochenzeitung der Partei der Arbeit (PdA), d.h. der ehemaligen KP der Schweiz, die heute allerdings eher linkssozialdemokratisch ausgerichtet ist (www.pda.ch/vorwaerts/). Weitere Infos zum Thema finden sich auch unter: www.antifa.ch

Der erste Artikel mit der Vorberichterstattung erschien im „Vorwärts“ vom 23.7.2004:

 

Brauner Sumpf auf geheiligter Wiese

 

san. Am Nationalfeiertag gehören Neonazis seit einigen Jahren zum festen Rütli-Inventar. Doch dieses Jahr besetzt Willhelm Tell das Rasenstück, und das kostet Eintritt. Die „unheimlichen PatriotInnen“ werden trotzdem kommen.

 

Für den ersten August wünscht sich der neue Gemeindepräsident von Brunnen, Urs Koller, nichts weiter als ein „Geburtstagsfest des Landes“ und nicht einen „Tag der politischen Demonstrationen von extremen Gruppen“, denn der Nationalfeiertag bereite Koller „Bauchweh“ schrieb jüngst die Zeitung „Bote der Urschweiz“. Man beachte den Plural der Extremismen.

 

Brunnen? Die Gemeinde beschreibt sich selbst als „echte Heimat, wo viele Einwohner sich noch kennen, wo man sich noch grüsst und schätzt“. Das „stattliche Dorf“ liegt im Kanton Schwyz am Vierwaldstättersee. Brunnen hat einen Bootssteg. Von dort fahren Schiffe, unter anderem in Richtung Rütli. Und Brunnen figuriert auf einschlägigen Web-Seiten als Treffpunkt für den mittlerweile traditionellen Rütli-Ausflug der „nationalen Erneuerungsbewegung“.

 

Rütli-Chronik

 

Zur Erinnerung: Im Jahr 2000 kam es zu einem medialen Aufschrei als auf dem Rütli eine Hundertschar von Neonazis sich erdreistete, Bundesrat <d.h. Bundesminister> Kaspar Villinger niederzubrüllen. Doch schon in den Jahren zuvor standen Neonazis auf dem mystifizierten Rasenstück, vielleicht waren sie zahlenmäßig etwas weniger und im Benehmen gesitteter. Ab 2001 führte die Polizei, als Reaktion auf die „Schande vom Rütli“ (Zitat der damaligen „Blick“-Kampagne <= die Schweizer Variante der deutschen BILD-Zeitung>), vermehrt Kontrollen durch und beschlagnahmte auch einige Waffen. Auf dem Rütli wurden keine „Fantasiefahnen“ mehr toleriert, nur solide Schweizerkreuze und Kantonsflaggen. Die FahnenträgerInnen waren zwar oft stramm national gesinnt, verhielten sich jedoch wieder anständig. Getreu dem dichotomen Schema: Rechts gleich Ordnung und Disziplin, während Links für Zerstörung der Ordnung und für Chaos steht. Oder war jemals die Rede von rechten „ChaotInnen“, wenn diese einen Brandanschlag auf eine Asylunterkunft verübten, mit dem Sturmgewehr auf linke Häuser schossen oder ein alternatives Kulturzentrum verwüsteten? Nun standen die Braunen artig auf der Wiese, zu den Klängen der Nationalhymne reckten sie die Arme zum Kühnen-Gruss. Ähnelt dieser doch dem Rütli-Schwur: drei Finger statt der flachen Hand. In Deutschland gilt der Gruss als abgewandelter Hitler-Gruss, ist somit nationalsozialistische Symbolik und eine strafbare Handlung (Paragraph 86a des Strafgesetzbuchs).

 

In den folgenden Jahren strömten Neonazis und anverwandte „PatrotInnen“ zahlreicher auf die „heilige Wiese“, während die Entrüstung der Öffentlichkeit verebbte. 2002 machten sich, laut der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), bereits 300 Rechtsextreme auf der Rütliwiese breit, anschließend zogen sie „in Kolonnenformation und mit wehenden Fahnen“ durch Brunnen. Den 1.August 2003 bilanzierte die Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) wie folgt: „Man könnte von der Nationalen Opposition fast sagen: ‚Sie kam, sah und siegte!’ Es waren keine pöbelnden Glatzen auf der heiligen Wiese am Vierwaldstättersee, es waren junge aufrechte Patrioten, die sich gesittet und ruhig verhielten und zur allgemeinen Freude der Festbesucher sogar noch ein Ständchen sangen. Der Marsch durch Brunnen erfolgte nicht unter Buh-Rufen, sondern unter Jubel und Applaus der Bevölkerung.“ Zwar ist „Jubel und Applaus“ maßlos übertrieben, doch auf dem Rütli dominierten die PNOS-AnhängerInnen eindeutig die Szenerie, ohne dass es zu nennenswerten Reaktionen gekommen wäre. Sie stellten gemäß Polizeiangaben bereits 450 der über 1.400 BesucherInnen. Es kam zu peinlichen Interaktionen zwischen einem Redner, der ungehindert das Rednerpult kaperte und den „wahren Patrioten von der Fahnenburg“, wie dieser sie nannte. In Brunnen auf dem Schiffsteg hielt Holocaustleugner Bernhard Schaub eine Blut-und-Boden-Rede, stets darauf bedacht, im gesetzlichen Rahmen zu bleiben.

 

Gegenüber der Presse begründete die Schwyzer Kriminalpolizei ihr Nicht-Eingreifen damit, dass die Rede nicht auf öffentlichem Grund gehalten worden sei, sondern auf den Holzbrettern der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees. In Brunnen war die Stimmung unter den KundgebungsteilnehmerInnen so entspannt, dass der eine oder andere sogar noch Zeit fand, ein Eis zu schlecken. Die Grenzen zwischen der illegalen Versammlung und dem offiziellen Festbetrieb waren fließend. Kein Polizeikessel, keine Kontrollen, jedoch massive Präsenz. Ungehindert marschierten die „PatriotInnen“ Parolen skandierend über öffentlichen Grund die Bahnhofsstrasse hinab.

 

Tell besetzt die Wiese

 

Wer heuer auf das Rütli will, muss Eintritt bezahlen. Das Deutsche National Theater Weimar führt dort eine Galavorstellung des Theaterstücks „Wilhelm Tell“ auf. Das günstigste Ticket kostet 38 Franken, allerdings bedeutet dies einen Platz in der hintersten Wiesenecke. Die teuersten Plätze kosten 118 Franken. Die PNOS moniert eine Elitarisierung des Rütli, der „einfache Schweizer“ solle ausgeschlossen werden. Sie vermutet eine Verschwörung aus Regierungskreisen aus Angst, „das Volk“ könnte sich auf den „alten Kampfgeist der Eidgenossen“ zurückbesinnen. Letztes Jahr kündigte die PNOS bei der Demoauflösung am Bahnhof Brunnen an, am 1.August 2004 würden ihre Leute noch zahlreicher kommen und das Rütli ganz übernehmen. Die braunen Jungs und Mädels werden sich heuer wohl weniger ordentlich aufführen. Sie haben ihre Ankunft bereits angekündigt: „Mit oder ohne Eintrittskarte.“

 

CHRONOLOGIEN ZU RECHTSEXTREMEN ÜBERGRIFFEN UND VERSAMMLUNGEN: WWW:ANTIFA.CH / WWW:GRA.CH

 

 

Demo gegen Faschismus

 

san. Während die Neonazis auf das Rütli pilgern, findet in Luzern eine Gegendemo statt. Gerade am 1.August gelte es auf die Strasse zu gehen, schreibt das Antifaschistische Netzwerk, in dem sich Einzelpersonen überregional zusammengeschlossen haben. Eine „kraftvolle und friedliche Demonstration“ soll als Zeichen gegen das Erstarken der Neonazis und der Toleranz seitens des bürgerlichen Staates gesetzt werden.

 

GEGENDEMONSTRATION DES ANTIFASCHISTISCHEN NETZWERKS, SONNTAG 1.AUGUST, 13.30 UHR, THEATERPLATZ, LUZERN.

 

 

Die Nachberichterstattung erschien auf der Titelseite des „Vorwärts“ vom 6.8.2004:

 

Das Schweigen durchbrechen

 

rtp. Trotz der Tell-Aufführung feierten die PNOS und weitere unheimliche PatriotInnen den 1.August auf dem Rütli und marschierten danach durch Brunnen. Widerspruch zu den Rechten gab es außer der antifaschistischen Demonstration in Luzern nicht.

 

Die dem Aufruf der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) gefolgten Neonazis brachten den 1.August als erfolgreichen Tag hinter sich. Sie konnten einmal mehr ihren identitätsstiftenden Aufmarsch ohne große Probleme durchführen. Trotz der am Nachmittag stattfindenden Tell-Aufführung hielten sie auf dem Rütli ihre eigene Nationalfeier ab. Die Urner Polizei stand dabei brüderlich zur Seite und lieh den strammen NationalistInnen ein Megaphon aus – obwohl ihre Schwyzer Kollegen in Brunnen mitgebrachte Megaphone beschlagnahmt hatten. Solche werden in der Hausordnung der Rütlikommission explizit untersagt. Der Aufmarsch der Neonazis hat sich mit diesem Jahr endgültig etabliert. Weder auf dem Rütli noch in Brunnen stießen sie auf vernehmbaren Widerstand. Nur wenige ansässige Personen wehrten sich gegen den wichtigsten Anlass der nationalen Neonaziszene. Eine lokale Unterschriftensammlung gegen den Aufmarsch in den Wochen vor dem 1.August ist bis anhin die einzige öffentlich bekannte Unmutsäußerung.

 

Hausdurchsuchungen

 

Die Polizei war während des Sonntags als Innerschweizer Polizeikonkordat in der ganzen Region stark präsent. Der Marsch der Rechten durch Brunnen wurde aber, ebenso wie die Gegendemo in Luzern, trotz fehlender Bewilligung nicht unterbunden. „Wenn keine Gesetzesverletzungen vorliegen, gibt es keinen Grund einen Marsch zu verhindern. Es herrscht das Recht auf freie Meinungsäußerung“, sagte Florian Grossmann von der Schwyzer Polizei dem „VORWÄRTS“ im Vorfeld. Personen, deren Aussehen die Polizei vermuten ließ, dass es sich dabei um linke AktivistInnen handelt, wurden aber den ganzen Sonntag hindurch kontrolliert, zum Teil mehrmals. Außerdem nahm die Polizei bereits am Freitagabend in Brunnen fünf Personen aus dem linken Umfeld in Untersuchungshaft, eine weitere Verhaftung folgte am Samstag. Bei vier der Verhafteten wurden ohne deren Wissen Hausdurchsuchungen durchgeführt. Ergebnisse wurden noch nicht veröffentlicht. Den Festgenommenen werden antifaschistische Sprayereien zur Last gelegt, die vor Ort das einzig sichtbare Zeichen des Protestes gegen die Neonazis darstellen sollten – bis sie noch vor dem Aufmarsch der Rechten entfernt wurden. Erst am Sonntagmittag wurden die Inhaftierten nach der Intervention eines Anwalts aus der Haft entlassen.

 

In einem Gespräch mit dem „VORWÄRTS“ sagte Brunnens Gemeindepräsident Urs Koller letzte Woche, er hoffe auf die Vernunft der Linken, am Sonntag in Brunnen nicht in Erscheinung zu treten. „Am besten ist es, den rechtsextremen Aufmarsch durch Nichtbeachtung ins Abseits laufen zu lassen“, erklärte Koller. Am Montag auf die Verhaftungen angesprochen, entgegnete der Gemeindepräsident, persönlich hätte er nichts dagegen gehabt, sowohl die Linken als auch die Rechten über das Wochenende hinter Gittern zu sehen, wenn damit das dorfeigene 1.-August-Fest in Ruhe über die Bühne gehen könne. Er hoffe, dass das mit dem Aufmarsch der Rechtsextremen jetzt einmal aufhöre. Trotzdem: „Die Rechtsextremen haben sich absolut anständig verhalten, auch wenn ich absolut keine Sympathien für sie hege“, meinte er weiter. Diese Anständigkeit sei den Linken zur Vertretung ihrer Anliegen auch anzuraten.

 

Mit diesen Aussagen ist Brunnens Gemeindepräsident beispielhaft für den Umgang der Behörden mit den Neonazis am 1.August. Sie sorgen sich vor allem um Ruhe und Image und sehen keinen Grund, sich mit dem Weltbild der marschierenden Rechtsextremen auseinanderzusetzen. Es wird alles getan, damit der Aufmarsch der Rechten ungestört vorübergeht. Was sich sichtbar den Neonazis entgegenstellt, wird wenn möglich entfernt – um sie nicht zu provozieren. Aus antifaschistischer Sicht ist dieses Verhalten erschreckend. Exemplarisch ist festzustellen: Das Unbeteiligtsein am Naziaufmarsch entschuldigt nicht die Tatenlosigkeit der Gemeinde Brunnen und anderer Behörden. Es erregt Besorgnis, dass es das sich als tolerant darstellende Städtchen noch immer nicht fertig bringt, dem Aufmarsch auf inhaltlicher oder politischer Ebene etwas zu entgegnen. Eine Auseinandersetzung dazu habe bis jetzt nicht stattgefunden, kritisieren vor Ort aktive Leute. Es wäre eben nicht naiv, wie vom Gemeindepräsidenten gegenüber dem „VORWÄRTS“ im Gespräch behauptet, durch ein antifaschistisch geprägtes Dorffest am 1.August offensiv den Neonazis und ihren Inhalten entgegenzutreten, sondern eine notwendige deutliche Absage an diese. Eine solche Botschaft würde nicht nur in Brunnen, sondern auch außerhalb wahrgenommen.

 

Für das nächste Jahr ist es deshalb notwendig, die aktiven Leute vor Ort in Brunnen in ihren Anstrengungen zu unterstützen, damit das tolerierende Schweigen der Behörden endlich durchbrochen werden kann.

 

Gegenmobilisierung

 

An diesem Wochenende hat sich als einzige Kraft die außerparlamentarische radikale Linke in Gestalt der Antifa aufgemacht, den „wahren PatriotInnen“ das politische Terrain streitig zu machen. Die von einem überregionalen Bündnis organisierte Demonstration vom Sonntag in Luzern war ein notwendiger erster Schritt. Von der Polizei unbehelligt, demonstrierten bis zu tausend Personen teilweise stark vermummt gegen den PNOS-Aufmarsch und gegen staatlichen Rassismus. Bei allem Verständnis für Sicherheitsüberlegungen an diesem Tag wäre ein weniger martialischer Aufzug sinnvoller gewesen – er hätte breitere Teilnahme an der Demo ermöglichen können. Im Aufruf zur Demonstration wurde richtigerweise betont, dass die Mobilisierung gegen den Naziaufmarsch nicht die Rettung des 1.Augusts zum Ziel hat, sondern sich auch gegen die rassistischen Grundpfeiler unserer heutigen Gesellschaftsordnung wendet.

 

 

Anmerkung der Antifa-AG der Uni Hannover:

Laut der lokalen Tageszeitung „Bote der Urschweiz“ vom 2.8.2004 waren diesmal bereits 600 Rechtsradikale bei der Rütli-Feier präsent und zogen ihr eigenes Programm durch. Der gleichen Quelle zufolge demonstrierten in Luzern 800 bis 1.000 Antifaschisten, was die im „Vorwärts“ genannte Zahl bestätigt. Der Demo-Aufruf findet sich unter: http://switzerland.indymedia.org/demix/2004/07/24542.shtml