Antifa-AG
der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Die
immer neuen dramatischen oder dramatisierenden Titelschlagzeilen der Zeitungen
über die Krise der EU nach den gescheiterten Versuchen die EU-Verfassung in
Frankreich und den Niederlanden per Referendum zu ratifizieren, dem Scheitern
des Brüsseler EU-Gipfels in der Haushaltsfrage, den Plänen der britischen
EU-Präsidentschaft usw. lassen die ganz konkreten „liberalisierenden“ und
„flexibilisierenden“ Maßnahmen der EU allzu schnell in Vergessenheit geraten.
Das gilt nicht zuletzt für die Mitte Mai mit geringfügigen Änderungen
verabschiedete Arbeitszeitrichtlinie. Mit dem Inhalt und den Auswirkungen
dieser „Reform“ befasst sich der Turiner Professor für Arbeitsrecht, Massimo
Roccella, in einem Interview für die unabhängige linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“ vom 11.5.2005.
Ein Angriff auf die
Tarifverhandlungen
Interview mit Massimo Roccella
(ordentlicher Professor für
Arbeitsrecht in Turin)
LUCA TOMASSINI – ROM
„Es handelt sich um einen
regelrechten Angriff auf die kollektiven Tarifverhandlungen und somit auf das
Gewicht der Gewerkschaften.“ Massimo Roccella, ordentlicher Professor für
Arbeitsrecht an der Universität Turin, verhehlt seine Besorgnis angesichts der wahrscheinlichen
Verabschiedung der Änderungsvorschläge der EU-Kommission zur Direktive 2003 /
88 über die Gestaltung der Arbeitszeit durch das Europaparlament nicht.
Was sind die Gründe für
Ihre Befürchtungen?
„Erstens schwächt der Text
die Rolle der Tarifverhandlungen bei der Gestaltung der Arbeitszeiten in den
Unternehmen. Ich denke da insbesondere an die Möglichkeit den Bezugszeitraum
für die Berechnung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf gesetzlichem
Wege oder per Verordnung auf bis zu 12 Monate auszudehnen. Zweitens eröffnet
die Maßnahme dem Ausstieg aus dem Tarifsystem in den Kleinbetrieben eine Tür.
In all jenen Bereichen, in denen die kollektiven Abkommen nicht angewandt
werden, wird es die Grenze von 48 Stunden durchschnittlicher Wochenarbeitszeit
nicht mehr geben.“
Sehen Sie in unserem Land
besonders gravierende Folgen voraus?
„In Italien ist die
gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages bereits abgeschafft worden und
Arbeitszeiten von 13 Stunden am Tag und 78 Stunden in der Woche sind bereits
möglich. Aber – und das ist der Punkt – jede Abweichung muss mit den
gewerkschaftlichen Organisationen ausgehandelt werden. Dann gibt es das Problem
des Gewichtes der Kleinunternehmen in unserer Wirtschaft. Betrachten wir z.B.
den Bausektor: Angesichts seiner extremen Zersplitterung lässt die Einführung
der Möglichkeit einer individuellen Option für eine längere Arbeitszeit nichts
Gutes erwarten.“
Was sind die Folgen
dieser „Reform“ für den Integrationsprozess des Kontinents?
„Ich mache darauf aufmerksam,
dass die Richtlinie, wenn sie in der von der Kommission vorgeschlagenen Form
gebilligt würde, in absoluter Gegentendenz zu den Richtlinien über die
Arbeitssicherheit stände. Wenn wir den Text dann im Lichte der Verfassung
lesen, könnten wir zu dem Schluss kommen, dass einige der in ihr
festgeschriebenen Prinzipien offen verletzt werden. Ich denke da insbesondere
an das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen. Sicher, die
Formulierung ist sehr allgemein. In einer Verfassung darf dies aber nicht
überraschen. Um von den Normen, die die Verpflichtung zur Konsultation der
Tarifparteien festlegen, gar nicht zu reden. Die Flexibilität ist eine Sache,
aber die Marginalisierung der Gewerkschaften ist etwas ganz Anderes.“
Vorbemerkung und
Übersetzung:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover