Antifa-AG der Uni
Hannover:
Zu den
erdrutschartigen Verlusten des regierenden Rechtsbündnisses von Silvio
Berlusconi in Italien (dem sog. „Casa delle Libertà“ – Haus der Freiheiten)
führte die Tageszeitung von Rifondazione Comunista (PRC) – „Liberazione“
– für die Ausgabe vom 12.4.2005 ein langes Interview mit dem
Politologie-Professor Marco Revelli (Jahrgang 1947) von der Universität
Alessandria im Piemont, der sich selbst als radikalen Linken bezeichnet und
auch im deutschsprachigen Raum durch eine Reihe von Veröffentlichungen bekannt
ist. Seine Theorien werden von einem Teil der bundesdeutschen linksradikalen
Szene als bedeutender Beitrag zu einer linken und antagonistischen Analyse und
Strategiebildung betrachtet. Wir haben daran gewisse Zweifel, nicht zuletzt,
wenn wir berücksichtigen, dass Revelli das von PRC-Sekretär Bertinotti – zwecks
Erlangung bürgerlicher Respektabilität – dekretierte Gewaltfreiheitsdogma (und
seinen Regierungsbeteiligungskurs insgesamt) ebenso uneingeschränkt unterstützt
wie er die Wahl von Nichi Vendola (PRC) zum Regionspräsidenten Apuliens völlig
unkritisch bejubelt. Neben den grundsätzlichen Einwänden gegen
Regierungsbeteiligungen von Kommunisten oder „revolutionären Linken“ innerhalb
der bürgerlichen Gesellschaft und den vorwiegend administrativen Aufgaben der
italienischen Regionspräsidenten sollte auch nicht vergessen werden, dass
Rifondazione Comunista als Partei in Apulien gerade mal einen Wähleranteil von
5% erzielte !
Im
Rahmen des Meinungsspektrums der italienischen Linken zum Ausgang der
Regionalwahlen am 3./4.April 2005 wollen wir aber auch Marco Revellis
Positionen nicht verschweigen:
Vom Sieg
der <Mitte-Links-> Union bis zur Quasi-Krise der
Regierung fehlt es nicht an Diskussionsthemen. Darüber sprechen wir mit Marco
Revelli.
Warum verliert die Rechte ?
Ihr sozialer Block fällt
auseinander.
Stefano Bocconetti
Womit beginnen? Marco
Revelli, Professor und Journalist und seit jeher einer der seriösesten und
rigorosesten Experten für die politischen Entwicklungen dieses Landes braucht
keine Ausreden. Aber angesichts einer politischen Chronik, die alles bietet (vom
Sieg der Union bis zur Quasi-Krise der Regierung) bedarf es doch eines
„Anlasses“, um zu beginnen. Welchen ? Den Titel der „Secolo d’Italia“-Ausgabe
vom 9.April zum Beispiel. Einer Zeitung (dem Organ von Alleanza Nazionale –
AN), die ohne Umschweife von einem „Wahl-Crash“ spricht, vom Ende des
Berlusconismus etc. Ein Artikel (der Politik-Artikel) trägt den Titel: „Der
Neuaufschwung führt über den Geist von `93“ – dem Jahr, in dem die
Progressisten (so nannten sie sich damals) die Regional- und Kommunalwahlen
gewannen und Berlusconi davon überzeugten, in die Politik zu gehen.
Was bedeutet dieser Titel?
Kehrt die Rechte nach einigem Nachdenken über die sozialen Ursachen der
Niederlage, nun dorthin zurück, wo sie begonnen hat? Redet sie wieder einzig
und allein über die Führung, vielleicht um eine andere zu wählen oder um der
gegenwärtigen einen neuen Anstrich zu verpassen?
„Geist von `93, Geist des
vorzeitlichen Marsches. Das ist ein Titel, der mich mit Genugtuung erfüllt, der
mir gefällt. Weil er enthüllt, in welchen Schwierigkeiten einer der
aufmerksamsten Teile der Rechten (nämlich Alleanza Nazionale) auf der Suche
nach der Neuauflage einer unwiederbringlich vergangenen Periode debattiert…“
Entschuldige, dass ich
darauf insistiere: Auf der Suche nach einer neuen Führung für das eigene Lager
oder über was ?
„Nein, das ist kein
Führungsproblem. Es ist nicht nur ein Führungsproblem.“
Aber was bedeutet der
Bezug auf `93?
„`93 und `94 passierte
exakt, dass der Hauch des Nordens, der von den Bergen der Valtellina und den
Tälern der Provinz Bergamo ausging und die hässlichen Bestrebungen der
grobschlächtigen, tristen und etwas xenofoben Lega-Anhänger mit sich brachte
(der Kleinunternehmerschaft, die alle Beziehungen einsetzte, die sie zu knüpfen
imstande war – vom Kind bis zum Schwager), auf einen anderen Luftzug traf. Den
der Reste der Craxi-Partei <PSI>, den der aus den von
Craxi-Leuten kontrollierten Städten der Lombardei kam, aus den
lombardisch-venezianischen Ebenen. Genährt von den Freiberuflern, von anti-solidarischen
Kulturen und genährt vom Hunger nach Reichtum und Eigenpromotion. Sie trafen
sich und formten den Wind des Nordens, den Wind von rechts, der das übrige
Italien zwingen wird, sich ihm anzuschließen. Vielleicht mit Ausnahme jener
wenigen Regionen, in denen die Verankerung der Linken stärker war.“
Das ist der soziale
Block, der die rechten Regierungen möglich gemacht hat, nicht wahr?
Ganz genau. Das ist der
soziale Block, der Berlusconis Siege ermöglichte und der auch die kurze und
unglückliche Zwischenphase prägte, in der die Mitte-Linke <von Mai 1996 bis April 2001> regierte. Das ist ein sozialer Block, der eine
einzige Überzeugung vertrat: dass es möglich sei mit ausgerollten Segeln aus
dem Fordismus herauszukommen. Der die Sozialpakte als einen Käfig betrachtete
und der das, was vom langen Zyklus der 60er und 70er Jahre geblieben war, als
eine Beschränkung betrachtete. Das war der Klebstoff einer wirklichen und
wahrhaftigen Ideologie, die wir heute (warum nicht?) als die subversive Einstellung
der Mittelschichten bezeichnen könnten. Als sich die fieberhafte Suche nach
Reichtum mit einer These verband, der
zufolge für das Kleinunternehmen keine Grenze unüberwindlich sei. Und hier
reden wir von etwas, das sich vor wenigen Jahren abgespielt hat…“
Und dann?
„Dieser Lumpenkapitalismus
hatte tatsächlich geglaubt, er könnte die ‚starken Mächte’ des Landes,
angefangen bei der <Industriellenvereinigung> Confindustria in die Knie zwingen, indem er sich
einem ‚Teppichverkäufer’ anvertraute. Dann aber kam die Krise. Und während
ein klassischer Teppichverkäufer sich
mehr dorthin verlagern kann, versuchen kann Markt und Publikum zu wechseln,
kann jene politische Schicht, die sich um den Teppichverkäufer herum gesammelt
hat, dies nicht tun. Und er wendet sich immer an dasselbe Publikum, an
denselben Kunden. Der Ich-AG-Unternehmer zählt zusammen und stellt fest, dass
es von dem versprochenen Wunder keine Spur gibt. Er wird wütend und
verschwindet.“
Sagst Du damit mehr oder
weniger, dass die Rechte über keinen Ausweg verfügt?
„Ganz genau. Jener Wind aus
dem Nordosten <Italiens>, der sie zum Erfolg geführt hatte, ist heute genau
der Grund für ihre Niederlage. Jener Wind ist heute für das Casa delle
Libertà Gift. Wenn sie ihn im Norden
reaktivieren, verfügen sie noch über einige Erfolgsmöglichkeiten. Das besagen
die Zahlen. Sie hätten dann aber die politische Abspaltung im Süden, wie dieser
letzte Wahlgang de facto verdeutlicht hat. Wenn sie versuchen in ihre
angestammten süditalienischen Wählerbereiche zurückzukehren, verlieren sie auch
im Norden. Gift – für sie ist das Gift! Sie sitzen in der Zange, in Fort Alamo.
Du merkst also, dass das Problem wenig mit der Führung zu tun hat.“
Und die Wahlen? Die
vorgezogenen Neuwahlen? Könnten die ein Ausweg sein?
„Ich denke, dass die absolut
ohne jeden Einfluss sind. Irgendjemand von ihnen wird diese Versuchung
verspüren, in dem Glauben, sich so der Katastrophe des kommenden Jahres
entziehen zu können. Er denkt, dass vorgezogenen Neuwahlen das kleinere Übel
wären. Berlusconi wird alles tun, um sie zu verhindern, genauso wie Forza
Italia…“
… die Gefahr läuft, von
der Bildfläche zu verschwinden?
„Erzählen wir keine
Dummheiten. Der von Forza Italia vertretene anthropologische Typus ist in
unserem Land noch ziemlich verbreitet. Nein, sie laufen nicht Gefahr
auszusterben. Sie haben allerdings nur eine Wahl im Oktober <2005>, um sich zu erholen. Kurz gesagt, sie stecken in
einem Tunnel, der keinen Raum für taktische Spielchen lässt. Und ich denke,
dass die Frage, ob es sofortige Neuwahlen gibt oder erst später gewählt wird,
am Ende auch für die Oppositionen ohne Bedeutung ist.“
Nach dem, was Du sagst,
hat man jedoch den Eindruck, dass die Niederlage der Rechten ganz allein von „ihnen“
abhängt. Ist es nicht so?
„Genau so sehe ich das: Sie
haben alles alleine gemacht. Vielleicht nur im letzten Monat hat die <Mitte-Links-> Koalition ein eigenes Element hinzugefügt: das
einheitliche Erscheinungsbild, nach zu vielen heftigen Streitereien. Das ist
alles.“
Nicht mehr? Hat die
Opposition nicht mehr dazu beigetragen, auch nicht in Apulien?
„Vorsicht! Apulien ist <mit dem unerwarteten Sieg des
Rifondazione Comunista-Abgeordneten Nichi Vendola als Spitzenkandidaten> ein Fall für sich. Das, was dort geschehen ist,
besitzt einen gigantischen Wert.“
In kurzen Worten ausgedrückt:
Was ist dort geschehen?
„Ein anthropologischer
Bruch…“
Schon wieder
Anthropologie! Worauf beziehst Du Dich da?
„Auf einen Bruch, der nicht nur an der politischen
Oberfläche stattfindet, sondern auch mit den Verhaltensweisen, mit den
zwischenmenschlichen Beziehungen, mit den Lebensmodellen und Lebensstilen zu
tun hat. Der Bruch, der in Apulien stattfand, hat mit dem Wertesystem zu tun. Vendola
hat gewonnen, weil er es verstanden hat, deutlich zu machen, dass er sich nicht
nur von <Gegenkandidat> Fitto, sondern von der traditionellen
Politikerschicht <insgesamt> unterscheidet. Sein Sieg ist der Beleg, dass dort im
Süden tief greifende Mentalitätsveränderungen herangereift sind.“
Nenne mir eine der Veränderungen!
„Er belegt, dass die
Menschen nicht mehr auf eine moderate Mimikry vertrauen. So zu tun, wie die
Anderen, zahlt sich nicht mehr aus. Die Unzufriedenheit über die Zersetzung,
die jener reaktionäre Wind aus dem Norden hervorruft, erfordert den Entwurf
neuer Modelle. Die Leute streben nach anderen Modellen. Ja, Apulien entwirft
ein neues humanes Modell, dass dem der tristen Lega-Anhänger, der Liebhaber des
Reichtums und der Verächter der Andersartigkeit diametral entgegen gesetzt ist.
Es entwirft ein Modell, in dem sich Rationalität und Verletzung der
Konventionen verbinden. Und das eine neue Sprache, ein neues politisches
Lexikon schafft.“
Und warum kann Apulien
keinen Einfluss auf die übrige Opposition ausüben?
„Das könnte es sicherlich.
Aber bis heute bleibt das soziale Profil der sog. <Mitte-Links> Union eine Unbekannte. Der Fall Vendola war gerade
deshalb eine Ausnahme, weil es dort in Apulien gelungen ist, mit den Vorwahlen
ein Beteiligungsfenster zu öffnen, das all das, was die sozialen Kämpfe
geschaffen hatten, in die politische Gesellschaft hat einbrechen lassen. Ich
finde es allerdings hochgradig unwahrscheinlich, dass diejenigen, die über die
Schlüssel zu jenen Toren verfügen, bereit sind, weitere Räume zu öffnen.“
Torwächter gegen die
Zivilgesellschaft. Ist das nicht eine zu überholte Analyse? Entschuldige die
Brutalität, aber ist das nicht eine zu „Moretti-hafte“ <Anm.1> Analyse?
„Ich beschränke mich darauf,
die Dinge zu betrachten die geschehen. Und die Signale sind nicht ermutigend.
Ich sehe die Maske von Rutelli <dem Kopf des rechten Flügels der Mitte-Linken>, das Hohnlächeln von <Linksdemokraten (DS)-Parteipräsident> D’Alema und ich habe das letzte Interview von <DS-Generalsekretär> Fassino gelesen. Ich sehe eine Gefahr…“
Welche?
„Es wird gesagt, dass bei
diesem Wahlgang um die 2 Millionen Wähler von den Rechten zur <Mitte-Links-> Union übergewechselt seien. Etwas, dass noch niemals
geschehen ist, da bis vor zwei Wochen die Wählerwanderungen allesamt nur von
einer Partei zu einer anderen stattfanden – innerhalb desselben Lagers! Maximal
entschieden sich die Enttäuschten mit der Wahlenthaltung für den ‚Exit’
(Ausstieg). Jene 2 Millionen Wähler laufen nach diesen ersten Bemerkungen
allerdings Gefahr, sich in einen vergifteten Leckerbissen zu verwandeln.“
Es gibt also auch Gift
für die Mitte-Linke?
„Ich meine Folgendes: dass
ein Teil der Mitte-Linken versucht sein wird, sie auf irgendeine Weise zu
halten. Vielleicht sogar, indem er sie mit denselben Versprechungen, mit
denselben Illusionen lockt, wie der Teppichverkäufer. Vielleicht nicht
kurzfristig, sondern mit ein paar Jahren mehr, aber über das ‚Bereichert Euch
weiter!’. Vielleicht mit weniger vulgären Phrasen, aber mit einem ‚Verfolgt
weiter Eure Interessen!’. Vielleicht mit etwas stärkerer Respektierung der
Formen und Gesetze, aber mit einem ‚Auch Ihr werdet zufrieden gestellt!’. Wenn
dem so wäre, wäre das eine Katastrophe. Weil entweder begreift man, dass die
Krise, die die Rechte durchmacht, wirklich historisch ist oder man begreift gar
nichts.“
Aber wie setzt man dieses
Bewusstsein in Politik um?
„Indem man begreift, dass
die Mittelschichten heute vor dem Zusammenbruch stehend für die Sirenen des im
Allgemeinen beruhigenden Konformismus, wie Fassino und die Anderen ihn suggerieren,
nicht empfänglich sind. Sie brauchen heute alternative Modelle. Sie brauchen
Modelle, die der destruktiven Konsumorientiertheit die Nüchternheit / Mäßigung
und der übertriebenen Bereicherung die solidarische Einstellung entgegensetzen.
Sie brauchen ein neues humanes Modell. Eine Alternative zum Berlusconismus.
Das, was Vendola in Apulien zum Erfolg geführt hat. Aber ich fürchte, dass das ein
glänzender Einzelfall bleibt.“
Anmerkung
1:
Mario
Moretti war Mitte / Ende der 70er Jahre Kopf der Brigate Rosse (Rote Brigaden –
BR) und auch derjenige der 1978 die Entführung und Ermordung des Democrazia
Cristiana-Parteichefs Aldo Moro leitete. Seine Analysen und Erinnerungen sind
in deutscher Sprache in dem sehr empfehlenswerten Interviewbuch „Mario
Moretti: Brigate Rosse – Eine italienische Geschichte“ erschienen (ISBN
3-922611-58-3, 288 Seiten, ehemals 29 DM). Das lange und kritische Interview
mit ihm führten übrigens Carla Mosca und die Mitbegründerin und langjährige
Chefredakteurin von „il manifesto“, Rossana Rossanda.
Vorbemerkung,
Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover