„junge Welt“ 31.08.2005
Basis
rebelliert gegen ATTAC-Führung
Frankreich: Spitze der
Organisation in der Kritik. Mitglieder wollen mehr politisches und soziales
Engagement
Christian Giacomuzzi, Paris
Die globalisierungskritische
Organisation ATTAC Frankreich, die bis zum Dienstag im westfranzösischen Poitiers ihre sechste »Sommeruniversität« abhielt, ist
erstmals mit internen Spannungen konfrontiert. Sie betreffen die Haltung der
Bewegung zur französischen Präsidentenwahl von 2007 und den Ernennungsmodus
ihrer eigenen Führungspersönlichkeiten. Im Unterschied zur gegenwärtigen ATTAC-Spitze erwarten immer mehr Anhänger der Organisation,
daß diese über die wirtschaftspolitische Kritik
hinausgeht und aktiv am sozialen und politischen Leben in Frankreich teilnimmt.
An der »Sommeruniversität« beteiligten sich seit vergangenem Freitag 700
Mitglieder. Die zentralen Themen der insgesamt 90 Workshops und Seminare waren
Europa, die Beschäftigung, der Laizismus und der Kampf gegen den Terrorismus.
ATTAC-Präsident Jacques Nikonoff
sowie der Gründer und Ehrenpräsident der Organisation, Bernard Cassen, haben sich etwa der Forderung widersetzt, den
Bauernführer José Bové aktiv bei einer Kandidatur für
die französische Präsidentschaft zu unterstützen. Die Meinungsverschiedenheiten
innerhalb der Vereinigung haben sich seit der Volksabstimmung über die
Europäische Verfassung vom 29. Mai zugespitzt. Bei dem Referendum hatte ATTAC
erfolgreich für das Nein geworben. Nun fordern zahlreiche Aktivisten an der
Basis, daß dieser Einfluß
auf die öffentliche Meinung in politisches Gewicht umgemünzt wird. Verkörpert
wird der interne Widerstand durch den Wirtschaftswissenschaftler Jacques Cossart, der in drei Monaten für die Nachfolge Nikonoffs an der Spitze von ATTAC kandidieren will und für
eine »aktive politische Rolle« des Netzwerks plädiert. Um kandidieren zu
können, muß Cossart
allerdings vom Gründungskollegium der Organisation zugelassen werden. Zu seinen
Befürwortern zählen »historische« Mitglieder der 1998 gegründeten Vereinigung
wie etwa die Schriftstellerin Susan George und der Gewerkschafter Pierre Khalfa.
»Man spürt, daß sich die Organisation in einer Übergangsphase befindet,
und daß dies die Führungsgremien anheizt«, erklärte
die Pariser ATTAC-Vertreterin Sylvie Agard. Thibault Letexier, ein junger militanter Anhänger, äußerte die
Befürchtung, »daß man bei ATTAC das wiederfindet, wovor man bei den traditionellen Parteien
flüchtet«. In den Augen Cossarts macht ATTAC eine
»Wachstumskrise« durch. »Ein Teil der Basis wünscht, daß
die Organisation wie die Gewerkschaften mit all ihrer Kraft im
gesellschaftlichen Leben Position bezieht, wie dies beim EU-Referendum der Fall
war«, betonte Cossart. Khalfa
bezeichnete die Methoden der ATTAC-Leitung als
»archaisch« und warf Nikonoff und Cassen,
vor »alles zu versperren«. »Man muß unbedingt wieder
eine kollegiale Leitung errichten sowie den Basisanhängern und den 250
Lokalkomitees in ganz Frankreich mehr Macht verleihen«, meinte der Gewerkschafter.
Für Cassen dagegen, der eine Wiederwahl Nikonoffs befürwortet, gehen diese
Meinungsverschiedenheiten auf das Konto der Neuwahlen vom Dezember, »die den
Appetit anreizen«. »Wenn die Direktion weich und schwach wird, wird man sich in
einem Wahlkampfkomitee von José Bové oder eines
anderen wiederfinden«, warnte Cassen.
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